Die Halle der lebenden Toten

 In Allgemein, Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

lanparty„Unvernünftige Eltern produzieren heute um ein Vielfaches mehr Jugendliche als unsere Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten jemals wird verwerten können.“ Tja uns was fangen wir dann mit dem ganzen überschüssigen Jugendlichenmaterial an? Die meisten der jungen Leute um die 20 haben die Antwort darauf längst selbst gefunden: Sie verbringen den Großteil ihres Tages vor diversen flimmernden Bildschirmen, vernachlässigen dabei ihren Körper und ihr soziales Leben. Die Offline-Welt hat wenig zu bieten, was sie von der Online-Welt weglocken könnte. Höchste Zeit, eine tragfähige gesamtgesellschaftliche Lösung für unser Jugendlichenproblem zu finden. Anna, die Freundin unsere Erzählers, eines freiberuflichen Journalisten, ist Sozialpädagogin und in wechselnden sozialen und pflegerischen Einrichtungen tätig. Ihr neuester Job ist für den Liebsten allerdings eine echte Überraschung: eine stationäre Aufbewahrungs- und Pflegeanstalt für Spielsüchtige. Zweifellos wird mit dieser relativ neuen Einrichtung unser gut funktionierendes Sozialsystem auf zeitgemäße Weise erweitert. (Satire: Roland Rottenfußer)

„Komm doch einmal mit, wenn Tag der offenen Tür ist“, schlug mir Anna vor, als sie merkte, dass mich die Geschichte mit dem Game-Junkie-Pflegedienst zunehmend faszinierte. Anna arbeitete seit einigen Wochen nicht mehr im ambulanten Dienst, sondern in einer stationären Aufbewahrungs- und Pflegeanstalt für Spielsüchtige. „Es ist alles viel einfacher hier, großartig organisiert, und eine Erleichterung, sowohl für die Insassen als auch für das Pflegepersonal.“

„Game Hospital“ (GH) hieß das Zentrum, und nach der Eigenwerbung zu schließen verbarg sich hinter diesem schlichten Namen der Traum eines jeden passionierten Game-Junkies. 24-Stunden-Betreuung, Computerwartung, Health- und Foodcare mit inbegriffen, hieß es in dem Prospekt – und alles für einen Pflegesatz von nur 350 Euro monatlich. Durchaus erschwinglich für relativ wohlhabende Eltern, die sich ihres „Jugendlichenproblems“ so auf elegante Weise entledigen konnten.

Auf den Schock, der mich dann bei meinem Besuch im Game Hospital erwartet, hatte mich allerdings nichts vorbereiten können. Ein Saal – ungefähr dreimal so groß wie eine Mehrzweck-Turnhalle, darin auf vier Ebenen dicht gedrängt mehrere hundert Computerarbeitsplätze, jeder belegt mit einem Jugendlichen, der regungslos auf seinen Bildschirm starrte. Nur die Finger auf der Maustaste schienen in beständiger hektischer Bewegung zu sein. Die Vielzahl der blinkenden, in allen Farben oszillierenden Bildschirme und die starke Strahlung, die von den Computern ausging, erzeugten in mir eine unwillkürliche Nervosität, und ich ertappte mich dabei, wie ich die Augen zusammenkniff und mir mehrfach die Nase rieb.

Die Qualität der Luft in der Jugendlichen Aufbewahrungshalle war dagegen gut, was wohl der funktionierenden Belüftungs- und Klimaanlage zuzuschreiben war. Die schummrige Beleuchtung tauchte die ganze Szenerie in ein bläulich schimmerndes Halbdunkel. Da die Ebenen, auf denen die Rechner und die Stühle der Jugendlichen untergebracht waren, ähnlich wie in einer Legebatterie, aus Metallgittern bestand, konnte man durch die Lücken zwischen den Gittern bis hinauf in die oberste Ebene blicken. Ein dissonantes Konzert beständiger Surr- und Piepstöne verdichtet sich zu einer eindrucksvollen Geräuschkulisse. Es war, als habe man Tonaufnahmen aus dem Inneren eines Bienenschwarms mit jenen aus einer Spielautomaten-Halle zusammengemischt.

