Die andere Revolution

 In Politik, Roland Rottenfußer, Spiritualität

Franz von Assisi gibt seine Kleider weg, Gemäld: Giotto

Warum der Papst mutiger als die meisten „Linken“ ist. Linke wie Neoliberale glauben, dass sich das Wohl und Wehe einer Gesellschaft einzig in der ökonomischen Sphäre entscheidet. Sie stärken damit jenen Ungeist des Effizienzdenkens und der kurzsichtigen „Realpolitik“, der die politische Misere erst verursacht hat. Wer politische Veränderung wünscht, sollte deshalb unbedingt vermeiden Politiker zu werden. Das Politiker-Syndrom bringt einen speziellen Menschentyp hervor. Er passt sich pragmatisch an eine „Realität“ an, die er selbst in jedem Moment mit erschafft — eine Welt ohne Tiefendimension, die den Gesetzen des Marktes gehorcht. Spirituelle Menschen können deshalb häufig „radikaler“ sprechen und handeln, weil ihre Wurzeln noch nicht gekappt sind. Besserung kommt niemals aus dem System selbst, bei dem auch Linke nur Mitspieler sind. Sie muss vielmehr von außerhalb der Bühne kommen. Besser ausgedrückt: von ganz innen. (Roland Rottenfußer)

„Diese Wirtschaft tötet“, sagte der weiß gewandete, alte Herr. Und weiter: „Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. (…) Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen.“

Papst Franziskus schrieb das in seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ (Freude des Evangeliums). Keine Gaudi war die harte Ansage des Pontifex für die etablierte Politik. Sogleich entdeckten die medialen System-Chorknaben von der ZEIT ihr kritisches Bewusstsein und rügten Franziskus: „Der Papst irrt. In seiner Kapitalismuskritik hängt der Heilige Vater zu stark marxistischen Thesen an.“

Der Papst — ein Linker? Nicht, wenn man den momentanen Zustand der Linken in Deutschland zugrunde legt. Die erreicht nur selten die Konsequenz und den Mut, die der Anführer einer eigentlich erzkonservativen, mit etablierter Politik und Wirtschaft gut vernetzten Institution aufbringt.

Ich schweige hier vom Dauer-Fake eines angeblich „linken Lagers“, bestehend aus SPD, Grünen und Linkspartei. Von der Presse wird diese Fiktion wider besseres Wissen hartnäckig aufrechterhalten, um dem Wahlvolk eine echte Systemalternative vorzugaukeln. Reden müssen wir aber von der Partei „Die Linke“, deren systemumstürzlerische Konsequenz um einiges hinter den kühnen Aussagen des alten Mannes aus Rom zurückbleibt.

Im günstigsten Fall — man denke etwa an Sahra Wagenknecht — erreichen Rhetorik und Analyse linker Politiker päpstliches Niveau; im ungünstigsten haben sich die Exponenten des immer weiter anschwellenden „realpolitischen Flügels“ längst in die Verhältnisse gefügt.

Ihr Aufbruchsimpuls — falls es je einen gab — versickert in einem System, das alles und jeden vereinnahmt und im Sinne der eigenen Verwertungsinteressen „umfärbt“. Bodo Ramelow, erster linker Ministerpräsident Deutschlands, etwa gab im Interview mit „Capital“ windelweich zu Protokoll:

„Meine Botschaft war wie bei allen Terminen, dass die Unternehmer mich als Partner haben. Dass die Linke nicht gegen die Wirtschaft ist. Ich bat darum, dass sie uns eine Chance geben und sagte, dass wir unsere Stärken gemeinsam ausspielen sollten.“

Jeder Stachel gerechter linker Wut auf die übermäßige Dominanz demokratisch nicht gewählter Wirtschaftsvertreter ist hier längst abgebrochen. Statt selbstbewusst als Volksvertreter aufzutreten, „bittet“ der Ministerpräsident darum, dass ihm Unternehmer „eine Chance geben“.

Ramelow stimmte unter anderem im Bundesrat für die neue Autobahngesellschaft, die einen Einstieg in die Privatisierung eines wichtigen Gemeinguts in Deutschland darstellt — nicht das einzige, aber ein typisches Beispiel für neu-linke Umfallerpolitik.

Nicht von dieser Welt?

Warum kann die — relativ gesehen — „radikalste“ linke Partei im Bundestag keine klare Kante zeigen? Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich halte die katholische Kirche mit ihren stramm hierarchischen Strukturen, dem Verbot der Frauenpriesterschaft, dem Mammonismus der Vatikanbank, dem seelenverformenden Herumreiten auf der Fiktion einer zutiefst sündigen Menschheit noch immer für eine problematische Institution.

