Die inszenierte Bedrohung

 In FEATURED, Politik (Ausland), Politik (Inland)

Flüchtlinge wurden systematisch zu Angstgegnern aufgebaut – auch weil die Politik von den wirklichen Problemen ablenken will. Auszug aus »Die Erfindung der bedrohten Republik« (mit einem Vorwort von Konstantin Wecker). Atomkrieg? Umweltkollaps? Die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten? Nein, die größte Bedrohung unserer Epoche sind »die Flüchtlinge«. Quer durch die politischen Lager wird beschworen: »2015 darf sich nicht wiederholen«. Anstelle des Nachkriegs-Bekenntnisses »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!« heißt es jetzt »Nie wieder Willkommenskultur!« Diese Abschottungspolitik hat gefährliche Rechtsparteien salonfähig gemacht; sie hat ungezählten Geflüchteten ihre Freiheit und das Leben gekostet. David Goeßmann beschreibt in seinem aufrüttelnden Buch, mit welch perfiden Methoden immer wieder mit Angst Politik gemacht wurde und wie insbesondere die »Flüchtlingskrise« als Vorwand diente, um reaktionäre Politikentwürfe durchzusetzen.  David Goeßmann

Wir gegen die in der blockierten Demokratie

Zur intellektuellen Selbstverteidigung gegen inszenierte Bedrohungen

In seiner sogenannten Agenda-Rede 2003 entwarf Bundeskanzler Gerhard Schröder eine düstere Gegenwart und Zukunft. Nur eine »Reform« könne die Krise noch eindämmen. Wirtschaft, Politik und Medien hatten über Jahre gewarnt, dass das »Schlusslicht Deutschland« den Anschluss an die Weltwirtschaft gänzlich verlieren könne und Massenarbeitslosigkeit drohe. Vor dem Hintergrund der propagierten Gefahren wurde die Agenda 2010 entworfen, die Rente teilprivatisiert, die Banken faktisch zu Casinos umgebaut, der Sozialstaat ausgehöhlt und den »notleidenden« Unternehmen und dem Kapital die Steuerlast von den Schultern genommen, so dass immer mehr Reichtum von unten nach oben transferiert werden konnte.1 Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA wurde ein »Sturm von Flugzeugen« prophezeit. Es war der Startschuss für den sogenannten »War on Terror«, massive Beschneidungen von Bürgerrechten sowie für den Ausbau des Überwachungsstaats.

US-Präsident George W. Bush verkündete 2003 der amerikanischen Nation: »My fellow citizens, at this hour American and coalition forces are in the early stages of military operations to disarm Iraq, to free its people and to defend the world from great danger«.2 Der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck mahnte im Bundestag, dass »unsere Sicherheit (…) nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt« werde, »wenn sich dort Bedrohungen für unser Land wie im Fall international organisierter Terroristen formieren«. In Afghanistan sind heute, siebzehn Jahre nach Beginn des Krieges, immer noch deutsche Truppen stationiert.3

Bedrohungen werden immer wieder inszeniert und genutzt, um in Staaten unpopuläre Politiken durchzusetzen. Gegen den neoliberalen Umbau und die Kriege gab es von Anfang an massiven Widerstand aus den jeweiligen Bevölkerungen. Nicht ohne Grund. Die neoliberalen Politiken führten zu einem Angriff auf den Wohlfahrtsstaat, bremsten das Wirtschaftswachstum, reduzierten das Arbeitsvolumen und vergrößerten die Gefahren der Finanzindustrie, während die von Spekulation angetriebenen Großbanken später, als die Blase platzte, als »too big to fail« vom »Nanny-State«, also den Steuerzahlern, gerettet werden mussten. Nach dem Motto: Profite werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Ebenso absehbar waren die Effekte der Kriege. Sie töteten Hunderttausende Menschen, vervielfachten und verbreiteten Terror, zerstörten und destabilisierten ganze Regionen, die nun durch hartnäckige »after wars«, also Bürgerkriege, in Gewalt zu versinken drohen.4