Der Leiter der Anlage, Axel Wief, führte mich zusammen mit einer Gruppe interessierter Eltern sachkundig herum. Anna hatte mich als den „besorgten Vater eines 17-jährigen“ zu der Führung angemeldet und mich gebeten, niemandem zu verraten, dass ich das Game Hospital eigentlich nur aus Neugier besichtigen wollte. „Schauen wir uns einmal die Funktionsweise eines Game Place genauer an“, forderte uns Wief in seinem für einen Mann überraschend hohen, leicht schnarrenden Tonfall auf. „Kernstücke sind natürlich der Rechner selbst und der nach modernsten Kid-Care-Gesichtspunkten angefertigte Game Chair.“ Axel Wief erläuterte nun die links und rechts des Kopfes angebrachten Sichtblenden, die eine Ablenkung der Spieler durch optische Reize aus den Augenwinkeln verhindern sollten.

„Die Stühle sind mit Hilfe einer einfachen Taskleiste an der linken Armlehne mühelos in den Sleep Modus zu überführen. Ich führe das jetzt nicht vor, damit der Spieler nicht gestört wird, aber Sie können es sich vorstellen. Der Game Chair wird in eine waagrechte Lage gebracht. Gleichzeitig verdunkelt sich der Bildschirm, und über die Armkanülen wird ein leichtes Sedativum injiziert, das den Schlaf begünstigt. Zu einem vom Spieler per automatischer Weckfunktion gewählten Zeitpunkt, wird der Wake Modus reaktiviert, d.h. der Stuhl wird wieder in aufrechte Lage gebracht, ein belebendes Mittel wird injiziert, der Spieler wird über den Display über den aktuellen Stand seines Spiels gebrieft, und es kann weitergehen.“

Erst jetzt bemerkte ich das durchsichtige Schläuchlein, das am linken Arm des Spielers fest installiert und mit einer kastenförmigen Apparatur verbunden war. In Schüben bewegte sich gerade in diesem Moment Moment eine hellgelbe Brühe aus dem Kasten in Richtung des Armes. „Eine regelmäßige Food Care-Maßnahme“, erklärte Wief. „Die Spieler bekommen viermal täglich eine Injektion mit allen überlebenswichtigen Stoffen, Vitaminen, Spurenelementen, Mineralien usw. Außerdem ein sättigendes Mittel, das das Hungergefühl bekämpft, für Spieler, die so konzentriert sind, dass sie unsere Self Service Unity nicht mehr ausreichend nutzen.“

Die Self Service Unity? Ich bemerkte ein schmales Fließband, das über dem Schoß der Jugendlichen und unterhalb des Keyboards angebracht war. Darauf bewegten sich abwechselnd Dosen mit Cola-Mix oder Eistee sowie Chipstüten und Schokoladenpuddig mit Sahnehäubchen in kleinen Plastikschälchen an den Spielern vorbei. Gelegentlich griff einer der Spieler nach einer Chipstüte, öffnete sie einhändig mit geübtem Griff und stopfte sich ein paar Chips in den Mund, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden. Chips und Cola tröpfelten dabei auf seine Hose oder auf den Boden, was der Spieler gar nicht zu bemerken schien. Als ich einem herunterfallenden penetrant nach Cheese & Onion duftenden Chip mit dem Blick folgte, bemerkte ich ein zweites Fließband, das zu Füßen der Jugendlichen alles Heruntergefallene aufnahm und zu einem Loch in der Hallenwand transportierte.

