Der Wahnsinn und die Realität

 In FEATURED, Politik

Florian Ernst Kirner/ Prinz Chaos II.

Extinction Rebellion wächst, gedeiht und leistet Großartiges — trotz massiver Diffamierungen. Hat sich die Debatte im Internet inzwischen von der Realität entkoppelt? Dient das Internet noch der Entgiftung, als kollektives Aufwachzimmer? Oder ist es längst ein toxischer Ort geworden, Springquell von Fake News, dominiert von sinnlosen Pseudodebatten, Hochburg der Mobbingkultur? Diese Fragen stellen sich im digitalen Tumult um die Klimagerechtigkeitsbewegung mit erneuerter Schärfe. Doch ist die Welt wirklich so krank, wie das Internet vermuten lässt? Unser Autor verbrachte Anfang Oktober 2019 eine Woche bei den Aktionstagen von Extinction Rebellion in Berlin — zumeist offline, in Aktion, auf Straßen und Plätzen, und im Klima-Camp im Gespräch mit anderen Aktivisten. Er erlebte eine Bewegung von großer Kraft und Schönheit. Jede Rückkehr ins Netz verfestigte dabei die Erkenntnis, dass es deutlich gesünder ist, die Welt offline zu erleben.  Florian Kirner

Anfahrt auf Berlin. Die klassische Musik im Radio wird unterbrochen. Es folgen die Nachrichten. Es ist 2:00 Uhr. Morgens. Erste Meldung: Die Bundesregierung will das „Klima-Paket“ abschwächen. Offenbar auf Druck aus der CSU. Jener CSU, deren Chef, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, sich seit einigen Monaten als Vorzeige-Ökologe zu inszenieren sucht.

Ich fahre in den Regierungsbezirk der deutschen Hauptstadt ein. Um 2:23 Uhr finde ich einen Parkplatz. Direkt am Klimacamp. Allerdings im Halteverbot. Aber bei dem, was ich in der kommenden Woche vorhabe, kommt es auf einen Regelbruch mehr oder weniger nicht an.

Sieben Minuten später finde ich mich an einem konspirativ vereinbarten Treffpunkt ein. Handy und Computer habe ich im Auto zurückgelassen. Sieben, acht Leute kommen. Einer weiß Bescheid, wohin es geht. Wir laufen los.

Unterwegs treffen wir andere, ebenfalls kleine Grüppchen. Auf einem kleinen Platz hinter viel Gebüsch sammeln wir uns. Ich werde abkommandiert, am Straßeneck den nachkommenden Grüppchen und Einzelpersonen die Richtung zum Sammelpunkt zu weisen. Das kommt mir entgegen. Eine klare, kleine Aufgabe. Ich bin diesmal Basisaktivist, in keinerlei Strukturen eingebunden.

Ich treffe einen Freund aus dem Hambi. Wir sind jetzt vielleicht 40 Leute. Schweigend und sehr leise setzt sich unser Zug in Bewegung. Runter von der Straße. Ab in einen Park. Irgendwann halten wir. Weiter vorne auf dem Weg kreuzt ein Fahrrad mit einer sehr starken Lampe auf und ab. Ein Zug von vielleicht 20 Aktivisten kommt uns entgegen. Wir machen eine Gasse frei. Schweigend grüßen wir uns.

Die erste Straßenblockade

Dann kommt das Fahrrad mit dem starken Licht heran. „Die Schilder, die Schilder…“, flüstert es durch unsere Reihen. Eine Tüte mit Schildern kommt zum Vorschein. Transparente werden aus Rucksäcken geholt. Wir setzen uns wieder in Bewegung und sammeln uns dann hinter der Böschung einer großen Straße. In der Gegend sind schon einige andere Gruppen aktiv. Wir sind etwas unentschlossen. „Polizei!“, flüstert es. Oben auf der Kreuzung sehen wir einen Polizeiwagen. Er bleibt stehen. Wir ziehen uns langsam zurück, unter die Büsche. Dann aber setzen wir uns schnell in Bewegung, laufen auf die Straße, dort sind schon andere, es kommen noch mehr Aktivisten dazu. Wir bilden eine Kette über die ganze, mehrspurige Straße.

Die Straße ist „der 17. Juni“. Wir sind jetzt 100 oder 120 Leute. Ein Mannschaftswagen der Polizei kommt und sichert die Kreuzung. Verkehr ist kaum, es ist 3:25 Uhr. Aber ein einzelner LKW-Fahrer kann sein Pech nicht fassen. Wütend, schimpfend, rangiert er auf der Kreuzung hin und her. Die Polizei beruhigt ihn und schickt ihn weiter.

In der Blockade stimmt eine einen Gesang an. Einige kennen den Text schon, andere lernen ihn sogleich. „We are rising up! Time has come to stirr things up! Join the Rebellion! Join the Rebellion“ geht das, zur Melodie von „Hejo, spann den Wagen an“. Wir kriegen die Information, der Große Stern, der riesige Kreisverkehr um die Siegessäule, sei besetzt worden. Damit sei unsere Aufgabe erfüllt, die darin bestanden habe, diese Besetzung zu decken.

Wir laufen alle zusammen auf der Fahrbahn hinunter zum Großen Stern. Dort sind mehrere Hundert Leute. Es werden schnell mehr. Die Stimmung ist wunderbar. Gitarren, Trommeln und eine Geige sind am Start. Einige Leute vom „Awareness-Team“ verteilen Kekse, Wasser oder haben Tee dabei. Die Polizei ist auch da. Alles ist cool — und kühl: saukalt.

