„Deutschland“ – ein Rauswurf-Begriff

 In FEATURED, Holdger Platta, Medien, Politik (Inland)

Früher ist “es” erwacht. Oder “es” schaffte sich ab. Heute kam “es” besser durch die Corona-Krise als andere Länder. “Es” blamierte sich bei der WM in Katar, vor allem versagte “es” wegen zu zögerlichen Panzerlieferungen an die Ukraine. Die Rede ist natürlich – Sie ahnen es schon – von Deutschland. Wäre Deutschland eine Person, so könnte man deren Zustand aber vor allem mit einem Satz beschreiben: “Deutschland geht es gut”. Wie kann es aber einem ganzen Land gut gehen? Gemeint ist vermutlich, seinen Bewohnern gehe es gut. Trifft das für Sie persönlich auch zu? Laufen Sie stets frohgemut durch die Lande, schwimmen Sie etwa im Geld oder können sich zumindest alles leisten, was Ihnen im Leben wichtig ist? Falls nicht – nun, dann kann man daraus eigentlich nur schließen, dass Sie gar nicht zu Deutschland gehören. Diese Argumentationsweise mag ungewohnt wirken, der Autor begründet in seinem Artikel aber sorgfältig und schlüssig, warum es sich bei allzu idyllischen Beschreibungen “Deutschlands” um eine perfide Ausgrenzungsrhetorik handelt, die die sozial schwächeren Menschen kurzerhand aus einer gefühlten “Volksgemeinschaft” zu entfernen versucht. Er bedient sich dabei eines nicht mehr ganz aktuellen, jedoch höchst aufschlussreichen Beispiels aus der Merkel-Ära. Holdger Platta

 

„Wir haben eine schlechte Nachricht:

Es geht uns gut“

DIE ZEIT vom 21. März 2013 (*)

 

Manchmal, so scheint mir, muss man heute bereits Klitzekleinigkeiten aufgreifen, um Ungeheures zu zeigen, Bagatellen, die deshalb so furchtbar sind, weil sie zwar einerseits ganz leise daherkommen und ihre Bösartigkeit eher verstecken, zum anderen aber diese Bösartigkeit, die im Großen und Ganzen die Herrschaft anzutreten beginnt, im vollen Maße auch signalisieren. Sie wären dann Nebensächlichkeiten, die von einer Hauptsache erzählen. Wovon ich spreche?

Nun, vor zwei, drei Tagen stieß ich in der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA)“ unter der an jedem Samstag erscheinenden Rubrik „Gewinner und Verlierer der Woche“ auf die folgende Lobhudelei. Es ging um Gerhard Schröder, einen der drei „Gewinner“ der vergangenen Woche, wie die HNA uns LeserInnen verriet:

G. Schröder. Bejubelt wegen Agenda

Da wird ein Redner von der SPD-Bundesfraktion bejubelt. Aber es ist nicht          Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, nein, es ist Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Und der Schwerpunkt seines Besuchs liegt ausgerechnet auf jenem Thema, das Schröder vor zehn Jahren viele Gegner aus den eigenen Reihen bescherte – die Agenda 2010. Deutschland geht es gut, auch wenn es nicht allen Deutschen gut geht. Die da jubelten, dachten an Deutschland.“

Ich weiß, im folgenden Text werde ich bei manchen Lesern den Eindruck erwecken, es handele sich um nichts anderes als um linken Alarmismus. Dieser Eindruck wird also mitzureflektieren sein. Aber zunächst muss der alarmierende Begriff fallen, bevor die entsprechende Analyse – vielleicht – den Nachweis zu liefern vermag. Hier also der skandalisierende – und gegebenenfalls zu skandalisierende? – Satz:

Ich halte das Denken, das sich in den letzten beiden Sätzen dieser Mini-Lobrede ausdrückt, für Rückkehr zu einer bestimmten Variante des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik (und der Nachfolgezeit), und zwar für einen Rückfall in eine ideologische Denkweise in genau jenem Sinne, wie sie der Politologe Kurt Sontheimer im Jahre 1968 in seinem Buch „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ aufs detaillierteste untersucht hat.