„Das sind zwei unserer Versorgungsbänder. Ein drittes gibt es auch noch, aber mit dem wollen Sie sicher nicht so genau Bekanntschaft schließen.“ Axel Wief lächelte bei diesen Worten mit dem für ihn charakteristischen antrainierten Charme. „Sie verstehen mich. Das was oben reinkommt, muss natürlich irgendwie auch unten wieder rauskommen. Aber Sie können mir vertrauen, dass unsere Spezialstühle auch für dieses Problem bestens ausgerüstet sind. Oder können Sie sich in unserer Anlage über irgendwelchen strengen Gerüche beklagen?“

Die Anwesenden verneinten diese Frage wahrheitsgemäß.

„Unsere Hygiene-Unities arbeiten mit Unterdruckschläuchen, die nachrutschende Verdauungsprodukte aktiv ansaugen und so verhindern, dass sich etwas ansammelt, das dann zu den bei Pflegebedürftigen bekannten Entsorgungsproblemen führen könnte. Unsere Wartungskräfte sind auf dieses Weise eigentlich weniger Pfleger als Care-Manager, die organisatorisches, pflegerisches und technisches Knowhow miteinander verknüpfen.“ Als ich in diesem Moment zu Anna hinüberblickte, glaubte ich einen Anflug von Stolz in ihrem Gesicht zu bemerken.

Axel Wief hatte die Frage, die schon die ganze Zeit in mir rumort hatte, glänzend beantwortet, bevor ich sie stellen musste. Dafür kam mir noch eine andere Frage: „Aber wer wäscht die Spieler, wenn sie nicht bereit sind, von ihrem Platz aufzustehen. Ich kann auch in dieser Hinsicht keine unguten Gerüche feststellen.“

„Ich danke Ihnen für die Frage“, antwortete Wief, gut vorbereitet, „und für Ihre Bemerkung, die ich als Lob für die exzellente Hygieneversorgung in unserer Anlage auffassen darf.“ Im Normalfall erfolgt die automatische Leibwäsche bei unseren Klienten einmal pro Tag, das Zähneputzen sogar zweimal täglich und die Rasur – bei männlichen Spielern, in der Regel sind es Jungen – alle drei Tage. Ich darf Ihnen das hier gleich einmal vorführe, da ich den Spieler mit dieser kleinen Demonstration nicht übermäßig aus dem Takt bringen werde.“

Wief schaltete die zentrale Steuerungseinheit offenbar auf Autopilot und drückte ein paar Knöpfe. Mit einem leisen Surren teilte sich der Gummianzug des Spielers in zwei Hälften, fiel von den Armen und Beinen ab und verschwand mit einem Ansauggeräusch in einer Öffnung im Stuhl. Der nunmehr völlig nackte Spieler wurde nun aus verschiedenen Düsen mit seifigem Wasser besprüht, mit flink über seinen untrainierten, bleichen Körper spazierenden Bürsten traktiert und am Ende mittels eines geräuschvoll schlürfenden Gebläses abgetrocknet. Der Anzug entstieg nun wieder vollautomatisch seinem Versteck irgendwo in den Tiefen des Game Chairs und schloss sich wie von Geisterhand um den Körper des Spielers, der von dem ganzen Vorgang völlig unberührt geblieben war. Er hatte seine Augen keinen Augenblick vom Bildschirm abgewendet, auf dem gerade zwei Roboter-T-Rexe mehrere Zombies zwischen ihren mächtigen Kiefern zermahlten, so dass dem Betrachter Blut und Eingeweide entgegen quollen. Wegen der ausgezeichneten, beinahe spielfilmfähigen Grafik von „Cannibal Zombie World 6 – die Halle der lebenden Toten“ – konnte man sich der Drastik der dargestellten Szene nur schwer entziehen, und einige besonders feinfühlige Mütter unter den Zuschauern zuckten denn auch merklich zusammen.

„Machen sich die Betreiber des Game Hospitals“ eigentlich jemals Gedanken darüber, was unseren Kindern da vorgeführt wird?“, traute sich eine 40-jährige Frau zu fragen.