Auch die weiter zurückliegende Geschichte liefert reichlich Material dafür, wie Bedrohungen erfunden worden sind, um gesellschaftliche Widerstände gegen Politiken niederzuringen. So bauschte das Nazi-Regime mit Hilfe der Presse einzelne Übergriffe auf Volksdeutsche in Danzig zu systematischen Gräueltaten auf, inszenierte einen Überfall auf den deutschen Rundfunksender Gleiwitz und verdrehte polnische Verteidigungsstellungen gegen einen deutschen Angriff als Bedrohung Deutschlands durch polnische Truppen. Hitler verkündete während des Überfalls auf Polen: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen«. Deutschland »verteidigte« sich gegen sein östliches Nachbarland. Die Medien halfen dabei mit, die kriegsunwilligen Deutschen kriegsbereit zu machen, aber auch die Regierungen in Paris und London davon zu überzeugen, Hitler gewähren zu lassen.5

Die Erfindung der bedrohten Republik

»2015 darf sich nicht wiederholen.« So lautet seit dem »Flüchtlingsschicksalsjahr« die eindringliche Warnung. Bundesregierung, Parlament und Massenmedien erklärten ein ganzes Kalenderjahr wegen Schutzsuchenden zum Gefahrengut. Die Abwehrmaßnahmen der Politik wurden zu einem Verteidigungsakt erhoben. Deutschland sei in einen Notstand geraten, hieß es, in die Ecke gedrängt worden, aus der es sich nur mit »harten Entscheidungen« befreien könne. »Nie wieder 2015!« lautete die Angstbotschaft, die alle Bereiche der Gesellschaft erfasste. Es klang wie »Nie wieder Auschwitz«.6

Wissenschaftler sind ebenfalls besorgt über die gegenwärtigen Entwicklungen. Ein Fachgremium aus führenden Experten, 1945 von Albert Einstein erstmals ins Leben gerufen, rückte die sogenannte Doomsday Clock (die Weltuntergangsuhr) während der »Flüchtlingskrise« auf zwei Minuten vor Mitternacht vor. So nah am Endpunkt der Welt stand die Uhr nur einmal, 1953, als der Korea-Krieg wütete und die USA und die Sowjetunion sich einen Wettlauf um die Wasserstoffbombe lieferten. Flüchtlinge spielten bei der Gefährdungsanalyse allerdings keine Rolle. Bedroht sei die Menschheit vielmehr durch den voranschreitenden Klimawandel und die wachsende Gefahr eines Atomkriegs. So heißt es unter anderem im »Bulletin of the Atomic Scientists« von 2016: »The world continues to warm. Keeping future temperatures at less-than-catastrophic levels requires reductions in greenhouse gas emissions far beyond those agreed to in Paris – yet little appetite for additional cuts was in evidence at the November climate conference in Marrakech. (…) Progress in reducing the overall threat of nuclear war has stalled – and in many ways, gone into reverse. This state of affairs poses a clear and urgent threat to civilization, and citizens around the world should demand that their leaders quickly address and lessen the danger.« 7

1,8 Millionen Mal wurde in der deutschen Presse in den letzten drei Jahren auf Flüchtlinge und Asyl hingewiesen. In den Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender dominierten Themen wie Islam, »Flüchtlingskrise« oder Terrorismus. Obwohl im Bundestagswahlkampf 2017 die Kandidaten für das Kanzleramt Angela Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD) keine asylbezogenen Kampagnen führten, dominierte das Thema in den Medien. So befragten die Journalisten die beiden Kandidaten während des 95-minütigen TV-Duells rund die Hälfte der Zeit zur Flüchtlings- und Asylpolitik. In den Sommerinterviews von ARD und ZDF 2018 nahmen Fragen zu Flucht, Asyl und Migration mehr als ein Drittel der Redezeit ein, während Klimawandel und Klimaschutz nicht ein einziges Mal angesprochen wurden (wie auch viele andere wichtige Themen wie Armut kaum Aufmerksamkeit erhielten) – wie bei den Kanzlerkandidaten-Befragung ein Jahr zuvor. Die globale Erwärmung spielte im Wahlkampf und der Berichterstattung darüber insgesamt keine Rolle.8

In der Presse tauchten Klimawandel und Klimaschutz seit Ausbruch der »Flüchtlingskrise« nur 230 000 Mal auf, also mehr als siebenmal weniger als die »Flüchtlingskrise« im gleichen Zeitraum.9 In den nationalen Polittalksendungen war die globale Erderwärmung einzig im Zuge des deutschen Hitzesommers 2018 und den massiven Protesten gegen die Abholzung des Hambacher Forsts für den weiteren Kohleabbau kurzzeitig Thema. In den Jahren zuvor jedoch niemals, obwohl im Dezember 2015 in Paris ein entscheidender Klimagipfel stattfand, die Wissenschaftler immer eindringlicher vor dem drohenden Klimachaos warnen und die Treibhausgase seit zehn Jahren in Deutschland sogar leicht steigen, anstatt in dieser Zeit massiv gesunken zu sein.10