Oliver Ditfurth und Jutta Janich

Zurück am Auto. Zurück am Handy. Eine Bekannte aus der Linkspartei fragt mich im Facebook-Chat, was ich von dem Posting von Jutta Ditfurth halte. Habe ich noch nicht gesehen, sage ich. Sie schickt einen Link. Ich kann ihn nicht öffnen. Klar, die Ditfurth hat mich vor Jahren schon blockiert. „Ist auch egal, was die schreibt …“ antworte ich der Linkspartei-Chatterin.

Innerhalb der nächsten Stunden kriege ich vier, fünf weitere Nachrichten, ob ich denn schon gehört hätte, was die Ditfurth … Einer schickt mir einen Screenshot. Ich lese Ditfurths „Warnhinweis Extinction Rebellion“ und erlebe ein Déja-vu. Ist das nicht derselbe Text, den sie 2014 verfasst hat, über die Mahnwachen für den Frieden? Stichworte „Rechts-Esoterik“, „Irrationalismus“ und irgendwie antisemitisch?

Die Nähe zum Antisemitismus zu konstruieren, fällt der Ditfurth diesmal recht schwer. Sie tut es über den bekannten Antisemiten … Gandhi. Der hatte 1938 auf die Frage, was er den Juden in Deutschland raten würde und ob seine Methode der Gewaltfreiheit auch im Deutschland der Nazis funktionieren könne, eine Antwort gegeben, die vor Ratlosigkeit strotzt und sicher nicht zu seinen hellsten Momenten zählt. Vielleicht könnte man kollektiven Selbstmord begehen, sagte Gandhi am Ende.

Und weil nun also XR sich in Sachen Gewaltlosigkeit auf Gandhi beruft und derselbe Gandhi 1938 in einem Interview zweieinhalb Sätze ratlosen Blödsinn geredet hat, ist, natürlich, XR im Jahre 2019 irgendwie antisemitisch.

Nun ist die Ditfurth ja bloß die Ditfurth. Aber es stellt sich heraus, dass ihre Kritik an XR auch diesmal wieder von einigen anderen linken Personen und Publikationen übernommen wird — und quer durch die bürgerliche Presse aufgegriffen.

Aber XR hat es offenbar geschafft, nicht nur irgendwie antisemitisch zu sein, sondern gleichzeitig Teil der guten, alten jüdischen Weltverschwörung. Das jedenfalls legt Oliver Janich nahe, der für ziemlich viel von jenem Wirbel verantwortlich ist, den die aggressive Ökoignoranz im deutschsprachigen Internet derzeit macht. Janich hat „herausgefunden“, was passiert, wenn man die zwei Dreiecke, die das XR-Symbol ergeben und eine Sanduhr darstellen, ineinanderschiebt. Man erhält dann nämlich einen Davidstern.

Nun könnte man es auch so sehen, dass so ziemlich jede simple, geometrische Figur eine andere simple, geometrische Figur ergibt, wenn man sie ein bisschen umbaut. Wenn man zum Beispiel bei einem Hakenkreuz die Haken weglässt, ergibt sich ein Plus-Zeichen. Lässt man bei der XR-Sanduhr eine Diagonallinie weg, steht da ein „Z“. Lässt man beide vertikalen Linien weg ist es ein X. Legt man das Symbol hin und dreht ein Dreieck nach außen, ergibt sich „DD“ — das Autokennzeichen für Dresden. Und so weiter.

Die Fans von Oliver Janich ficht das nicht an. Irgendwie ist es jetzt bewiesen, dass diese Sanduhr gar keine Sanduhr ist. Die Sanduhr ist in Wahrheit ein Judenstern. Jubel durchtobt die betreffende Internetblase. Eine Sensation! Ein investigativer Meisterschuss!

Im Blockadewohnzimmer

Ich fliehe heim in die Offline-Welt. Hin zu jener Bewegung namens „Extinction Rebellion“, deren Teil ich seit gestern bin — und weg von jenem Zerrbild „Extinction Rebellion“, das sich offenbar in Teilen der Bloggosphäre entfaltet.

Die Blockade am Großen Stern hat die Nacht überstanden. Sie baut sich aus und auf. Es gibt inzwischen unterhalb der Siegessäule eine „Arche“ aus Holz, die 50 Personen als Versammlungsraum dienen kann. Es gibt eine Essensversorgung. Es gibt Komposttoiletten. Jede Abfahrtsstraße des großen Kreisverkehrs ist besetzt. Es wird gesungen, gemalt, geredet, Karten gespielt oder in der Sonne gedöst.

Zusätzlich steht jetzt eine neue Blockade am Potsdamer Platz. Ich erfahre das, digitale Kommunikation ist ja nicht prinzipiell etwas Schlechtes, über den Verteiler von XR auf Telegram — jenem halbwegs geschützten Messenger, über den auch Oliver Janich seine digitale SA dirigiert.

Durch den Tiergarten laufe ich rüber und sehe das Architekturverbrechen namens Potsdamer Platz so schön wie nie. Die Kreuzung ist besetzt von vielleicht tausend Leuten, die nach einer angemeldeten Kundgebung dort geblieben sind. Auch hier werden Strukturen aufgebaut. Sofas und Stühle stehen mitten in der Blockade, riesige Zimmerpflanzen, es gibt ein Regal mit Büchern und eine Leseecke, Spielecken für die Kinder, zwei mobile Bühnen — und jede Menge Polizei.