„Madame, es ist nicht unsere Aufgabe, die Games zu zensieren oder auf ihren künstlerischen Gehalt hin zu untersuchen“, antwortete Wief. Nach seinem Tonfall zu schließen, war er über die Frage etwas pikiert und nicht gewöhnt an irgendeine, wenn auch noch so zaghafte Form von Kritik. „Wir richten uns bei der Auswahl ganz nach den Wünschen unseres Klientels, und „Cannibal Zombie World 6“ gilt nun einmal in der Game-Szene als Klassiker, weshalb wir es auch selbstverständlich im Angebot haben.

„Gibt es eine zeitliche Begrenzung für den Aufenthalt in Ihrem Game Hospital?“, fragte ein Mann.

„Die Grenzen sind höchstens finanzieller Natur. Ansonsten kann ein Jugendlicher meinethalben hier bleiben, bis er dem Stadium eines Jugendlichen längst entwachsen ist und …“ Axel Wief lächelte im voraus über den gelungenen Witz, der jetzt kommen würde „… sozusagen bis der Tod ihn und das Game scheidet. Wir haben noch keine Erfahrung mit Aufbewahrungszeiten von mehr als 1 ½ Jahren – so lange existiert unser Hospital –, in dieser Zeit ist es allerdings nie vorgekommen, dass ein Jugendlicher den freiwilligen Ausstieg aus dem Spiel gefordert hätte. Sie müssen bedenken: Unsere Installation ist die Erfüllung der kühnsten Träume aller dieser Jugendlichen. Keine lästigen Unterbrechungen des Spiels durch Eltern, die ihnen Moralpredigten über so genannte Spielsucht halten. Keinerlei Verpflichtung, sich am sozialen Leben und an der unwürdigen Hetzjagd des Broterwerbs zu beteiligen. Unbeschränkter Nachschub an Chips und Cola und keine Vorwürfe wegen mangelnder Aufräummoral. Tag und Nacht nur das Spiel, das Spiel und wieder das Spiel, nur unterbrochen durch das gelegentliche lästige Bedürfnis des Körpers nach Schlaf. Sogar an die Übermüdung der Augen ist gedacht. Das Augensekret wird vollautomatisch alle drei Minuten in beide Augenwinkel geträufelt. Das Spiel ist das Leben dieser Jungendlichen, und es gibt kein Leben außerhalb des Spiels.“

„Ist denn schon einmal ein Jugendlicher während des Spiels gestorben?“, will ich wissen.

„Nun ja, nicht direkt gestorben“, antwortete Wief, sichtlich etwas verlegen, „aber aufgrund eines bedauerlichen Vorfalls im letzten Winter haben wir beschlossen, unserem System ein vollautomatisches Leichenentsorgungsmodul hinzuzufügen. Die Lebensfunktionen unserer Klienten sollen laufend überprüft werden, bei Exitus sollte rasch eine Meldung an die Zentrale erfolgen, die dann den rechtzeitigen Abtransport des toten Körpers in die Wege leitet. Möglichst diskret, damit es nicht zu einer Panik kommt oder – wie bei besagtem peinlichen Zwischenfall – zu unguten Gerüchen, von denen sich andere Spieler dann gestört fühlen könnten.“

„Aber wie ist es möglich, dass sich so viele Familien diese doch sicher kostenaufwändige Methode der Jugendlichenverwahrung leisten können?“, fragte ich. „Wie sicher den meisten Anwesenden bekannt ist, geht es mit dem Lebensstandard in Deutschland eher abwärts, und da …“

