Die Angst vor dem Volksentscheid
Gegenwärtig bekennen sich, mit Ausnahme der CDU, alle Parteien im Bundestag zu direkter Demokratie als Ergänzung des parlamentarischen Systems. Ob SPD, Grüne, Linke, FDP, CSU oder AfD: Sie alle fordern die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden – zumindest in ihren Programmen. Doch immer, wenn es um eine konkrete Gesetzesinitiative in dieser Richtung ging, scheiterte das Vorhaben bislang. (Paul Schreyer, https://paulschreyer.wordpress.com)
Als sich nach der Bundestagswahl 2013 bei den Koalitionsverhandlungen eine überraschende Allianz aus SPD und CSU bildete, um Volksabstimmungen gesetzlich zu ermöglichen, bremste Kanzlerin Merkel entschieden, was selbst die konservative Welt zu der Überschrift veranlasste: „Die Angst der CDU vor dem Willen der Deutschen“. Der Konflikt mit der bayerischen Schwesterpartei spitzte sich während der Koalitionsverhandlungen auf die Frage zu, ob die CDU die Maut akzeptieren würde oder eben Volksentscheide im Bund. „Um direkte Demokratie zu verhindern“, so der Focus, habe sich Merkel dann auf die umstrittene Maut eingelassen. Dass sie damit ganz offen und für jeden sichtbar ein Wahlversprechen brach („Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben“), deutet an, wie wichtig ihr und ihrer Partei die Ablehnung war.
Zuletzt beantragte die Linke im Juni 2016 im Bundestag die Einführung einer Volksgesetzgebung. Vor weitgehend leerem Haus – nur etwa drei Dutzend Abgeordnete nahmen an der Abstimmung teil – wies damals nicht nur die CDU den Vorschlag ab, sondern auch ihre Koalitionspartner CSU und SPD, die laut ihren Programmen ja eigentlich dafür sind. Sie beriefen sich auf ihren mit der CDU geschlossenen Koalitionsvertrag, der sie verpflichtete, einheitlich zu votieren.
Die Grünen enthielten sich der Stimme, da ihnen die Beteiligungsschwelle der Linken (eine Million Unterschriften für ein Volksbegehren) zu niedrig war. Ihrer Ansicht nach bräuchte es drei Millionen Unterschriften (5 Prozent der Wahlberechtigten). Auch einige weitere Einschränkungen wären nötig, wie der grüne Abgeordnete Özcan Mutlu in der Debatte vor der Abstimmung anmerkte:
„Ein weiterer Punkt in Ihrem Gesetzentwurf, dem wir nicht zustimmen können, ist, dass Sie verbindliche Volksabstimmungen zu sämtlichen Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union vorsehen. Als proeuropäische Partei lehnen wir diese Regelung ab, da wir die im Grundgesetz verankerte tiefere Integration von Europa wollen. Dass das auch wichtig ist, zeigt sich, wenn man bedenkt, was für eine antieuropäische Stimmung derzeit in vielen Ländern und teilweise auch in unserem Land herrscht.“
Das heißt, man möchte das Volk zwar schon abstimmen lassen, nur eben nicht bei einem Thema, wo man vermutlich anderer Ansicht als die Mehrheit ist. Das ist einigermaßen originell und erinnert an eine Aussage Adolf Hitlers von 1937:
„Sollte aber irgendein notwendiger Entschluss (vom Volk) nicht begriffen werden, (…) dann tritt die Autorität der Vernunft in Erscheinung und sagt: Es wird nicht verstanden, es wird aber gemacht.“
Die Argumentation ähnelt an dieser Stelle auch der CDU-Begründung. Deren Abgeordneter Tim Ostermann, ein promovierter Jurist, meinte vor der Ablehnung des Antrags der Linken im Bundestag:
„Unser System, die repräsentative Demokratie, zeichnet sich durch große politische Stabilität aus. Viele Entscheidungen waren zu der Zeit, als sie getroffen wurden, überaus unpopulär. Ich erinnere zum Beispiel an die Entscheidung über die Westbindung, den NATO-Doppelbeschluss und die Einführung des Euro. Das alles sind allerdings Beschlüsse, die sich recht schnell als Segen für unser Land erwiesen haben. Unsere Vorgänger im Bundestag haben damals Rückgrat bewiesen und entgegen der damals vorherrschenden Meinung in der Bevölkerung richtig entschieden.“
Mit anderen Worten: Die Abgeordneten sind einfach klüger als das Volk. Eine recht mutige These. Dass das Parlament „richtig“ entschieden hätte, die Geschichte also die Weisheit der Beschlüsse „bewiesen“ habe, ist ein gewagter Zirkelschluss. Es lohnt sich dabei, das Argument des CDU-Politikers einmal zu Ende zu denken. In was für einem Deutschland würden wir heute leben, wenn damals über viele der strittigen Grundsatzentscheidungen direkt das Volk abgestimmt hätte?
Man darf spekulieren: 1948 wäre sicher mehrheitlich für eine vereinigte Nation gestimmt worden, die blockfrei und neutral zwischen den USA und der Sowjetunion steht (ähnlich wie es in Österreich der Fall war). Die Montanunion, also die internationale Hoheit über die Stahlindustrie und Keimzelle der späteren EU, wäre wahrscheinlich abgelehnt, stattdessen eine Vergesellschaftung der Stahlindustrie befürwortet worden (wie es 1948 in Nordrhein-Westfalen vom Landtag beschlossen wurde). Die Wiederbewaffnung der 1950er Jahre hätte wohl ebenfalls keine Mehrheit gefunden.
Die naheliegende Schlussfolgerung ist damit ganz anders, als von der CDU gedacht: Sofern eine Regierung diese Beschlüsse gegenüber den Großmächten hätte durchsetzen können, dann wäre Deutschland wahrscheinlich zu einem sehr attraktiven Modell für viele Länder geworden – entmilitarisiert, neutral, eine Schlüsselindustrie in öffentlicher Hand, kurzum: ein Staat, der tatsächlich etwas aus seiner Geschichte, den Krisen und Kriegen gelernt hat. Mit dem „Segen für unser Land“, von dem der CDU-Abgeordnete bei seiner Ablehnung von Volksentscheiden sprach, ist es also so eine Sache. Man kann mit guten Argumenten darüber streiten.
Ein Hinwegsetzen über den Willen der Mehrheit zum Gütesiegel zu erklären, nach dem Motto: „Seid bloß dankbar, dass damals keiner auf euch gehört hat“, ist nicht nur erstaunlich demokratiefeindlich und arrogant, sondern auch blind für die Potenziale der Geschichte. Die schon von Hitler beschworene „Autorität der Vernunft“, der alle zu „gehorchen“ hätten, stammt aus der Ära der Feudalherren und Kaiser. Wer heute noch auf dieser Basis argumentiert, der hat, so darf man wohl sagen, den Anschluss verloren. Im Grunde ist es auch müßig, für Volksentscheide umständlich zu werben und sie als positiv anzupreisen. Laut Grundgesetz, Artikel 20, ist das Volk die höchste Instanz im Staat, von dem „alle Gewalt“ ausgeht. Dieses „mächtige“ Volk nicht direkt über Beschlüsse abstimmen zu lassen, ist widersinnig und absurd.
(Dieser Text ist ein Auszug aus Kapitel 7 meines neuen Buches „Die Angst der Eliten“. Er erschien auch im Magazin Rubikon.)