Die scheint etwas ratlos. Die Aufforderungen, den Platz zu räumen, werden natürlich nicht befolgt. Aber immer sind irgendwelche XR-Aktivisten mit einzelnen Uniformierten im Gespräch. Dabei wird auch gelacht oder sich beigepflichtet. Die Stimmung auf dem Platz bleibt gelassen bis ausgelassen. Das „Kommunikationsteam“ der Polizei mit seinen gelben Westen ist völlig perplex und noch überflüssiger als sonst.

Diese Freundlichkeit im Umgang mit den Beamten wird XR natürlich von den besonders linken Linken digital vorgeworfen. Mir dagegen scheint es höchste Zeit für diese Neuerung der Demokultur. Die bisherigen Rituale — Sprechchöre Marke „Haut ab! Haut ab!“ oder „Deutsche Polizisten, Mörder und Faschisten!“ — blicken ja nicht unbedingt auf eine Erfolgsgeschichte zurück.

Gleichzeitig reichen die Illusionen, wie weit man mit dieser aktiven Deeskalation kommt, bei den meisten Aktivisten in der Blockade nicht sehr weit. Gerade übrigens, während ich das hier schreibe, Tage später und im Zug sitzend, sehe ich nebenher Bilder von der brutalen Räumung des Flughafens in Barcelona durch die spanische Polizei. Dabei waren die dortigen Besetzer auch friedlich. Wie freundlich sie zur Polizei waren, weiß ich nicht.

Räumungsparty

Auch auf dem Potsdamer Platz wird jetzt mit der Räumung begonnen. Das geht aber weit weniger brutal zu als in Barcelona — oder als in Madrid, wo die Blockaden von XR umstandslos von der Straße geprügelt wurden.

Am Potsdamer Platz wird als erstes eine der großen Zimmerpflanzen aus der Blockade getragen. „Eins, zwei drei: Lasst die Pflanze frei!“, rufen die Aktivisten. Jetzt werden die ersten menschlichen Lebewesen vom Boden aufgehoben. Aber die Beamten gehen sehr uninspiriert zu Werke, dieses Räumen dauert ewig und während die Aktivisten dabei sogar Spaß zu haben scheinen, schwitzen und ächzen die Polizisten. Menschen tragen ist anstrengend.

Ich komme wieder mit einigen Leuten ins Gespräch. Das geht umstandslos im XR-Kontext. Zwar wurde aufgerufen, Bezugsgruppen zu bilden und in solchen Kleingruppen organisiert zu agieren. Das verhindert nicht, dass die Leute sehr gerne neue Leute kennenlernen.

Ich schaue ins Handy, das ich diesmal mitgenommen habe. Ein Facebook-Freund mokiert sich, dass Extinction Rebellion keine konkreten Forderungen aufstelle. Ich muss persönlich sagen, dass ich das nicht sonderlich vermisse. Denn wie viele „Bewegungen“ bewegen sich nie, weil sie noch Forderung 116 Absatz 12 b Zeile 3 ausdiskutieren müssen. Bei XR gilt: Taten statt Worte. Endlich.
Worte gibt es freilich auch bei XR. Im Klimacamp auf der Wiese vor dem Bundeskanzleramt gibt es sieben, acht Versammlungszelte, in denen nahezu durchgehend Veranstaltungen laufen. Das reicht von wissenschaftlichen Vorträgen und Strategiedebatten bis hin zu Aktionsvorbesprechungen. Dazu gibt es das Medienzelt, das Infozelt, aber auch ein Zelt, in dem Menschen geholfen wird, denen es gerade schlecht geht.

Hier, auf der Blockade am Potsdamer Platz, wird wenig „diskutiert“. Man unterhält sich lieber miteinander. Und was gibt es schon groß an „Forderungen“ zu diskutieren? Ist nicht ziemlich offensichtlich, was alles sofort nötig und sinnvoll wäre? Von Kohleausstieg über Glyphosatverbot, von flächendeckender Wiederbewilderung und Aufforstung bis hin zu einer Bauindustrie, die auf Holz, Lehm und andere Materialien setzt, die nicht der Sondermüll der Zukunft sind?

XR verfolgt einen völlig anderen Ansatz. Hier geht es nicht um die Detailschlachten irgendwelcher Debattenkönige. Hier geht es unter anderem um: Entgiftung! Wir leben in einem toxischen System, ist eine Grundaussage von XR. Eine gesunde Umwelt ist nicht zu trennen von unserer eigenen Entgiftung!

Eine wunderbare Entgiftungstechnik entdecke ich dort, wo die Blockade geräumt wird. Aktivisten haben ein Spalier gebildet, durch das die Geräumten von den Beamten hindurchgetragen werden müssen. Ein Soundsystem ist da und spielt fröhliche Elektro-Mucke. Und so schwebt jeder und jede Geräumte auf den Händen der Polizisten durch ein jubelndes Spalier tanzender Menschen!
Fast alle Geräumten übrigens kehren schnurstracks wieder zur Blockade zurück und setzen sich erneut hin. Also: so wird das nichts!

Ich gehe rüber in die nahe Philharmonie, dort spielt Konstantin Wecker ein Konzert. Als ich nachts um eins wieder herauskomme aus diesem Konzerttempel, gehe ich zurück zur Blockade. Aha. 50, 60 Leute schlafen auf der Kreuzung des Potsdamer Platzes. In einem Zelt gibt es Tee und Essen. Die Räumung hat wohl nicht so ganz geklappt. War klar.