Die Gefahren eines möglichen Atomkriegs waren ebenso wenig in den einflussreichen Rundfunksendungen oder Leitartikeln vertreten.11 Und wenn einmal darüber berichtet wurde, dann über die »Schurkenstaaten« Iran, Nordkorea und Russland, während die Medien das aggressive Verhalten und die atomare Eskalation der USA und der anderen NATO-Staaten als Schutzmaßnahme rahmten.12 Auch das Versagen der deutschen und europäischen Klimaschutzpolitik wurde mehr oder weniger ausgeblendet statt es zu skandalisieren. So mahnen Klimawissenschaftler, dass die Treibhausgase in Deutschland, wie in anderen Industriestaaten auch, bis 2035 auf null reduziert werden müssten, um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur noch auf 2 Grad Celsius begrenzen zu können und die globale Bedrohung damit einigermaßen zu bannen – eine Emissionsreduktion doppelt so schnell wie geplant. Doch diese wichtige Information wird dem deutschen Publikum bis heute weiter vorenthalten. Jetzt verbleiben nur noch gut 15 Jahre für den Komplettumbau.13 Die Bundesregierung könnte auch der Ansicht der Bevölkerung folgen und die nukleare Teilhabe mit den USA (in Form von im Bundeswehr-Stützpunkt Büchel stationierten Atomsprengköpfen) sowie die Eskalation mit Russland beenden.

Doch die Medien schüren weiter Ängste vor Russland und warnen vor einer Energie- und Stromkrise, wenn schneller auf alternative Energien umgestellt werde. Die Kluft zwischen Wissenschaft und politischer Öffentlichkeit 14 könnte kaum größer sein.15 Auch eine andere Nachricht zur Einschätzung der weltweiten Bedrohungslage wird den Deutschen (und nicht nur ihnen) weiter vorenthalten. Denn nimmt man die Einstellung der Weltbevölkerungen, dann werden die USA als größte Gefahr für den Weltfrieden angesehen – mit 24 Prozent der Stimmen weit vor Pakistan mit acht Prozent, gefolgt von China (sechs Prozent) und Afghanistan (fünf Prozent). Die offiziellen »Schurkenstaaten« Russland, Nordkorea oder Iran sucht man vergeblich in der Top-Gefährderliste. Die Befragung wurde im Jahr 2013 durchgeführt, also vor der Präsidentschaft Donald Trumps. Damals leitete der Nobelpreisträger und erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten Barack Obama noch die Geschäfte in Washington D. C. Er eskalierte den Krieg in Afghanistan, weitete das Drohnenterrorprogramm massiv aus und brachte mehr Whistleblower und Journalisten ins Gefängnis als alle US-Präsidenten vor ihm zusammengenommen.16 Doch die Bundesregierung und die deutschen Medien haben eine andere Sicht als die Weltbevölkerung. Sie unterstützen unbeirrt die »Ordnungsmacht« USA bei Kriegen, Terrorprogrammen und gefährlichen Konfrontationen mit der Atommacht Russland, so dass die Gefahren nicht nur nicht eingedämmt, sondern immer weiter gesteigert wurden.17

Sehen wir uns demgegenüber die Bedrohung durch Flüchtlinge an, die Deutschland und die EU ab 2015 in eine derart tiefe Krise gestürzt haben, dass sich diese Situation nie wieder ereignen darf. In Deutschland, dem ökonomischen Powerhouse der Union, sind heute 970 000 anerkannte Flüchtlinge registriert (Ende 2017), das ist gut ein Prozent der Bevölkerung. Ohne den Zuzug wäre Deutschland wohl geschrumpft. Auf dem reichsten Kontinent der Welt sind insgesamt 2,3 Millionen Flüchtlinge zu versorgen, also rund 0,5 Prozent. Die deutsche Ökonomie ist in der »Krise« stärker als zuvor gewachsen, auch wegen der Flüchtlinge und ihres überdurchschnittlichen Binnenkonsums. Der Staatshaushalt strotzt vor Überschüssen. Die Beschäftigung hat zugenommen, die Arbeitslosigkeit sank. Auch die Kriminalität hat in der »Krise« abgenommen, absolut wie relativ. Deutschland geht es nach 2015 und 2016 keineswegs schlechter, sondern in vielen Bereichen besser als zuvor.18