„Nun“, unterbrach mich Axel Wief, „sicher kommen einige unserer Klienten aus Familien, die sagen wir es so, über eine gewisse finanzielle Intelligenz verfügen. Die Kosten für die Unterbringung in einem Game Hospital tragen in gewisser Weise …“, Wief lächelte verschwörerisch, „… wir alle mit unseren Steuergeldern, die auf verschiedenen Kanälen an diese finanziell intelligenten Familien weitergeleitet werden. Sehen Sie, eine wohlhabende Mutter hat mir einmal in einem Akt rührender Offenheit ihre Beweggründe anvertraut: ‚Herr Wief’, sagte sie, ‚mein Junge ist doch sowieso nur noch körperlich anwesend. Sein Geist ist völlig von dem Spiel absorbiert. Als Mutter bin ich eigentlich nur noch für die Pflege eines Körpers zuständig, während die dazugehörige Seele für mich längst verloren gegangen ist. Ich sehne mich danach, dass er eines Tages zu mir zurückkommt, aber ich bin den täglichen, nervenaufreibenden Kampf gegen das Spiel einfach leid – einen Kampf den ich Tag für Tag jedes Mal wieder verliere. Warum dann die Fürsorge für diesen Körper nicht anderen überlassen und dafür bezahlen. An Geld fehlt es uns ja nicht.’“

„Sie haben jetzt von den ganz reichen Familien gesprochen, aber die Zahl der Jugendlichen, die in Game Hospitals überall in Deutschland untergebracht sind, geht mittlerweile in die Zehntausende. Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, dass das alles Superreiche sind!“, bemerkte ein offenbar gut informierter Vater.

„Nein natürlich nicht“, erwiderte Wief. „Ich gebe gern zu, dass wir ohne das staatliche Unterstützungsprogramm neun Zehntel der Gesuche um Aufnahme in unser Game Hospital zurückweisen müssten. Der Staat trägt, je nach sozialem Status der betroffenen Familie, 50 Prozent, 60 Prozent, in manchen Fällen sogar 90 Prozent der anfallenden Pflegekosten.“

„Aber warum sollte er das tun?“, frage ich, nun ernstlich verwirrt. „Wir hören doch Tag für Tag in den Nachrichten, dass die knappe Haushaltslage zu gravierenden Einschnitten, gerade im sozialen System, zwingt …“

„Da sehen Sie, was für Vorurteile gegen unseren guten alten Vater Staat in Umlauf sind. Wenn es um wirklich wichtige Projekte geht, etwa um Militäreinsätze in Südostasien, um die Zahlung von Zinseszinsen an ausländische Großbanken oder eben um die sozialverträgliche Aufbewahrung von Jugendlichen, dann scheut unser Staat eben weder Mühen noch Kosten. Ich weiß, es ist für Außenstehende auf Anhieb nicht leicht verständlich. Bei fast jeder Besichtigung muss ich solche und ähnliche ungläubige Fragen beantworten. Aber ich will einmal mit einer Gegenfrage antworten: Haben Sie irgendeine Idee, was diese Jugendlichen sonst mit ihrem Leben anfangen sollten? Schauen Sie, diese jungen Leute werden geboren, keiner hat sie gerufen, sie wachsen auf und leiten, kaum dass sie selbständig denken können, allein aus ihrem Geborensein gewisse Ansprüche ab. Sie wollen einen Platz im Leben, einen Platz in unserer Gesellschaft und Verdienstmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Es fehlt vielfach an der Einsicht in die Tatsache, dass unsere Unternehmen für die allermeisten von ihnen schlicht keine Verwendung haben. Dann hangeln sie sich von unbezahltem Praktikum zu unbezahltem Praktikum, leben mit schlechtem Gewissen bis 35 auf Kosten ihrer Eltern oder, sofern es ihnen gelingen sollte, überhaupt einmal sozialversicherungspflichtig zu arbeiten, auf Kosten der Arbeitsagentur. Wenn sie dann endlich den nötigen Reifegrad erreicht haben und sich beruflich ein Türchen öffnen könnte, sind sie für die meisten karriererelevanten Jobs ohnehin zu alt.“