Ground Zero der digitalen Klimaschlacht

Am nächsten Morgen, es ist Tag 3 der Aktionswoche, teilt XR mit, dass mit der Räumung der beiden großen Blockaden jetzt ernst gemacht wird. Bald müssen die Blockaden aufgegeben werden. Es wird ausgeschwärmt in Kleingruppen. Und es regnet wie die Sau.

Das trifft sich insofern gut, als ich unter ziemlichem Textdruck stehe. Ich habe drei Artikel binnen drei Tagen abzuliefern. Unter anderem steht eine „Tagesdosis“ an, also der tägliche Podcast auf KenFM.

KenFM ist in der deutschen digitalen Klimaschlacht Ground Zero. Speziell im Format „Tagesdosis“, das von verschiedenen Autoren bewirtschaftet wird, geht es wild und mitunter geradezu wütend hin und her. Der digitale Relotius-Skandal um die glatten Falschmeldungen über den verdienten Klimawissenschaftler Michael Mann nahm in einer solchen Tagesdosis seinen Anfang.

Man muss KenFM aber auch zugutehalten, dass zwei im Rubikon erschienene Artikel, die die Fakten geraderückten und dabei mit Kritik an KenFM nicht sparten, von KenFM wiederum als Podcast übernommen wurden. Welcher andere Sender hätte das wohl fertiggebracht? Texte, in denen man selbst heftig kritisiert wird, dem eigenen Publikum zu servieren?

Während sich die deutschen digitalen Medien in der Klimadebatte insgesamt nicht mit Ruhm bekleckern, liegt immerhin dieser Vorgang auf der Linie dessen, was wir im Onlinejournalismus besser und ganz anders machen wollten als der verknöcherte Mainstream. Allerdings haben wir dem Mainstream auch anhand 9/11 vorgeworfen, die Gesetze der Physik zu ignorieren. Wenn man sich anschaut, auf welchem Niveau einige Klimakrisen-Leugner argumentieren, fragt sich, ob für den digitalen Journalismus ebenfalls eine eigene Physik gilt.

So wird zum Beispiel auf Nuoviso stolz ein Professor Kirstein präsentiert. Der behauptete an anderer Stelle, es gäbe keinerlei Anstieg des Meeresspiegels. Vielmehr würden die Bewohner der Inseln, deren Land tatsächlich absäuft, nicht verstehen, dass nicht der Meeresspiegel steigt, sondern ihr Land absinkt — wegen Plattentektonik und so …

Es ist solch hanebüchener Blödsinn, der es zu einer Aufgabe für fortgeschrittene Buddhisten macht, in dieser digitalen „Debatte“ höflich zu bleiben.

Diese Art von Buddhismus ist den Truppen von Oliver Janich von vorneherein fremd. Auch unter meiner Tagesdosis namens „Mit Jutta Ditfurth gegen Extinction Rebellion“ auf KenFM schlägt schon bald der übliche Kommentar-Tsunami dieses Netzwerks ein. Ich werde beschimpft und lächerlich gemacht. Nach anfänglichem Zögern gehen diese Leute schamlos dazu über, sich mit der anderweitig verhassten Jutta Ditfurth zu verschwistern, soweit es um das Bashing von XR geht. Auch die XR-Sanduhr, die in Wirklichkeit ein Davidstern ist, bleibt natürlich nicht aus.

Aber es gibt auch Erfreuliches im Netz. Zum Beispiel in meinem geliebten Rubikon. Dort hat eine vierzehn Tage währende Sonderausgabe zu „Natur und Umwelt“ begonnen. In der YouTube-Sendung „Das Dritte Jahrtausend“ geht es ebenfalls um „Die Sache mit dem Klimawandel“. Die journalistischen Urgesteine Dirk Pohlmann und Mathias Bröckers gehen gemeinsam mit dem mutigen Robert Fleischer in die inhaltliche Offensive in Sachen CO2, decken die Netzwerke der Klimaleugnung auf, solidarisieren sich mit Greta Thunberg und mit Extinction Rebellion.

Kurz darauf geht auch dieser Link über Janichs Telegram-Gruppe. 2.000 Dislikes und eine vierstellige Zahl vitriolischer Kommentare schlagen binnen Stunden unter dem Video ein. Das Übliche, einmal mehr. Aber wie lange wollen sich das die Sender des digitalen Journalismus eigentlich noch bieten lassen? Wollten wir nicht, anders als der klassische Mainstream, eine ganz andere Debattenkultur etablieren? Inwieweit ist es da hilfreich, einen organisierten Online-Mob schalten, walten, bedrohen und die eigenen Autoren beschimpfen zu lassen?

Naja, muss jeder selber wissen. Ich persönlich verlängere die Liste der blockierten Profile regelmäßig und es verschafft mir immer wieder Linderung.

Verhaltenslehre der Wärme

Nicht nur Jutta Ditfurth, sondern eine ganze Reihe dezidiert linker Menschen werfen Extinction Rebellion eine „Hyperemotionalisierung“ vor, die sie sogleich für „anti-aufklärerisch“ halten. Dass bei XR zusammen geweint und meditiert wird, ist dann Beweis einer „Sektenhaftigkeit“. Diese bei der klassischen Linken mit ihrem materialistischen Wissenschaftsmythos häufig anzutreffende Haltung entspricht jener „Verhaltenslehre der Kälte“, wie sie Hermann Lethen in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat. Sie folgt den Regeln eines „Kults der Sachlichkeit“:

„… das Verbot des Rituals der Klage, die Disziplinierung der Affekte, die Kunstgriffe der Manipulation, die List der Anpassung, die Panzerung des Ich.“

Bei Extinction Rebellion erlebe ich eine Verhaltenslehre der Wärme, als ich mich aus den Schlingen des Netzes befreit habe und wieder zu den Aktionen stoße. Vor der Vattenfall-Zentrale an der U-Bahnstation Naturkundemuseum gibt es eine Straßenblockade von vielleicht 150 Leuten. Aus dem Soundsystem läuft, einmal mehr, fröhliche Elektro-Mucke — der Zusammenhang von elektronischer Musik und neuer Protestkultur wäre einen eigenen Artikel wert.