Überwältigende Mehrheiten der EU-Bürger stehen in Umfragen unbeirrt von »Krise«, »Kontrollverlust« und dem »Jahrhundertproblem« zur moralischen Pflicht, vor Krieg und Verfolgung fliehende Menschen in ihren Ländern aufzunehmen. Die Europäer sind ebenfalls in großen Mehrheiten für eine faire Verantwortungsteilung, auch wenn ihre Länder dadurch verpflichtet würden, mehr Schutzsuchende zu versorgen. Die meisten mahnen an, dass ihre Länder mehr für die Schutzsuchenden tun sollten. Die Deutschen stellten in mehreren Umfragen immer wieder klar, dass sie gegen den unter deutscher Geschäftsführung ausgehandelten EU-Türkei-Deal sind, auch wenn dadurch mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden.

Die Erhebungen zeigen, dass die Europäer und Deutschen sich keineswegs von Flüchtlingen bedroht fühlen, sondern im Gegenteil die moralische Pflicht empfinden, weiter zu helfen. So sehen nur 23 Prozent der Bürger Deutschlands ihre Heimat in den Jahren der »Flüchtlingskrise« gefährdet – und das vor allem durch die Schließung von Geschäften vor Ort.19 Andererseits wurde auch eine Reihe von Ängsten und Sorgen in Hinsicht auf Flüchtlinge während der »Krise« an die Oberfläche gespült. Die Bürger zeigten sich besorgt über mehr Kriminalität, mehr Druck auf die Arbeitsmärkte oder eine drohende Zerrüttung des sozialen Friedens durch den Zuzug von Flüchtlingen. Viele Europäer betrachteten sogar Einwanderung und Terrorismus laut Eurobarometer vom Herbst 2015 als größere Probleme auf europäischer und nationaler Ebene als fehlende Arbeit und soziale Absicherung in ihren Ländern, ohne allerdings persönlich davon betroffen zu sein.20

Rechtsradikale Bewegungen und Parteien erhielten zudem starke Zuwächse, während fremdenfeindliche Gewalt dramatisch anstieg. Die Frage ist also: Wie kann es sein, dass Deutsche und Europäer einerseits in der »Krise« besorgt waren über die negativen Auswirkungen von Flüchtlingsaufnahme und gleichzeitig deutlich ihre Bereitschaft signalisieren, zu helfen und mehr Flüchtlinge in ihren Ländern aufzunehmen? Wie sind diese Ungereimtheiten in der öffentlichen Meinung zu erklären?

Die Widersprüche lösen sich auf, wenn man die massenmediale Berichterstattung berücksichtigt. So wurde die Schutzsuche von Flüchtlingen in Deutschland in den letzten drei Jahren zum »Jahrhundertproblem« transformiert und das Bild einer von Flüchtlingen »bedrohten Republik« erschaffen. Das ist die These des Buches, die in den folgenden Kapiteln entfaltet und analysiert werden soll. Die schiere Masse an Krisenberichterstattung und Angstnachrichten war erdrückend und musste verunsichern. So konnte der Hilfsimpuls der Bürger neutralisiert und entpolitisiert werden, während die Abwehrmaßnahmen ohne Diskussion im politischen Schnellverfahren umgesetzt wurden, wobei die einzige Sorge der Journalisten war, ob die Maßnahmen auch wirklich die Bedrohung bannen würden.21

Seitdem schaffen es nur noch wenige Schutzsuchende durch die verschärften Barrieren, die die Europäische Union immer hermetischer vor den Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention abschirmen. Das Elend findet wie gewohnt draußen vor der Tür statt. Die intellektuelle und politische Klasse zeigt sich erleichtert. Der Europäische Rat stellte nach dem EU-Gipfeltreffen Mitte 2018 fest: »Since 2015 a number of measures have been put in place to achieve the effective control of the EU’s external borders. As a result, the number of detected illegal border crossings into the EU has been brought down by 95 % from its peak in October 2015. (…) The European Council is determined to continue and reinforce this policy to prevent a return to the uncontrolled flows of 2015 and to further stem illegal migration on all existing and emerging routes.« 22