Unzufriedenes Grummeln erhob sich im Publikum. Axel Wief begegnete ihm, indem er mit etwas lauterer Stimme einfach weiterredete: „Unvernünftige Eltern, die sich offenbar nicht über die Grundregeln der Verhütung informiert haben, produzieren doch heute um ein Vielfaches mehr Jugendliche als unsere Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten jemals wird verwerten können. Jetzt frage ich Sie: Was machen wir denn mit dem ganzen überschüssigen Jugendlichen-Material? Die Euthanasie für Langzeitarbeitslose ist in der jetzigen politischen Konstellation nun mal noch nicht mehrheitsfähig. Die historisch bewährte Methode, ganze Generationen mittels Kriegseinsatz auszudünnen, funktioniert heute nur noch bedingt. Die Opferzahlen bei unseren Auslandseinsätzen reichen einfach nicht mehr aus, um die Nachfrage nach Arbeitsplätze dem Angebot anzupassen.“

„Aber …“ Schüchtern hatte sich eine Frau gemeldet. Wief verdrehte etwas genervt seine Augen, so als erwartete er eine sentimentale Gutmenschenfrage über die Würde des Jugendlichen. Doch der Einwand der Frau überraschte ihn positiv: „Aber, ist es nicht auch so, dass wir die Jugendlichen irgendwie brauchen?“

Betretenes Schweigen in der Gruppe.

„Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, wir brauchen diese jungen Leute doch, um unsere Schulden zu bezahlen. Wer sollte es denn sonst jemals schaffen, unsere Bundesschuld abzuarbeiten. Etwas wir selbst?“

„Ein guter Einwand“, räumte Wief ein. „Die Lage ist also folgende: Wir haben gleichzeitig einen Überschuss an Arbeitssuchenden und einen Mangel an für den Schuldendienst tauglichem Menschenmaterial. Ich habe jedoch vollstes Vertrauen in unsere politische Führungselite, dass sie dieses Dilemma in den Griff bekommen wird. Die Lösung wird nur auf einer anderen Ebene liegen, und die Jugendlichen-Generation, die Sie hier sehen, wird nicht Teil dieser Lösung sein, sie ist vielmehr Teil des Problems. Sehen Sie, viele besorgte Eltern werfen ihren Kindern vor, sich in eine Online-Welt zu flüchten, dabei ist die Eltern- und Großeltern-Generation gerade dabei, offline einen Alptraum zu erschaffen, der jedes Horrorvideo um Längen schlägt. Die Welt offline bietet zwar eine ganz gute grafische Auflösung, aber nur sehr matte Farben und Schauplätze, die so langweilig sind, dass jeder professionelle Set-Designer seinen Job verlieren würde, wenn ihm nichts Besseres einfiele. Offline gibt es Regeln, die niemand mehr wirklich durchschaut und die nicht einmal diejenigen fair finden, die sie aufgestellt haben. Offline gibt es keinen Platz mehr für die Seele eines Kriegers, Mittelmaß und Duckmäusertum kriegen die höchste Punktzahl. Offline erkennt man das Böse nicht einfach an seiner hässlichen Fratze. Es versteckt sich, es stellt sich nicht offen zum Kampf und bricht jedem Helden einfach mit Bescheiden, Kontopfändungen und mit der Verweigerung von Leistungsfortzahlungen das Rückgrat. Ich frage Sie, warum um alles in der Welt sollten Jugendliche unter solchen Umständen irgendein Interesse an der Offline-Welt entwickeln?“

Die anwesenden Besucher schienen nachdenklich geworden zu sein.

„Nein“, fuhr Axel Wief fort, „wie auch immer die Zukunft aussehen wird, mit dieser Generation ist sie nicht zu gestalten. Es ist eine Generation der Verlorenen. Wir haben sie buchstäblich verloren in den Datenlabyrinthen der virtuellen Realität. Diese Jugendlichen sind Offline-Flüchtlinge im Online-Exil. Es ist eine Generation des Übergangs, zu jung, um der neuen Zeit in die Frührente entfliehen zu können, zu alt, das heißt noch zu verwöhnt und zu zartfühlend, um den verschärften globalen Herausforderungen trotzen zu können. Ein neuer Mensch muss entstehen, stärker, widerstandsfähiger und besser angepasst. Diesen Menschen zu erschaffen, meine Damen und Herren, ist allerdings keine Frage der Pädagogik mehr, es ist eine Frage der Genetik! Was die Restbestände schwer verwertbarer Jugendlicher betrifft, so werden die Sozialsysteme leider Gottes noch ein letztes Mal einspringen müssen, um ihnen einen menschenwürdigen Lebensabend … äh … Lebensmorgen, Lebensmittag und Lebensabend zu gewährleisten. Auf diese Weise wirken sie sich für den notwendigen gesellschaftlichen Wandel wenigstens nicht störend aus.“