Plötzlich hört die Musik auf. Es kommt ein „Mike-Check“. Dieser Mikrophon-Check ersetzt bei XR das Megaphon und demokratisiert es gleichzeitig. Jemand ruft „Mike-Check“ und die Menge wiederholt „Mike-Check“ bis alle hinhören. Dann wiederholt die Menge das Gesagte des Mike-Checkenden.

Diesmal: „In Halle kam es zu einem schrecklichen Anschlag vor einer Synagoge.“ (Die Menge wiederholt: „In Halle kam es zu einem schrecklichen …“) Weiter in der Durchsage: „Ich schlage vor, dass wir eine gemeinsame Schweigeminute machen.“ Alle stimmen zu und urplötzlich steht die gleiche Menge, die soeben noch getanzt hat, schweigend da. Eine große Traurigkeit senkt sich über den Ort der Blockade. Ein kraftvoller Moment voller Würde. Die Menschen stehen da und sind wirklich in Gedanken bei den Opfern und bei dem grauenvollen Ereignis in Halle. Es ist völlig still von uns aus. Die Geräusche der Stadt sind umso deutlicher vernehmbar.

Dann hebt langsam, erst vorsichtig, ein Gesang an. Dann nehmen sich nach und nach alle bei den Händen und bilden einen Kreis. In der Mitte der Straße entsteht eine große Leere. Der Gesang geht über in Sprechchöre. Die Stimmung wird wieder kämpferisch und offensiv.

Das alles ist natürlich fürchterlich unsachlich, sektenhaft, peinlich.

Oder, Jutta?

Die Emotionalität der Menge

Ich halte diese Fähigkeit, auf nahezu jede Situation eine adäquate, emotionale Antwort zu entwickeln, für eine der größten Stärken von Extinction Rebellion. Denn mitten in der Berliner Protestwoche mit dem Anschlag in Halle konfrontiert zu sein, war schwierig. Wie reagieren? Einfach weitermachen? Die Proteste einen Tag aussetzen?

Nach einiger Beratung im Camp kam XR mit einer, wie ich finde, sehr angemessenen Antwort heraus. So wurden die Die-Ins, jene massenhaften Straßentheaterinszenierungen von Toten, für diesen Tag abgesagt. Das Thema des Sterbens sollte an diesem Tag nicht von XR besetzt werden.

Auch allzu ausgelassene Partys bei den Blockaden sollten vermieden werden, aber natürlich ist das schwierig durchzuhalten, bei einer fröhlichen Meute wie die Aktivistis von XR es sind. Die Lösung mit der Schweigeminute mitten aus dem gemeinsamen Tanzen heraus war dann von einer beeindruckenden Souveränität, wie ich fand.

Ebenso war es das Verhalten einer großen XR-Demo von einigen Tausend, zwei Tage später. Bevor der Zug am Holocaust-Mahnmal vorbeikam, wurde angehalten und es gab einen „Mike-Check“. Dieser rief dazu auf, möglichst still am Mahnmal vorbeizuziehen. So wurde es gemacht. Das war würdevoll, kraftvoll, angemessen und von einer großen politischen Schönheit. Die warme Verbundenheit mit den Ermordeten wurde in diesem Schweigen zu einer greifbaren, emotionalen Tatsache, während das offizielle Gedenken oftmals gefährdet ist, zu einem leeren, letztlich kalten Ritual zu verkommen.

Nun gibt es freilich auch in der bisherigen Protestkultur Rituale der Emotionalität. Aber diese handeln typischerweise von den Emotionen „Wut“ oder „Empörung“. Dagegen ist gar nichts einzuwenden. XR jedoch hat sich zum Ziel gesetzt, in einem toxischen System eine wirksame Praxis der Entgiftung zu entwickeln. Dafür ist die Fähigkeit notwendig, alle Emotionen gemeinsam zuzulassen. Eine Menge, die gemeinsam traurig oder auch ratlos sein kann, die dem adäquaten Ausdruck zu geben in der Lage ist, ist eine Menge, die gemeinsam ihre Wunden zu heilen lernt.

In XR lebt der Anspruch, als Menge jene Fähigkeiten zu entwickeln, die subjektiv notwendig sind, um das objektiv Notwendige durchzusetzen. Die gemeinsame Stille und Traurigkeit ist eine jener notwendigen Fähigkeiten. Aber es gibt auch andere.

Etwa die Fähigkeit, als Menge mit militärischer Präzision zu agieren.

Militärisch friedvolle Profis

Die Großdemo hatte sich kurz am Potsdamer Platz hingesetzt und läuft jetzt weiter. Plötzlich stellt sich eine Aktivistin mitten in den Zug und fordert uns gestenreich auf, nach links auszubrechen. Das tun wir. In der Schlucht zwischen zwei jener unsagbar misslungenen Neubauten rund um den Potsdamer Platz laufen wir auf totalversiegeltem Boden durch zur nächsten Parallelstraße. Dort zeigt einer auf ein weißes Gebäude: „Das ist das Bundesumweltministerium!“, sagt er bloß.

