Die hässliche Welt
Wenn wir nach ästhetischen Werten leben, wird das Leben angenehmer und leichter. Wohin man auch blickt, dominieren Zweckmäßigkeit und ökonomische Erwägungen die Welt, in der wir leben. Vollkommen unter die Räder kommt dabei das ästhetische Wohlbefinden der Menschen, das sich eben nicht beziffern lässt, aber einen bedeutenden Beitrag zu Gesundheit und Lebensqualität leistet. Gestalten wir die Welt nach den Prinzipien der Schönheit, könnte sie lebenswerter werden und die Zufriedenheit der Menschen zunehmen. Felix Feistel
Wenn man mit offenen Augen durch Deutschland fährt oder geht, dann sieht man vor allem Gebäude, Gewerbegebiete, Fabriken, Straßen, Autobahnen, Hochspannungsleitungen, Funkantennen und Hochhäuser. Kaum ein Flecken Erde ist von menschlichem Eingriff verschont. Überall, selbst inmitten von Wäldern oder dem Gebirge, findet man Zeugnisse modernen menschlichen Lebens, welche oft wie hässliche Flecken die schöne Umgebung verschandeln. Auch die Städte sind meist von trübem Grau. Mietskasernen und Schlafstädte, Hochhäuser aus Glasfassaden auf Stahlgerüsten, Beton und Asphalt, wohin man schaut. Dazwischen finden sich Werbeschilder, Leuchttafeln und Hinweise auf den nächsten McDonalds oder Burger King. Überall wird man zum Konsum aufgefordert, wird das nächste Auto, Handy oder ein Modetrend als neuer, großer Heilsbringer angepriesen.
Die industrialisierte und kapitalisierte Welt ist von einer deprimierenden Zweckmäßigkeit. Alles, die Wohnräume, die Arbeitsumgebung und der Transport, wird einzig nach Kriterien der Zweckmäßigkeit, nach einer Kosten-Nutzen-Abwägung eingerichtet. Seien es die Architektur, der Transport oder auch die Landwirtschaft — alles ist an kapitalistischen, industriellen Standards ausgerichtet. So entsteht eine Massengesellschaft von der Stange, die Menschen in graue Betonklötze sperrt, ihnen Straßen bis vor die Haustür asphaltiert, über die dann lärmende Autos rasen. Das ganze menschliche Leben kommt mittlerweile aus Fabriken. Kleidung, Möbel, Gebrauchsgegenstände, alles wird nach industrieller Logik verfertigt, transportiert und verkauft.
Leben aus der Dose
Sogar die Lebensmittel werden in Reih und Glied auf das Feld gepflanzt, in Massenabfertigung mit Chemikalien überschwemmt und mit industriellen Maschinen geerntet, in Fabriken geliefert und weiterverarbeitet. Ein großer Teil wird in Packungen, Kisten und Dosen abgefüllt. Fisch und Fleisch wie auch Gemüse gibt es aus dem Glas oder der Konserve. Das hat zwar den Vorteil, dass sie lange haltbar sind, doch wirklich nahrhaft ist das Ganze nicht mehr. Auch kann man Dosen, Kisten und Packungen gut stapeln und über weite Distanzen transportieren. Man kann den Inhalt in großen Mengen industriell herstellen und erhält in jedem Winkel der Welt gleichbleibende — oft fragwürdige — Qualität, doch handelt es sich um Massenware, die auf die Bedürfnisse des Einzelnen nicht abgestimmt ist.
Auch die Freizeit verbringen Menschen oft in Dosen. Sie starren in dosenähnliche Endgeräte hinein, betrachten in den winzigen Fenstern Videos und Filme, die ebenfalls nach einem Kosten-Nutzen-Denken produziert werden. So wird Kultur erzeugt, die den größtmöglichen Absatzmarkt findet, also eine große Schnittmenge an Menschen abdeckt. Diese wiederum passen ihren Geschmack mangels Alternativen an das Angebot an. So entsteht ein Massengeschmack, der gut vorhersehbar und daher an industrielle Standards angepasst ist. Die von Adorno und Horkheimer als Kulturindustrie beschriebene Unterhaltungsindustrie kann diesen Massengeschmack kostenschonend bedienen. So ist auch die Unterhaltung und Ablenkung von der eintönigen Gleichförmigkeit eintönig und gleichförmig und spiegelt nicht die Individualität der Menschen wider.