Der Grund, warum sich der führende Exponent dieser Institution mitunter mutiger äußert als Politiker, liegt wohl darin, dass sein Seelenschwerpunkt nicht allein im Bereich des Opportunen, Effizienten und „Machbaren“ liegt — in einem Bereich, der zwar in, jedoch nicht unbedingt „von dieser Welt“ ist. Darüber wurde und wird viel gespottet: die weltfremden und abgehobenen Religionen. Aber fragen wir anders herum: Woher soll, wenn praktisch der ganze Erdboden mit einem Grauschleier aus Zweckdenken überzogen ist, das Wissen kommen, dass da auch noch das Blau einer unerhörten Freiheit existiert? Wir kommen an dieser Stelle nicht umhin, von Spiritualität zu sprechen.

Spirituelle Menschen stehen bei Linken in dem Ruf, verhuschte „Diesseits-Drückeberger“ zu sein. Nicht so der jüdisch-amerikanische Zen-Meister Bernard Glassman. „Sie waren der Meinung, als Zen-Lehrer sollte ich meine Zeit besser darauf verwenden, Menschen zur Erleuchtung zu geleiten. Ich bin jedoch der Meinung, dass man Menschen, die hungern, zuerst einmal etwas zu essen geben sollte“, schrieb Glassman in einem Buch. Gesagt, getan. „Bernie“, wie ihn seine Anhänger nennen, verzichtete auf seine Karriere als „Berufserleuchteter“ seiner Zen-Schule. Berührt vom Schicksal der vielen Obdachlosen in New York gründete er die GreystonBakery. Die brachte den Wohnungslosen nicht nur Brot, sondern auch Jobs — und sozialen Projekten hohe Zuschüsse aus dem Verkauf der leckeren Backwaren. „Greyston“ wurde in kurzer Zeit zu einem ebenso ethischen wie ökonomisch erfolgreichen Musterbetrieb. Sollten solche Beispiele linken Spiritualitätshassern nicht zu denken geben?

Das Unbehagen der politischen Linken an der Spiritualität wurzelt noch in der Religionskritik von Karl Marx. Diese richtete sich zunächst gegen die Kumpanei der Kirchen mit den Mächtigen, gegen die systemstabilisierende Wirkung von Religion: „Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“ (Marx) In der Tat haben katholische wie evangelische Kirche ihre Schäflein allzu oft im Sinne eines Paulus-Zitats indoktriniert: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit.“ Und so mancher fromme Kirchenmann war nicht wählerisch, wenn es um die Unterstützung der jeweiligen Machthaber ging.

Spirituell und widerständig

Spiritualität in ihrer Gesamtheit abzulehnen, ist jedoch ebenso sinnlos wie Politikverdrossenheit mit Blick auf einen Trump, Erdogan oder Schulz. Die Schattierungen innerhalb der Politik wie der Spiritualität sind so mannigfaltig, dass sich jede Verallgemeinerung verbietet.

Trifft der Vorwurf nicht doch zu, dass Religionen vor allem „Weltfluchthelfer“ sind? Es gibt ebenso viele Belege für das Gegenteil. Der evangelische Pastor Dietrich Bonhoeffer, der wegen seines widerständigen Verhaltens 1945 von den Nazis ermordet wurde, vertrat ein entschieden diesseitiges Christentum: „Der Mensch, der die Erde verlassen will, der heraus will aus der Not der Gegenwart, der verliert die Kraft, die ihn durch ewige geheimnisvolle Kräfte immer noch hält. Die Erde bleibt unsere Mutter, wie Gott unser Vater bleibt.“ Schon im Gefängnis, am 21. April 1944, schrieb Bonhoeffer in einem Brief: „Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte (…) Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.“

Persönlichkeiten wie Bonhoeffer machen deutlich, dass spirituelle Menschen nicht nur zur gesellschaftlich relevanten Aktion in der Lage sind, sondern dass ihnen der Glaube zusätzlich eine besondere Kraft verleiht. Man hat den Religionen oft vorgeworfen, das Diesseits gering zu schätzen. Andererseits: Wer annimmt, es gäbe nicht mehr als dieses kurze Leben, keine Werte außer denen der Gesellschaft und keine Instanz oberhalb des geschriebenen Gesetzes – woher soll ein solcher Mensch den Mut nehmen, aufzubegehren? Sein kleines Leben, seine Bequemlichkeit ist für den „Unspirituellen“ ja übermäßig mit Bedeutung aufgeladen. Endet ein solches Leben im Gefängnis oder auf dem Schafott, stirbt damit alles, was für den Betreffenden zählt.

„Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können“, sagt Jesus im Matthäus-Evangelium. Und Petrus vor dem Hohen Rat: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apostelgeschichte) Nimmt man diese Stellen ernst, so dienen sie als Ermutigung für jeglichen durch das Gewissen begründeten Widerstand gegen die Obrigkeit.

Religion sollte die Bedeutung irdischer Machtverhältnis relativieren. Sie sollte Menschen mit einem inneren Bezirk in Kontakt bringen, der nicht korrumpierbar, nicht erpressbar ist. Religion sollte eine Perspektive jenseits ökonomischer und physischer Zwänge aufzeigen. Eine Religion, die nicht befreit, ist eine Religion, von der sich die ihr Unterworfenen befreien müssen.

Entscheidend ist nicht Erfolg

Spiritualität wird politisch vielfach als irrelevant, sogar kontraproduktiv betrachtet. Dabei sehen Aktive meist nur die eine Seite: das Fehlen lauten und auftrumpfenden Protests; wenig wahrgenommen wird dagegen das Widerstandpotenzial, das in der Verweigerung liegt, im Sich-Entziehen und in der radikalen gedanklichen Dekonstruktion des gesellschaftlich Vorgegebenen.

Im günstigsten Fall wird daraus eine Lebenshaltung, die den spirituellen Menschen unbestechlich und unerpressbar macht. Er bleibt dann ganz seinem Gewissen verpflichtet und einem Ideal, das teilweise „überweltlich“ verstanden wird, jedoch gestaltend in diese Welt hineinwirkt.

Im Prozess des spirituellen Wachstums werden Menschen mitunter immer einfacher, immer unambitionierter und somit auch immer weniger manipulierbar. Natürlich versuchen sie weiter, dem zu dienen, was wir für gut erachten: der Sache der Gerechtigkeit, des Friedens oder der sozialen Güte. Aber sie sind nicht mehr so fixiert auf das Gelingen. „Das letzte Kriterium der Beteiligung an widerständigem, solidarischen Verhalten kann nicht der Erfolg sein, das hieße immer noch, nach der Melodie der Herren dieser Welt zu tanzen“, sagte die Mystikerin und Buchautorin Dorothee Sölle. Wer verbissen und gehässig auf das Niederringen des Gegners fixiert ist, dessen Züge verzerren sich bereits und er wird dem vermeintlich Bösen immer ähnlicher. Eine Leistungs-, Wettbewerbs- und Effizienz-Ideologie schleicht sich ausgerechnet im „antikapitalistischen“ Kampf ein, wo es doch gerade diese Ideologie ist, an der unsere Welt krankt.

Auch franziskanische Spiritualität — also jene Strömung, auf die sich der Papst mit der Wahl seines Namens „Franziskus“ berief — bietet aber auch für Nicht-Mönche ein praktikables Modell, dessen Bausteine helfen können, eine bessere Welt zu erschaffen: eine geschwisterliche Haltung zur Natur, Selbstbeschränkung um des Wesentlichen willen, Macht- und Konsumkritik sowie der Verzicht darauf, irgendetwas „darstellen“ oder auch nur „werden“ zu wollen.

Unabhängig durch Verzicht

Die Urszene franziskanischer Spiritualität ist jene Auseinandersetzung des Tuchhändlersohns Francesco Bernadone mit seinem Vater auf dem Marktplatz zu Siena im Frühjahr 1207. Francesco gehörte, so kann man heute sagen, der Bourgeoisie an und wuchs „behütet“ auf. In Kreisen der Business People hielt man schon damals sein Geld zusammen. Nach einem Berufungserlebnis geschah es jedoch, dass der Sohn einige Gelder aus dem väterlichen Geschäft für Restaurationsarbeiten an der Kirche San Damiano sowie für soziale Zwecke „abzweigte“. Vater Bernadone ließ seinen Sohn zu einem öffentlichen Schauprozess auf dem Marktplatz vorladen, um ihn für seine „Tat“ zur Rechenschaft zu ziehen. Francesco jedoch — die Geschichte ist verbürgt — entkleidete sich vor den versammelten Stadthonoratioren bis auf die nackte Haut und verzichtete gänzlich auf das väterliche Erbe. Von da an zog er als Wanderprediger durchs Land. Sein einziges Kleidungsstück ist in einem Museum zu Assisi zu besichtigen: ein zerrissenes Stück Sack, zusammengehalten von einer Kordel.