Mit vielleicht zwanzig Leuten gehe ich auf das BMU zu. Hinter uns läuft der Rest der umgelenkten Demo auf anderen Wegen weiter. Die Situation chaotisiert sich und das ist erkennbar die Absicht des ganzen Vorgangs.

Eine lose „Kette“ von vielleicht zehn Polizisten versperrt uns den Weg zum BMU. Ich gehe auf den linken Bürgersteig. Davor steht ein weißer LKW herum, ich will zwischen dem Wagen und der Hauswand an den Bullen vorbeihuschen. Aber ein Beamter bemerkt es gerade noch und schiebt sich vor mich. Bis hierhin und nicht weiter.

„Krass!“, rede ich den Bullen an: „Ihr seid ja perfekt ausgebildet. Das war ja Raumdeckung wie aus dem Bilderbuch. Falscher Sechser vor der eigenen Abwehr …“ Der Beamte grinst siegessicher: „Tja …“ sagt er: „Wir sind halt Profis!“

Zwanzig Sekunden später kommen aus der Passage direkt links von uns XR-Aktivisten angelaufen. Von weiter unten kommen einige Hundert aufs BMU zugelaufen. Von hinten kommen auch eine ganze Menge Leute. Hinter dem LKW, der zwei Meter hinter mir und dem Profi-Bullen herumsteht, tauchen plötzlich fünf Gestalten auf. Sie fassen sich fünf Seile, ziehen mit einem gleichzeitigen Ruck an — und vorne, auf der dem BMU zugewandten LKW-Seite, schnalzt die LKW-Plane nach oben.

Die Ladefläche des LKWs ist vergittert. Hinter dem Gitter steht die Band „Robespierres“ und legt sofort mit einem Hammersound los. Auch die Stromversorgung ist auf der Ladefläche hinter den Gittern sicher — dass wir da nicht früher draufgekommen sind! Wie oft schon hat uns die Staatsmacht ganz einfach den Saft abgedreht …

Binnen Minuten hat sich der ganze, rund um die Zielzone kunstvoll chaotisierte Demonstrationszug vor dem BMU wieder eingefunden. Die Polizei ist hilflos. Der Platz wird besetzt. Die Robespierres spielen auf. Die Menge tanzt. Diese Blockade wird für die nächsten zwei Tage gehalten werden.

Was für ein reifes, gut durchdachtes, exzellent vorbereitetes, wunderschönes, militärisches Manöver, denke ich ergriffen. Und das alles, um eine vollständig friedvolle Straßenblockade durchzusetzen, die eher ein großes Fest werden wird. Allerdings ohne Alkohol und Gras. Das steht so im „Rebellionskonsens“ von XR. Naja.

Gekaufte Satanisten

Im Netz läuft währenddessen Oliver Janich zu Hochform auf. Er unterstellt der Klimabewegung „Satanistische Rituale“. Am dramatischsten sieht er das bei den „Roten Rebellen“, der „Red Rebel Brigade“.

Diese sind ganz in tiefes Rot gekleidet — schon diese Farbe lässt bei gewissen Kreisen den gleichfarbigen Alarm losgehen. Die wehenden Gewänder der roten Rebellen erinnern zudem an die Tracht mittelalterlicher Mönche oder Nonnen. Mittelalter = Satanismus, klar, oder?

Dann wäre da zum Beispiel ist auch noch das „F“. Es ist der sechste Buchstabe im Alphabet. Deswegen bedeutet „FfF“ auch gar nicht „Fridays for Future“, sondern 666 — the number of the beast.

Heilige Zeit der Dummheiten!

Das sind immer diese Momente, an denen ich zuerst denke: Das ist jetzt so dermaßen bescheuert, das muss doch wirklich dem Letzten auffallen! Aber dann fällt mir jedes Mal dieses Zitat ein:

„Jede Propaganda hat (…) ihr geistiges Niveau einzustellen auf die Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt.“

Dieses Zitat ist von Adolf Hitler. Es ist eine Gebrauchsanweisung für vieles, was im Netz derzeit als „alternative Information“ daherkommt: je dümmer, desto Klicks!

Weiter geht es auf der Seite „Science Files“. Dass bei XR in Großbritannien auch einige bezahlte Hauptamtliche tätig sind und es die Möglichkeit für finanziell Bedürftige gibt, sich bei der Anreise zu Protesten unterstützen zu lassen, wird dort zur Behauptung ausgeweitet, die Mehrheit der Berliner Protestierenden sei bezahlt. 450 Euro kriege man dort, pro Tag.

Ich rechne: Sieben Tage werde ich bei den Protesten sein. Das wären 3.150 Euro. Die könnte ich gut gebrauchen. Wo finde ich das Formular? Wird das überwiesen oder bekommt man das cash?

Natürlich macht auch diese wilde These ihre Karriere. Heiko Schrang greift sie im Titel eines ausgiebigen Videos auf, das er dem Bashing von Extinction Rebellion widmet. Die Woche zuvor hat Bernard Loyen auf KenFM skandalisiert, dass XR 500.000 Dollar an Spenden aus Kalifornien bekommen hat, aus einem „Climate Emergency Fund“ ziemlich wohlhabender Menschen.

Gut, einige dieser Menschen mussten kürzlich erleben, dass ihre Häuser nach monatelanger Dürre von den schlimmsten Feuersbrünsten verschlungen wurden. Das hat auch diese Leute für das Klimathema, sagen wir: sensibilisiert. An sich ein nachvollziehbarer Vorgang.