Ähnlich verhält es sich mit der Kleidung. In großen Fabriken wird massenweise Kleidung in Einheitsgrößen gefertigt. Das hat den Vorteil, dass Kleidung heute so billig ist wie nie zuvor in der Geschichte menschlicher Zivilisationen. Doch die Einheitsgrößen haben den Nachteil, dass sie selten perfekt passen. Immer ist etwas zu groß oder zu eng geschnitten, hier zu kurz, dort zu lang, passen der Stoff oder die Farbe nicht. So produziert die industrialisierte Massengesellschaft schließlich Güter für alle, die gleichzeitig für niemanden mehr ideal geeignet sind. Das Individuum geht in der Massengesellschaft unter.
Auch das ganze menschliche Leben kommt aus der Konserve. Ein einheitliches Massenleben mit Schule, Ausbildung, Beruf, Rente und Tod und hin und wieder ein Pauschalurlaub oder der vollkommen unindividuelle Individualtourismus, der stets nur dem neuesten Trend folgt.
Die Massengesellschaft sieht für alle Menschen den gleichen Lebensweg in nur leichter Variation vor und suggeriert auf diese Weise einen Individualismus, wo es in Wahrheit nur einen großen Einheitsbrei gibt.
Büros, Fabriken, Wohnungen, alles wird übereinander gestapelt und hintereinander gereiht, ist in einheitlichen Grautönen gehalten und variiert auch in der Architektur kaum voneinander. Der Bauhausstil hat zur Degradierung der Architektur auf eine reine Zweckmäßigkeit geführt, die von einer deprimierenden, gesichtslosen Langeweile ist.
So ist die industrialisierte Welt von ausnehmender Hässlichkeit: Die Städte sind grau, die Straßen breit und laut; und so sind auch die Menschen grau und leben ein Leben in bescheidener Mittelmäßigkeit, fügen sich in die hässliche Umgebung ein, gewöhnen sich daran und entfernen sich auf diese Weise auch immer weiter von der Natur, der sie entstammen. Die Städte werden zu künstlichen, abgeschotteten Lebensräumen, die ganz und gar lebensfeindlich sind. Das führt zu Depressionen und Aggression und ja, auch zu Kriminalität. Es ist wenig verwunderlich, dass Menschen, die in den hässlichsten Gegenden leben, auch nicht selten ein hohes Aggressionspotenzial in sich tragen und die Kriminalität in solchen Vierteln sehr hoch ist. Seien es die Pariser Banlieues, die schäbigeren Teile des Ruhrpotts oder Berlins, die Favelas in den südamerikanischen Megacitys: All diese Orte fallen hauptsächlich durch ihre depressive Grundstimmung auf. Und natürlich hat auch Armut ihren Anteil daran. Denn arme Menschen können sich das Leben nur in diesen Gegenden leisten. Doch dadurch, dass diese Gegenden ohnehin schon so heruntergekommen, grau und trostlos sind, ist die Hemmschwelle zu weiterer Zerstörung geringer.
Dies wurde als die „Broken Window“-Theorie bekannt. Orte, an denen durch Sachbeschädigung und Leerstand bereits der Verfall Einzug hält, ziehen weitere Zerstörung, Kriminalität und noch mehr Verfall an.
Wenn man also armen Menschen hässliche Wohntürme hinstellt, die grau in grau vollkommen farb- und trostlos ineinander übergehen, dann zieht das Kriminalität, Verfall und Zerstörung an. Das Gewaltpotenzial steigt, die Hemmschwelle zur Kriminalität und zur Gewalt sinkt, die Menschen werden depressiver und geraten in einen Strudel, der sie immer weiter nach unten zieht. Die Hässlichkeit der modernen Industriegesellschaft ist also zumindest zum Teil für das Elend dieser Welt mitverantwortlich.
Artgerecht leben
Diese nicht „artgerechte Haltung“ des Menschen hat mit einem würdevollen Leben nichts mehr zu tun. Der Mensch erniedrigt sich selbst um des Komforts und der Massenversorgung willen. Er lebt entkoppelt von der Natur. Sie ist jedoch voller Schönheit: Bunte Fischschwärme, Seeanemonen, Krebse und majestätisch schwebende Quallen sind überall zu finden. Die Ozeane sind erfüllt von dem Gesang der Wale, mit dem sie sich über Hunderte Kilometer hinweg verständigen. Auch die Wälder sind voll von Gesang; gerade im Frühling geben die Vögel imposante Konzerte. Bäume und Blumen blühen in den buntesten Farben, die bis weit in den Herbst hinein in wechselnder Zusammensetzung die Natur beherrschen.