Der Notstands- und Bedrohungsdiskurs fabrizierte dabei eine neurotisierte Gesellschaft. Denn die politische Mainstream-Kommunikation sendete immer wieder »Double-Bind«-Botschaften aus. Double-Bind-Botschaften bestehen aus zwei sich widersprechenden Aussagen, die beide Gültigkeit beanspruchen. Dadurch entsteht eine Art mentaler Zwickmühle. Es heißt: Wir werden Flüchtlinge weiter schützen und ihnen »ein freundliches Gesicht« zeigen, aber wir müssen sie daran hindern, zu uns zu kommen. Die Willkommensbereitschaft der Deutschen ist faszinierend, aber politisch setzen wir das Parteiprogramm der AfD um.23 Wir bekennen uns zur Genfer Flüchtlingskonvention, aber wir werden mit allen Mitteln versuchen, das internationale Recht auszuhebeln. So konnte die moralische Verpflichtung gegenüber Schutz­suchenden einerseits behauptet, im gleichen Atemzug realpolitisch zersetzt werden.

»Begrenzte Barmherzigkeit«, so brachten es deutsche Bischöfe und der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf den Punkt. Das Resultat der permanenten »Double-Bind«-Kommunikation ist mentale Verwirrung, die sich in Umfragen wiederfindet. Selbst der Begriff »Flüchtlingskrise« ist ein humanitäres Codewort. Der Begriff suggeriert, dass Medien und Politik die Krise der Flüchtlinge in den Fokus nehmen würden und um Lösungen bemüht seien. Doch die eigentliche Bedeutung ist eine andere. So tauchte die »Krise« im öffentlichen Diskurs erst auf, als die Abschottung Deutschlands kollabierte, inklusive des Dublin-Systems. Bis Mitte 2015 wurde der Begriff »Flüchtlingskrise« praktisch nicht verwendet. Selbst als 2014 über vierzehn Millionen Flüchtlinge neu vertrieben wurden, gab es in der deutschen Öffentlichkeit keinen Grund, von einer »Flüchtlingskrise« zu sprechen.

»Flüchtlingskrise« bedeutet tatsächlich (gemessen an seiner realen Verwendung im öffentlichen Diskurs): Krise Deutschlands mit Flüchtlingen aufgrund der kollabierten Abwehr beziehungsweise schlicht Abschottungskrise. Man stelle sich vor, die Medien hätten statt von »Flüchtlingskrise« von »Abschottungskrise« gesprochen: Die humanitäre Rhetorik wäre in sich zusammengebrochen.

abwürdigen von Staaten, Religionen und Kulturen bis zur Diffamierung hochgedreht werden.

David Goeßmann:

Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden.

Verlag Das Neue Berlin

464 Seiten, € 18

 

Buchpremiere

11. April, 20.00 Uhr Roter Salon in der Volksbühne Rosa-Luxemburg-Platz 10178 Berlin

David Goeßmann deckt in „Die Erfindung der bedrohten Republik“ auf, wie innerhalb kurzer Zeit gegensätzliche mediale Konstruktionen von kollektiver spontaner Humanität und einer inneren Notstandsituation von der Politik fraglos übernommen wurden. Am Anfang standen die Flüchtlinge – und am Ende unsere beschädigte Demokratie.

 

1 David Römer, »Wirtschaftskrisen: Eine linguistische Diskursgeschichte«, 2017, S. 426 ff.

2 Zitiert nach: »Jede Regierung lügt – Wahrheit, Manipulation und investigativer Journalismus«, ARTE Dokumentation, 12. Oktober 2010, ab Min. 2’18; https://www.youtube.com/​watch?v​=​EjARcMqFRBg

3 Rede des Bundesverteidigungsministers Peter Struck im Deutschen Bundestag, 11. März 2004, Sitzungsprotokoll, S. 8601; http://dip21.bundestag.de/​doc/​btp/​15/​15097.pdf

4 Siehe u. a. William R. Polk, »Violent Politics. A history of Insurgency, Terrorism & Guerrilla War From the American Revolution to Iraq«, 2007

5 Siehe David Goeßmann, »Mit zweierlei Maß. Über Manipulationstechniken bei der Konfliktberichterstattung«, Hintergrund, 4/​2014, S. 10–14 6 »Angela Merkel beim CDU-Parteitag. ›Eine Situation wie im Sommer 2015 darf sich nicht wiederholen‹«, Spiegel Online, 6. Dezember 2017:

»Kanzlerin Angela Merkel hat versichert, dass die Lage von 2015 mit einem Ansturm von Flüchtlingen an Deutschlands Grenzen nicht noch einmal vorkommen soll. ›Eine Situation wie die des Sommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen‹, sagte Merkel bei ihrer Rede vor dem CDU-Parteitag in Essen. ›Das war und ist unser und mein erklärtes politisches Ziel.‹«; http://www.spiegel.de/​politik/​deutschland/​angela-merkel-bei-cdu-parteitag-fluechtlingskrise-darf-sich-nicht-wiederholen-a-1124599.html. Die politische Formulierung Merkels wurde zum Inbegriff des allgemeinen Konsenses in der »Krise«. Sie wurde vielfach wiederholt und in der politischen Öffentlichkeit nicht infrage gestellt.