Zumal die Klimaleugnungsindustrie bei 500 Millionen Dollar liegt, die sie aus der fossilen Industrie an Zuwendungen überlassen bekommen hat. Aber diese Information kommt von Dirk Pohlmann, und der ist seit seinem klaren Bekenntnis zur Klimagerechtigkeitsbewegung nicht nur „endgültig diskreditiert“ in den Kreisen der Janich-Fans, sondern auch, wer hätte es gedacht? Satanist.

Aber schnell raus aus dem Netz und zurück zu den Aktionen. Mein täglich Demogeld gib mir heute …

Die Roten Rebellen

Die Roten Rebellen habe heute kein mobiles Soundsystem am Start. Als ich gerade mit einem Geiger auf einer Parkbank im Klimacamp am Jammen bin, fragen sie uns, ob wir sie begleiten wollen. Ja. Machen wir.

Langsam setzen sich die mystischen roten Gestalten in Bewegung. Die Geige, meine Thüringer Waldzither und eine Trommel begleiten den Zug mit sparsamen Tönen. Wie immer erregen die Roten Rebellen jede Menge Aufmerksamkeit.

Wir ziehen zum Haus der Kulturen der Welt. Dort gibt es einen stilisierten Wal in einem großen Wasserbassin. Dahinter führt eine gigantische Treppe nach oben, zum Eingang des Kulturtempels, der gerade eine Ausstellung anbietet über „Liebe und Ethnologie“.

Als wir hinkommen, ist der Vorplatz und die ganze Treppe übersät von Leichen. Tote liegen kreuz und quer herum. Der eine hat noch die Wasserflasche in der Hand und ist am Rand des Bassins verendet. Einer fehlt ein Schuh. Eine andere liegt zusammengekrümmt, leblos auf den Treppenstufen.

Mir stockt der Atem, Verzweiflung steigt auf in mir. Rein verstandesmäßig begreife ich natürlich, dass wir hier ein Die-In vor uns haben, eine Art „Lebendes Bild der Toten“, Aktivisten von Extinction Rebellion. Aber der Verstand ist hier nicht entscheidend. Mein sonstiger Wahrnehmungsapparat signalisiert, dass ich in einem Feld voller Leichen umherwandle. Mit rot gewandeten Figuren aus einer anderen Zeit. Trauer steigt auf in mir. Ich fühle einigen der Toten den Puls.

Ich steige die Treppe nach oben, über Tote hinweg, zwischen Toten hindurch. Mein Blick geht am mächtigen, eisernen Geländer der Treppe nach oben und ich erstarre augenblicklich: Da ganz oben steht, mit je einem Fuß auf einem der Geländer, der Tod. Eine schwarze Figur mit Maske, mit ausgebreiteten Schmetterlingsflügeln in schwarz und dunklem Lila, thront über dieser ganzen schaurigen Szenerie.

Emotionale Agitation

Wir ziehen weiter mit den Roten Rebellen. Am Haus der Kulturen wird das Die-In beendet, die Toten erwachen.

Als unser Zug hinter dem Bundeskanzleramt verschwindet, beginne ich zu singen: „This is an emergency. This is an emergency“. Das ist ein Notfall.

Hinter dem Kanzleramt verläuft ein Spreekanal. Als wir mit unserem eigenartigen Zug dort ankommen, liegt eine Touristenbarkasse vollbesetzt am Kai. Das Deck ist mit vielleicht 100 Touristen gefüllt. Wie immer ziehen die Roten Rebellen sofort alle Augen auf sich. „This is an emergency!“ singe ich und trete mit dem Geiger an den Kai, während die Barkasse langsam ablegt.

„And we gonna die — if we don’t rise up!“ ergänze ich meinen Notfalltext. Die ganze Barkasse scheint schockgefrostet. Nur ein Inder schaut mir fest in die Augen und nickt mir entschlossen zu. Kinder sind auf dem Boot und ihre Eltern. Ich nehme eine Mutter ins Visier und singe: „This is an emergency — and your kids gonna die — if we don’t rise up“.

Eine schaurige Szene, wie das Boot langsam vom Ufer driftet, alle Augen weiterhin auf mir, auf den Roten Rebellen, Erstarrung, Schock. Man müsste das alles in schwarz-weiß drehen.

Später denke ich über diese Aktion nach. Das war die radikalste Aktion meines Lebens, überlege ich. Denn natürlich ist es brutal, kompromisslos, schonungslos, gnadenlos einer Mutter zu sagen, dass ihre Kinder sterben werden, wenn wir nicht rebellieren. But this is the truth. Die Wahrheit muss ausgesprochen werden.

Hätten wir nicht lieber „Forderungen“ verlesen sollen? Flugblätter verteilen? Rund um die Roten Rebellen werden auch Zettel an die Passanten verteilt. Aber sind wir ehrlich: Mit dem Werkzeug der Sprache scheitern wir seit Jahrzehnten daran, die Verdrängungspanzer der Konsummenschen zu durchbrechen.

Die emotionale Agitation der Roten Rebellen dagegen, diese höchst wirksamen Mittel aus der Schule des Theaters der Grausamkeit, gehen durch diese Panzerung hindurch, sie wirken sofort und nachhaltig auf das Unterbewusste der Passanten. Denn diese Bilder, die Gewänder, die Gesänge aktivieren kollektive Erinnerungen, die tief sitzen in unserer Zivilisation. Das gemahnt an die Pesttänze, an die Flagellanten, an Schäffler.