Der Vorgang ist von einer inspirierenden Radikalität, wie sie auch aus vielen Szenen der Evangelien spricht – konsequent gegen den Strich jeder psychologischen „Normalität“ gebürstet. „Wenn dir jemand das Hemd nehmen will, gib ihm auch den Rock“. In der Version des Franziskus: Will dich jemand erpressen und kränken, indem er materielle „Sanktionen“ über Dich verhängt, gib noch mehr von dir her als er fordert; verzichte auf alles, und erlange dadurch vollkommene Freiheit.

Der Papst ist nicht der Heilige Franziskus, aber die Namenswahl gab für ihn durchaus eine Richtung vor – verzichtete Jorge Mario Bergoglio doch auf üppigen Prunk und eine aufwändige, schlossähnliche Unterkunft. Am Gründonnerstag nach seiner Amtseinführung wusch er Strafgefangenen in einem Gefängnis die Füße.

Damit ist schon viel gesagt, was uns heute in Zeiten eines auftrumpfenden ökonomistischen Zeitgeists helfen könnte. Der Kapitalismus fühlt sich ja seiner Macht über uns so sicher, dass er unsere stetige Unterwerfung für ausgemachte Sache hält. Mit kleinen und großen Erpressungen führt er uns auf dem schmalen Pfad des (für ihn) Verwertbaren – wie Kühe beim Almabtrieb mit Stromstößen auf der Spur gehalten werden. Erpressung, Nötigung sind die Schmiermittel unserer Gesellschaft und das schleichende Gift in jeder Suppe, die man uns auslöffeln lässt. Strukturelle Gewalt umgibt uns wie das Wasser die Fische, die dessen Existenz gerade wegen seiner „Selbstverständlichkeit“ schon nicht mehr bemerken.

Das Politiker-Syndrom

Jede gesellschaftliche Begegnung wird von Kategorien des Tauschhandels beherrscht, von dem Streben nach Materiellem und der Angst vor dessen Verlust. Über allem wachen Traditionen, Zwänge und Gesetze als Statusgaranten der Händlergesellschaft. Dieses destruktive Gesetz — gibt es eine Möglichkeit, sich seiner Herrschaft zu entziehen, ohne den gefährlichen Weg des gewaltsamen Umsturzes zu wagen? Franz von Assisi lädt uns zu einer paradoxen Intervention ein: Versuche nicht, materielle Güter, Status und Erfolg, die das „System“ dir vorenthalten hat, mit dessen eigenen Mitteln (Kampf, Wettbewerb) zurückzuerobern. Versuche, mehr (auf-) zu geben als man dir nehmen will. Gewinne mit diesem Totalverlust eine für die Seele so befriedende wie nach außen hin provokante Unabhängigkeit.

Dies sind aus meiner Sicht Bestandteile einer mystischen und authentischen, zugleich unangestrengt engagierten Lebensweise. Wir können nun umgekehrt fragen: Was steht einer solchen Lebensweise am meisten im Weg? Was sollten wir auf keinen Fall tun, wollen wir uns selbst, unser Selbst, bewahren? Besonders schädlich sind aus meiner Sicht:

* endlose Verstrickung in Kampfgetümmel,
* der verbissene Wunsch, Gegner „niederzuringen“,
* eine nicht integrierende, sondern ausschließende, „rechthaberische“ Geisteshaltung,
* ein zielorientiert durchorganisierter Alltag nach Kriterien des „Zeitmanagements“ und der Effienz,
* Überladensein mit intellektuellem Input aller Art (Informationen aus Print- und Online-Medien, Fernsehen und so weiter), so dass Selbstbesinnung schwer wird,
* der Wunsch „etwas zu werden“, um Macht über möglichst viele Menschen auszuüben (der Absicht nach: um diesen zu „helfen“),
* der Wunsch, gesellschaftlich etwas „darzustellen“, sich „beliebt zu machen“ als Basis zur Erreichung der angestrebten Posten,
* Orientierung an der gegebenen ökonomischen und gesellschaftlichen Realität als einzige Denk- und Handlungsgrundlage, die Annahme, der Mensch sei Quelle und zugleich einziges Ziel jeder Ethik, Rücksichtnahme auf „niedere“ Lebensformen (Pflanzen, Tiere, die Erde), aber auch auf „höhere“ Inspiration (theistisch gesprochen: auf Gott) sei also unnötig.

Politik ist anti-mystisch

Zusammengefasst ist dies die Beschreibung des politischen Charakters oder des Politiker-Syndroms. Politiker zu sein ist also die anti-mystische Existenzform schlechthin. Und dies gilt — das ist in diesem Zusammenhang wichtig — für linke Politiker nicht weniger als für rechte und neoliberale.