„Antidemokratisches Denken“? Wie bitte? Kleiner geht’s nicht? Nein, kleiner geht es meiner Meinung nach nicht! Ich behaupte:

In dieser HNA-Aussage eines Autors mit dem Kürzel „cst“ feiert ein Denken Wiederauferstehung, das in der faschistischen Ideologie als Volksgemeinschaftsdenken eine zentrale Rolle gespielt hat, ein ethnozentristisches „Wir“-Gefühl, das vor allem auf einem beruhte (und offenbar schon wieder beruht): nicht auf Interessensgleichheit und Solidarität der „Volksgenossen“ untereinander (das zu behaupten wäre blanke Ideologie), sondern auf Ausschluss aller, die nicht mehr zu dieser „Volksgemeinschaft“ gehören sollen! Damals, im Dritten Reich, waren es vor allem die Juden, darüberhinaus Sinti und Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Menschenrechtsliberale, Christen, Behinderte und Homosexuelle, heute – ich erläutere das gleich am Beispiel der von mir aufgegriffenen Sätze – sind es vor allem die Zwangsarbeitslosen, Aufstocker und Armutsrentner. Wie komme ich zu diesem, ich weiß, ungeheuerlichen Befund?

Nun, eigentlich liegt die Sache klar auf der Hand: der Autor dieser HNA-Eloge macht einen Unterschied zwischen einer unbekannten Anzahl von Deutschen, denen es „nicht gut geht“, und „Deutschland“ als ganzem. „Deutschland“, so die zentrale Aussage, habe von der Agenda 2010 profitiert, da zählen die anderen (die in der Tat ungezählt bleiben!) nicht, und diese Hartz-IV-Opfer zählen offenkundig bei diesem „Deutschland“-Verständnis auch nicht mehr dazu. Die Hartz-IV-Betroffenen werden expressis verbis aus diesem „Deutschland“ rausformuliert und fristen nur noch im Dunkel des Halbsatzes „auch wenn es nicht allen Deutschen gut geht“ ihre verschattete Existenz.  Das ist – immerhin – von differenzierender Ehrlichkeit. Das ist aber auch Ausstoßung der Agenda-Betroffenen aus dem „Deutschland“-Begriff der HNA.  Deutschland – diese kleine Zeitungs-Lobhudelei auf Schröder macht es deutlich –, das ist nur noch das Deutschland der Gewinner, ein „Leistungsträger“-Deutschland. Und das sage nicht ich, das sagt dieser Text!

Eine Bagatelle, ich weiß, und ich wiederhole diese Feststellung gerne nochmal. Jedoch eine Kleinigkeit, der wir – in sonstigen Medienbeiträgen und Politikerreden – nahezu flächendeckend und nahezu täglich begegnen. Und damit hört sie auch auf, eine Kleinigkeit zu sein: „Deutschland geht es gut“, „uns geht es gut“, auf diese beiden Sätze stößt, wer sie angoogelt, im Internet gleich zighundertausendfach. Textvariante eins – „Deutschland geht es gut“ – fand ich am vergangenen Sonntag, den 17. März 2013, gleich  333.000mal im Internet, und Textvariante zwei – „uns geht es gut“ – bot mir der Suchdienst gleich über eine Million Mal an (= 1.130.000).

Und wer trug vor allem zu diesem Millionenfund bei? Nun, zum einen die Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Neujahrsansprache zum Jahreswechsel 2011/12  und zum anderen ihr Vizekanzler Philipp Rösler auf dem diesjährigen Drei-Königs-Treff. Heißt: diese Rauswurf-Agitation kommt von ganz oben her – der HNA-Journalist hat also nur nachgebetet, was das Predigerpersonal an der Staatsspitze so von sich gibt –, und diese Phrase füttert bereits seit einiger Zeit die Propaganda unseres Führungspersonals. Mit Konsequenz und Kanzlerinnensegen quatscht man also sämtliche MitbürgerInnen weg, denen es nicht gut geht, und schmeißt sämtliche Opfer der Krise und Hartz-IV-Politik mithilfe dieser verbalen Totalnegation aus der eigenen „Deutschland“- und „Wir“-Definition raus. Ausschluss, nicht „Inklusion“ ist der Inhalt dieser Agitation, Totalausgrenzung von Opfern aus der Gemeinschaft aller stellen diese Statements dar! Oder irre ich mich? Wird hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen? Sind nicht diese Glücksverlogenheiten – „Deutschland“ beziehungsweise „uns geht es gut“ – zu kritisieren, sondern zu kritisieren sind meine Aussagen über dieses Wegdefinieren von Menschen?