„Aber“, wandte die schüchterne Frau ein, „warum können die Schwerverwertbaren ihre Restlebenszeit nicht zuhause verbringen, in ihrer gewohnten Umgebung, wo sie wenigstens nicht ausschließlich diese furchtbaren Computerspiele …“

„Wenn wir sie einfach zu Hause rumhängen lassen, werden sie irgendwann aggressiv und zünden Autos an“, unterbrach Wief. „Ich bitte Sie, das haben wir doch alles schon erlebt. Die angesammelte Wut der Jugendlichen können Sie in einer zivilisierten Gesellschaft doch nicht denjenigen zumuten, die tatsächlich für diese Missstände verantwortlich sind!

Also muss die Wut irgendwo anders hingelenkt werden. Zum Glück produzieren die Film-Produktionsgesellschaften fleißig Folter- und Ekel-DVDs, die dazu einladen, wenigstens ein bisschen was von der überschüssigen martialischen Energie virtuell zu entladen. Der Königsweg, wenn es um die Abfuhr latenter Aggressivität ist allerdings noch immer das interaktive Computer-Game. Da ist der Jugendliche eben nicht dazu verurteilt, bei der Vernichtung des Feindes auf dem Bildschirm lediglich zuzuschauen. Vielmehr kann er sich selbst virtuell an dieser Vernichtung beteiligen. Man klagt viel über „Spiele-Sucht“. Ich sage Ihnen aber, diese Games sind ein Segen für die soziale Befriedung einer ganzen Gesellschaft. Schauen Sie sich mal die Fernsehbilder an von 1968. Oder sogar in unserer Zeit, in Frankreich oder in Bolivien. Da sehen Sie, wozu Jugendliche fähig sind: Zoff, Randale, brennende Autos, fundamentale Systemkritik, wo kämen wir denn da hin? Schauen Sie sich solche Bilder in den Archiven mal an – und dann schauen Sie sich zum Vergleich dieses Szenario an …“ Axel Wief streckte seinen rechten Arm aus und ließ ihn mit einer präsentierenden Geste durch den ganzen Saal wandern. Unsere Blicke folgten unwillkürlich der Weisung seiner geöffneten Hand, und wir sahen das ganze Panorama der an ihre komfortablen Särgen gefesselten, auf flimmernde Bildschirme starrenden Körper mit den zuckenden Maus-Finger. Hunderte von Körpern, mit geometrischer Genauigkeit über-, hinter- und nebeneinander geschichtet wie in einer dreidimensionalen Militärparade. „Das“, sagte Axel Wief, „mit einer fast beschwörenden Stimme, „sind die Jugendlichen unserer Zeit! Würden sie eines Tages alle auf einen Schlag erwachen und ihr Recht auf ein besseres Leben von uns einfordern, dann wäre das …“ Wief zögerte, als scheue er davor zurück, etwas Entsetzliches auszusprechen „… Der Untergang! Das Ende des bestehenden Systems!“

Stumm vor Schreck traute sich keiner von uns, zu sprechen.

„Und das wollen wir doch alle nicht“, schloss Axel Wief seine Rede merklich entspannter. Noch ganz benommen von dem Panorama, das sich uns durch die Ausführungen Axel Wiefs eröffnet hatte, wankte unsere kleine Besichtigungsgruppe Richtung Ausgang.

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