Bezüglich ihrer Mentalität und Lebensweise, ihrer fundamentalen Werte und Einstellungen gleichen die „Lager“ einander weitaus mehr, als sie sich voneinander unterscheiden. Linke, die sich ihrer Ideologie nach der „Sklavenbefreiung“ verschrieben haben, tanzen wie alle anderen „nach der Melodie der Herren dieser Welt“ (Dorothee Sölle). Sie sind selbst zu unfrei, um andere befreien zu können. Mag die Farbe ihrer geistigen Gestalt eine andere sein als etwa bei Neoliberalen, die Form ist doch die gleiche: jene der Rechthaberei, des Gewinnenwollens, des Zweckdenkens und pragmatischen Materialismus.

Linke sind stolz, dass sie sich an Bord des Staatsschiffs backbord, nicht steuerbord positioniert haben, haben aber insgeheim jede Ambition aufgegeben, den Kurs eines Schiffs mitzubestimmen, das seinen „alternativlosen“ Kurs auf den Eisberg unbeirrt fortsetzt. Linke Politiker meinen, „durch die Institutionen marschieren“ zu können; in Wahrheit sind die Institutionen längst durch sie hindurchmarschiert, haben sich in ihrem Geist breitgemacht und ihn deformiert. Die Volksvertreter meinen vielleicht subjektiv wirklich, das „unter diesen Umständen“ Richtige zu tun. Grundlage jeder Politik ist für sie stets „die Realität“. Realität aber ist nichts Fixes, sie ist etwas von Menschen aufgrund von Interessen und Machtstrukturen Erschaffenes. Wer sich ihr vermeintlich „anpasst“, stärkt und verewigt sie.

Er hilft, jenen Anpassungsdruck immer neu zu erzeugen, dem sich auch künftige Generationen werden unterwerfen müssen. Realpolitik dreht sich stets im kleinen Kreis des „Möglichen“ (also von den Mächtigen Erlaubten) und verschließt die Fenster vor jeglicher Frischluftzufuhr durch das Neue, Ungeahnte, nie Dagewesene. Politik, auch linke Politik, ist ihrem Wesen nach Selbstzensur mit der Machbarkeitsschere, institutionalisierte Perspektivenlosigkeit.

Das Neue, Heilsame, das was Gewohntes aufbricht und zum Aufbruch ermutigt – es wird nicht aus der Sphäre der Politik kommen. Vielmehr setzt es eine radikal unpolitische Lebenshaltung voraus:

* die Fähigkeit, sich Zwängen um der Selbstidentität willen zu entziehen;
* die Fähigkeit, Gegensätze zusammenzudenken und zu vereinigen, statt zu spalten;
* groß zu sein aus Demut und realistisch genug, um auch dem „Unmöglichen“ Einlass in den eigenen Geist zu gewähren;
* das Wissen um die Unauftrennbarkeit des Universums und allen Lebens;
* die Fähigkeit schließlich, in größeren Zusammenhängen und Synthesen zu denken und das kleine menschliche Schicksal als von höheren (oder tieferen) Kräften beeinflusst zu erkennen.

Man muss diese Geisteshaltung nicht „Spiritualität“ nennen. Es gibt wunderbare, sehr integre und engagierte Menschen, die sich selbst als irreligiös verstehen. Aber zu vielem, was heute Not tut, schafft Spiritualität eine besonders gut begehbare Brücke.

Sich selbst bewahren und widerstehen

Genau deshalb kann ein authentischer Papst – und ich halte Franziskus für einen solchen – freier sprechen als die Vertreter noch so wohlmeinender politischer Parteien. Religiöse Menschen – zumindest solche mit klarem ethischem Kompass – sind die letzten „Fundamentalisten“ in einer Welt, deren geistig-ethisches Fundament immer stärker wegbricht. „Fundamentalisten“ können irren, wie die grässlichen Taten islamistischer Fanatiker zeigen; eine Geisteshaltung ohne jedes Fundament dagegen ist von vornherein ein Irrtum, weil sie bewirkt, dass Menschen vom Wind wechselnder „Realitäten“ völlig haltlos mal hier- und mal dorthin geweht werden.

Der Kern jeden Widerstands liegt darin, sich selbst zu bewahren. Denn wer sollte sinnvollerweise widerstehen, wenn da eigentlich niemand mehr ist, der Stehvermögen besitzt. Dieses Selbst muss nicht, aber es kann durch Spiritualität gestärkt werden. „Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten“, formulierte es Goethe.

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