Nun, ich meine, diese These vom rhetorischen Totalrauswurf der betroffenen Menschen aus dem analysierten „Deutschland“- und „Wir“-Begriff findet seinen Beleg in der Realität, im Totalrauswurf der betroffenen Menschen aus dem realen Leben in dieser Republik. Was da in  der HNA-Lobhudelei auf Schröder – immerhin! – noch angetippt worden (freilich: mehr als zaghafte Antipperei war es nicht), die Tatsache nämlich, daß diese Agenda-Politik Opfer gefordert hat, dieses Elend fördert ein vorbehaltloser Blick auf die Lebenssituation der Wegdefinierten aufs deutlichste zutage: den Zwangsarbeitslosen, Aufstockern, Armutsrentnern in unserer Republik geht es nicht nur irgendwie und ganz allgemein schlecht, nein, schlecht geht es ihnen zusätzlich im ganz präzisen Wortsinn dieser Rauswurfs-Ideologie:

Beteiligungsmöglichkeiten am sozialen, politischen, kulturellen Leben in unserem Land – für alle diese Menschen durchweg Fehlanzeige. Aktive Partei- oder Gewerkschaftsmitgliedschaften, aktive Mitgliedschaften in Vereinen, Besuche von Vorträgen, Theater, Konzerten, Teilnahme an Demos, die nicht um die Hausecke stattfinden (also Fahrkosten bedeuten) – alles unmöglich! Die Opfer müssen draußen bleiben. Und dieses, obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010 all diese Teilhabemöglichkeiten zum xten Male als Mindeststandards eines menschenwürdigen Existenzminimums den Politikern ins Stammbuch geschrieben hat. Kurz: mit diesem „Deutschland“-Verständnis verabschieden sich die Merkels und Röslers von der verfassungsrechtlich unaufhebbaren Sozialstaatsverpflichtung.

Was in dieser „Deutschland“- und „Wir“-Phraseologie ausgesprochen wird, der Rauswurf der Zwangsarbeitslosen, Aufstocker und Armutsrentner aus der Gesellschaft, das ist nicht nur verbale Ungeheuerlichkeit, das ist vor allem ungeheuerliche Realität. Das ist Realität, die mit Demokratie nichts mehr zu tun hat, mit der „Volksgemeinschafts“-Ideologie des Dritten Reiches aber bereits sehr viel. Selbstverständlich: der Zwangsausschluß der Menschen damals wurde mit Verboten durchgesetzt, heute geschieht das durch Geldentzug. Im Denken wie im Effekt gibt es jedoch keinen Unterschied. „Deutschland“ und „Wir“ stellen in dieser Propaganda Rauswurf-Vokabeln dar, welche heute wie damals dieselbe Realität beschwören.

Und das Zusätzlich-Bestürzende ist, dass nicht nur Politiker sich dieser Rhetorik bedienen, sondern dass diese Rhetorik mittlerweile auch tief eingedrungen ist in die Mediensprache der Bundesrepublik. Nicht nur „die da oben“ reden so, auch Journalisten ziemlich weit unten tun dieses inzwischen. Dabei hat diese Art des Redens, Schreibens und Denkens die Phase seiner propagandistischen Rechtfertigungen bereits weit hinter sich gelassen. Diese Art des Reden, Schreibens und Denkens gehört seit längerem schon zum Sedimentgestein unserer verhärteten Ideologien. Man kann sich fragen, was schlimmer ist: Wiedergängerei einer antidemokratischen Denkweise, die hetzt, aber aufs Hetzen noch angewiesen ist, oder ein menschenverachtender, die Existenz vieler unglücklicher Menschen negierender, „Deutschland“- und „Wir“-Begriff, der  bereits im Stadium völliger Selbstverständlichkeit aufs Paper g3ebracht wird und die Talkshows und Reden in dieser Republik vergiftet.