XR, die Liebe und die neurotische Abwehr

Selten war ich so überzeugt, mit einer politischen Aktion wirklich etwas ausgelöst zu haben, wie nach diesem Zug mit den Roten Rebellen. Übrigens auch bei mir selbst. Die Bilder der Leichen beschäftigen mich stark an diesem Abend. Die Blockadeparty am Bundesumweltministerium ist mir zu laut. Ich ziehe mich zurück.

Eine ganze Stunde sitze ich des Nachts auf der Wiese vor dem Reichstag, gelehnt an eine Kiefer. Dieses Regierungsviertel, was für ein feindseliger Ort. Der Triumph des rechten Winkels. Gefängnisarchitektur, Gitter über Gitter, vergitterte Fenster, vergitterte Treppenhäuser, Vorbauten aus Gittern. Eine Macht macht sich unangreifbar in ihrer neurotischen Angst vor dem Volk. Und diese Reichstagskuppel? Aus Glas? Das Symbol der Volksnähe der Volksvertreter? Die ist aus Panzerglas, undurchdringlich.

Entgiftung in einem toxischen System, das hat sich XR auf die Fahnen geschrieben. Wer das jedoch versucht, kann sicher sein, eine ganze Breitseite neurotischer Reaktionen abzubekommen. XR erlebt das. Von links bis rechts setzt es wütende Kritik. Oft ist der geradezu körperliche Widerwille der Kritiker zu spüren, die innere Aufstöberung zuzulassen, die die Aktionen von XR auszulösen drohen. Also draufhauen. Ätzend werden. Scharf ablehnen.

In völligem Kontrast dazu steht die Liebe, die ich tagelang unter den Aktivistis erlebe. Ich bin schon lange Teil der Bewegung. Und wenn es aufging, wenn wir in den Kampf zogen, wenn klar war, worum es ging, haben eigentlich fast immer alle gut zusammengehalten. Sogar die, die sich sonst immer gestritten haben wie Katz und Maus.

Diese Wärme jedoch, dieses kollektive Grundvertrauen, das bei XR einfach da ist — so etwas habe ich außerhalb von psychedelischen Festivals zur besten Zeit der Elektrokultur noch nicht erlebt. Und im politischen Kontext noch nie.

Ja, ich werde bald zurückkommen aus dieser Welt der entgiftenden Rebellion für das Leben. Ein internetverseuchter Nachbar wird mich mit den Worten begrüßen, Dirk Pohlmann erzähle ja nur noch Lügen. Am gleichen Tag wird mich ein Profil in einem XR-Messenger angreifen, weil ich doch mit Rubikon zu tun hätte, diesem verschwörungstheoretischen Querfrontmagazin. Alles beim Alten. Alles so krank und neurotisch, wie gehabt.

Aber etwas hat sich geändert. XR hat einen Blumenanker geworfen ins Herz der Rebellion. Und ich weiß jetzt sicher, dass dieser elende, würdelose Mobbingkult im deutschsprachigen Internet nicht die Realität abbildet. Ich spüre, dass ich aus meinem eigenen toxischen System ausbrechen werde, zusammen mit den Roten Rebellen, mit den Youngsters von Fridays for Future Giffhorn, mit Sawar aus Israel, Sancho aus dem Hambi und mit dem Inder, der mir zugenickt hat.

Die Rebellion hat begonnen. Am 29. November gibt es den nächsten globalen Klimastreik. Der Kult der Niedertracht und des Todes wird unterliegen.

 

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.
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  • Andreas Mägdefrau
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    Die Wende in der DDR verlief ohne Blutvergießen. Aber dieses menschenfeindliche neoliberale System wird – darauf ist es militärisch vorbereitet – jeden töten, sobald der Protest den Akteuren hinter den Kulissen, das sind die Finanz- und Wirtschaftseliten, beginnt, denen existenziell weh zu tun. Es wird nicht reichen, nur die politischen Marionetten, ebenso die Marionetten in Exekutive und Judikative auszutauschen. Das faschistoide, neoliberale System muss zerstört werden ! Ohne das wird es nicht gehen ! Das geht nicht gewaltlos ! Alles andere ist eine naive Illusion – oder Astroturfing. Denn der Grundgegensatz liegt darin, dass die einen Privateigentum an Produktionsmitteln haben und die anderen gezwungen sind, sich und ihre Arbeitskarft zu verkaufen. Die Zersplitterung der Gesellschaft in Scheinidentitäten – auch XR neigt dazu, eine solche zu sein – verhindert, dass die Mehrheit der Menschen, die kein privates Eigentum an Produktionsmittel haben, ihren Blick auf diesen Grundwiderspruch fokussieren ! Wenn der gelöst ist, wird es auch möglich sein, ein Wirtschafts- und Finanzsystem zu errichten, das die Erde, deren Klima und Ressourcen, deren Lebewesen, zu denen auch neben Tieren und Pflanzen wir Menschen gehören, nicht ausbeutet bis zur vollständigen Zerstörung. Wo produziert wird, was wirklich benötigt wird, statt um die Profite der Eigentümer der Produktionsmittel zu maximieren. Das erkannte schon Marx und das ist richtig, selbst nach allen Verfälschungen und Verformungen seiner Lehre.

    Andreas Mägdefrau

  • heike
    Antworten
    Die Finanz- und Wirtschaftseliten bauen darauf, dass die AfD die Macht in diesem Land übernimmt – und dann werden auch hier solche Blockaden weggeprügelt und – geschossen.

    Im Moment stellt sich die AfD noch als eine Partei dar, die sich der Globalisierung entgegenstellt, tut sie aber nicht.

     

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