Bäume, Blumen, Pilze und Früchte verströmen wohltuende Düfte, welche manchmal auch heilsame Wirkung auf Mensch und Tier haben. So gehört die Schönheit in der Natur zum Leben dazu.
Beim Menschen hingegen ist sie etwas Ausgesondertes, Eigenständiges. Man geht ins Museum, ins Konzert oder Theater, um Schönheit zu erleben, reist in fremde Länder oder unternimmt Wanderungen in der Natur. Dann erholt sich der Mensch von der Hässlichkeit der Städte, in denen er lebt. Instinktiv weiß der Mensch auch, dass er diese Schönheit benötigt. Er holt sich Blumen in seine Wohnung, und zwingt ihnen sein Leben in und aus der Dose auf, stellt sie in Töpfe, sodass sie sich nicht miteinander verbinden können, oder von ihren Wurzeln getrennt in Vasen, wo er ihnen dann in romantisch verklärtem Gefühl beim Sterben zusieht.
Auch versucht der Mensch, die Natur nachzuahmen. Künstliche Aromen im Essen, künstliche Farben an der Wand; die Natur wird auf gewisse Merkmale reduziert, die dann mit industriellen Herstellungsmethoden produziert und nach Profiterwartungen vermarktet werden. Er macht sich die Prinzipien der Natur zunutze für seine technischen Entwicklungen und die immer neuen Konsumgüter. Die Elastizität des Spinnennetzes, die Aerodynamik der Haut eines Hais, all diese Dinge werden kopiert und für die Herstellung neuer Geräte und Ausrüstung benutzt. Dabei kann die Schönheit der Natur nicht imitiert, ihr Wert nicht verkauft werden. Daher reichen die künstlichen Erzeugnisse auch nicht an sie heran.
Doch ist der Mensch durchaus in der Lage, selbst Schönheit zu erzeugen. Große Maler haben beeindruckende Gemälde von hoher Ästhetik geschaffen, Komponisten Stücke, die sich zu vollendeter Erhabenheit erheben. Caspar David Friedrich, William Turner, Felix Mendelssohn, Richard Wagner, Wolfgang Amadeus Mozart oder Ludwig van Beethoven — sie vermochten es, auf eigene Weise Schönheit zu kreieren. Auch Dichter wie Goethe oder Schiller reihen Worte in gekonnter stilistischer Raffinesse aneinander. Bildhauer schaffen aus einem Stück Stein detaillierte Skulpturen, welche die Natur zu schaffen nicht imstande wäre. Der Mensch als Künstler reiht sich so in die Natur nahtlos ein, lässt sich von ihr inspirieren und anregen, seine eigene Schöpfung zu schaffen.
Wenn der Mensch also in der Lage dazu ist, dann könnte er sich mehr auf die Schönheit als Wert fokussieren. Der reine Profit, der Verdienst und das Einkommen als Wert haben eine Welt schrecklich grauer Depressivität erschaffen. Stellen wir die Schönheit als Wert in den Mittelpunkt, dann können Lebensräume entstehen, in denen man gerne lebt. Die grauen Städte mit monotoner Einheitsarchitektur könnten zu bunten Orten voller Lebendigkeit und Kreativität werden. Anstatt zweckmäßigem Bauhausstil mit seiner formvollendeten Künstlichkeit könnten wieder vermehrt natürliche Materialien Einzug in die Architektur halten; künstlerische Verzierungen und bunte Farben würden die Architektur erweitern und bereichern. Anstatt Verkehrs- und Fluglärm könnte Musik die Straßen füllen.
Solche Veränderungen würden auch die Gesundheit der Menschen fördern. Denn schon lange weiß man, dass Kühe, die mit klassischer Musik beschallt werden, mehr und bessere Milch geben, wohingegen die Milch von Tieren in Massentierhaltung von schlechter Qualität ist. Das sagt viel über die Gesundheit und das Wohlbefinden der Kühe aus, die das mit ihrer Milch weitergeben.
Auch auf Wasser hat Musik einen Einfluss. So spiegelt sich die Schönheit klassischer Musik in der Struktur des damit beschallten Wassers wider, wohingegen Lärm die Struktur des Wasser zerreißt. Dasselbe lässt sich für Blutstropfen beobachten. Es braucht nur wenig Vorstellungskraft, um sich auszumalen, dass damit auch eine Auswirkung auf die menschliche Gesundheit verbunden ist. Nicht umsonst sterben Menschen, die an vielbefahrenen Autobahnen wohnen, in der Regel früher als diejenigen, die in ruhigen Gegenden wohnen – womit auch die Armutsfrage wieder verbunden ist.