Dabei sei aufs deutlichste angemerkt: Diese undemokratische Ausgrenzungsphraseologie im Stadium ihrer Selbstverständlichkeit muss dem Selbstverständnis der betreffenden Journalisten und Politiker überhaupt nicht entsprechen! Der furchtbare Satz „Deutschland geht es gut“ mit seinem Wegdrängen des Leids von Millionen von Menschen scheint prima vereinbar zu sein mit einem ansonsten exzellenten Demokratiebewusstsein. Denn mit solchen Sätzen, aus denen man jegliches Mitleid vertrieben hat, ist zwar hochfragwürdiges Denken im Kopf der betreffenden Propagandisten  angekommen und damit zum Bestandteil ihres Bewusstseins geworden, aber dieser Bestandteil im Bewusstsein der Hartz-IV-Agitatoren dürfte nur Bruchteil ihres Bewusstseins insgesamt sein. Ansonsten – außerhalb dieses Denkens und Sprechens, außerhalb dieser Ausgrenzungsideologie – sind dieselben Menschen  zumindest noch Formaldemokraten durch und durch. Konkret:

Diesen Satz – „Deutschland geht es gut“ – zu denken und zu schreiben (und dementsprechend Welt zu sehen und zu empfinden), das kann nach wie vor problemlos einhergehen mit Ablehnung von jedweder Diktatur und Befürwortung der Demokratie sonst. Das kann einhergehen mit Bejahung von Parlamentarismus und Gewaltenteilung, problemlos einhergehen mit Verteidigung des Rechtsstaates in allen anderen Bereichen dieser Republik. Mit bitterer Ironie formuliert: ich vermute, die HNA-Eloge auf Schröder hat ein wahrer Demokrat zu Papier gebracht, derartiger Sozialrassismus – wie Alfred Grosser, der deutsch-französische Politologe, dieses Abwertungsdenken gekennzeichnet hat – ist demokratie-kompatibel.

Womit sich aber erneut die Frage stellt: ist das nun besser oder schlimmer als die alte Variante der Volksgemeinschaftsideologie? Was ist heutzutage mehr zu befürchten, was als verheerender anzusehen – ein Sozialrassismus, der sich mit Gebrüll und Schlägertrupps zu etablieren versucht, oder Sozialrassismus, der sich sanft und allmählich in die Köpfe der Menschen schleicht, gutbürgerlich in seinen Manieren, verbreitet in der Gestalt  gutbürgerlicher Medienarbeit? Ich befürchte,  diese Fragen haben es in sich. Deren Beantwortung könnte bedeuten, dass es zwar richtig ist, eine NSU zu bekämpfen, dass es aber noch wichtiger ist, gegen diese getarnten Neovarianten alter Ideologien vorzugehen. Vielleicht legt altes Aussonderungsdenken inzwischen ja ein ausgesprochen gutes Benehmen an den Tag? Vielleicht ist ja heutige Menschenverachtung nicht mehr brutal, sondern kommt äußerst gepflegt daher? Mein Fazit jedenfalls lautet:

Wenn Begriffe wie „Deutschland“ und „Wir“ zu Rauswurf-Begriffen werden, stellt das keine Bagatelle mehr dar, sondern ist von äußerster Bösartigkeit. Es ist Menschenausgrenzung, die sich sehr leise vollzieht und gerade deshalb so effektiv funktioniert.

Mir scheint, wir sollten mit geschärfter Aufmerksamkeit hineinhören in diese Welt der „Nebensächlichkeiten“.

 

(*) Aufmachertitel der ZEIT in dieser Woche, Buchstaben in Bildzeitungsgröße. Um diese ‚Auskunft’ konnte ich mich in diesem Text nicht mehr kümmern. Deshalb nur:

 

DIE ZEIT kostet im preisvergünstigten Abo 16,50 Euro pro Monat. In der Grundsicherung für Zwangsarbeitslose, Aufstocker und Armutsrenter sind 11,54 Euro für Zeitungen und Zeitschriften pro Monat vorgesehen. Insgesamt. Macht eine Differenz von monatlich 5,16 Euro. Man könnte sagen: der Abstand der ZEIT von der Wirklichkeit. Oder: der pure Zynismus.

 

Ansonsten geht es den ZEIT-Redakteuren sicherlich „gut“.

 

 

 

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