Wenn sich aber die Schönheit der Musik schon positiv auf die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirkt, dann könnten die Ästhetik der Umgebung, der Geruch von Blumen oder dem Meer oder der wunderbare Geschmack einer natürlichen Frucht dasselbe tun. Eine Welt, die auf dem Prinzip der Schönheit beruht, wäre eine, in der die Menschen zufriedener und gesünder sind und damit auch friedlicher. Doch solange wir im Kapitalismus leben, wird das Prinzip Schönheit auf die Kunst reduziert und in Museen oder Konzertsäle verbannt sein. Selbst Gegenden, die gemeinhin als bessere Viertel bezeichnet werden, sind bei genauerer Betrachtung nicht schön, denn auch hier werden quadratische, schmucklose Gebäude aus Beton und Kunststoff gebaut und in einheitlichen Farbtönen angemalt. Quadratische Monotonie herrscht damit auch in den Vorstädten.
Dass das auch anders sein kann, zeigt die Architektur vergangener Epochen. Noch heute bewundern wir antike Bauten wie die ägyptischen Pyramiden und mittelalterliche Städte. Epochen wie die imposante Gotik, die Romantik, der Barock oder der Jugendstil haben ihren eigenen Zugang zur Schönheit gefunden; ihren Wert schätzen wir auch heute noch so sehr, dass wir versuchen, die Zeugnisse dieser Zeiten zu erhalten.
Von unserer heutigen Epoche wird hingegen nichts Erhaltenswertes übrig bleiben. Denn neben einer Erosion der Ästhetik findet auch ein Niedergang des Bauens als Kunst statt. So sind heutige Gebäude oftmals aus billigen Materialien gefertigt, die nach kurzer Zeit erneuert werden müssen, wenn die Gebäude bewohnbar bleiben sollen. Auf diese Weise erhält die kapitalistische Maschinerie sich selbst.
Das Verständnis von Handwerk und Bauarbeit als Kunst — im französischen Wort für Handwerk „artisanat“ steckt sie noch, „art“, die Kunst — ist vollkommen verloren gegangen. Beides ist heute eine reine Zweckmäßigkeit, die irgendjemand ausführen muss, wollen die Menschen ein Dach über dem Kopf haben oder ihre Büros irgendwo unterbringen. Es sind zudem Berufe, die kaum noch Anziehungskraft entfalten können, was wenig verwunderlich ist, wenn man den ganzen Tag hässliche Einkaufszentren aufschichten soll. Die magere Bezahlung und starke körperliche Belastung tun ihr Übriges.
Ein gesamtgesellschaftlicher Wandel hin zur Schönheit und Ästhetik ist nicht zu erwarten. Zu sehr ist der Gedanke der Zweckmäßigkeit den Menschen eingeprägt, zu sehr unsere ganze Gesellschaft an industriellen Standards ausgerichtet. Schönheit muss man sich heutzutage auch erst einmal leisten können, sie wird dem Materiellen untergeordnet.
Doch jeder kann individuell anfangen, der Schönheit mehr Raum in seinem Leben zu geben. Sei es, die eigene Wohnung zu dekorieren, Kunst zu schaffen, Musik zu lauschen oder sich mit anderen zusammenzutun, um Schönheit zu erschaffen.
Nachbarn könnten die Straße verschönern, Kollegen das Büro, Lehrer die Schulen. Auch ergäbe es Sinn, die Natur mehr in die Stadtplanung zu integrieren, ihr mehr Raum zu geben, sodass Mensch und Natur nicht voneinander isoliert anzutreffen sind, sondern zusammen.
Auch in den Berufen, die etwas außerhalb der Industrie herstellen, könnte die Ästhetik mehr Beachtung finden. Wie kunstvoll das Handwerk sein kann, lässt sich in Museen regelmäßig bestaunen. Warum soll dies aber nur in den Museen zu finden sein und nicht auch in unser aller täglichem Leben? Warum sollen wir in quadratischen Wohnbunkern wohnen, wenn wir stattdessen die vielfältigen Formen der Natur in die Architektur übertragen könnten?
Schönheit ist ein wichtiger, an sich nicht materieller Wert. Sie ist nicht messbar, kann nicht normiert oder industrialisiert werden. Dennoch ist sie unverzichtbar für den Menschen. Der Weg in eine bessere, lebenswertere Gesellschaft führt also auf jeden Fall auch über die Schönheit.