7 Bulletin of the Atomic Scientists, »It is two and a half minutes to midnight. 2017 Doomsday Clock Statement«, Science and Security Board, S. 2 u. 4; https://thebulletin.org/​sites/​default/​files/​Final%202017%20Clock%20Statement.pdf

8 »Migration und Populismus«, MIDEM (Mercator Forum Migration und Demokratie) Jahresbericht 2018, S. 50 u. 57; https://forum-midem.de/​cms/​data/​fm/​download/​TUD_MIDEM_Jahresbericht2018_WEB_RZ_2.pdf

9 Die Treffer entstammen Suchanfragen in der Genios-Pressedatenbank für »Klimaschutz* OR Klimawandel*« (*für Worterweiterungen wie »Klimaschutzziele« usw.) und Flüchtling* OR Asyl*« für den Zeitraum 1. 7. ​2015–1. 7. ​2018. Das Trefferverhältnis zwischen diesen Suchwortkombinationen ist ein Indikator für das Missverhältnis in der Presseberichterstattung. Mit detaillierteren Suchan­fragen und Artikelauswertungen könnte der Vergleich noch verfeinert werden. Aber ein anderes Resultat ist kaum zu erwarten, auch wenn die vorliegende Abfrage bestimmte Suchbegriffe wie Erderwärmung und Treibhausgase beziehungsweise Migration, Grenzschutz und Integration nicht erfasst. Doch die abgefragten Wortkombinationen liefern mit Abstand die meisten Treffer für den jeweiligen Themenkomplex und sind zugleich eng verbunden mit dem politischen Themenfeld.

10 Marco Bülow, »Talkshows: Einseitig und verzerrend«, 22. März 2017; https://www.marco-buelow.de/​talkshows-einseitig-und-verzerrend/​. Darin werden 204 Sendungen von den fünf relevantesten politischen Talkshows von ARD und ZDF: Maischberger, Anne Will, Hart aber fair, Jauch, Maybrit Illner von Oktober 2015 bis Anfang März 2017 untersucht. Das Ergebnis: »So wichtig einige Themen sicher waren und sind, niemand kann rechtfertigen, dass in 1,5 Jahren jede vierte Sendung speziell das Thema Flüchtlinge behandelt und sich fast jede zweite Sendung generell mit dem Themenkomplex Flüchtlinge, Islam, Terror/​IS, Populismus/​Extremismus befasst hat. In nur sechs von 204 Sendungen wurde über Armut und Ungleichheit diskutiert. Wichtigen Themen wie NSU, Rassismus und rechte Gewalt wurde zum Beispiel jeweils nur eine Sendung gewidmet. Klimawandel kam sogar gar nicht vor. Das ist nicht nur bedenklich, sondern prägt die öffentliche Debatte sehr einseitig. Die Themenauswahl spiegelt absolut nicht die tatsächlichen Pro­bleme in unserer Gesellschaft wider und stellt damit ein Zerrbild der Wirklichkeit dar.« Wie gesagt, in der Zeit fanden entscheidende Klimagipfel in Paris und Marrakesch statt. Auch die atomare Bedrohung wurde nicht thematisiert.

11 So finden sich zum Beispiel lediglich 117 Hinweise auf die Doomsday Clock in der Genios-Pressedatenbank für den Zeitraum vom 1. Juli 2015 bis zum 1. Juli 2018.

12 Siehe: Noam Chomsky, »Who Rules The World?«, S. 230 ff.

13 Siehe Kevin Anderson, »Open Letter to the EU Commission president about the unscientific framing of its 2030 decarbonisation target«, kevinanderson.info, 16. Dezember 2013; http://kevinanderson.info/​blog/​open-letter-to-the-eu-commission-president-about-the-unscientific-framing-of-its-2030-decarbonisation-target/​; »›Sie verbrennen den Planeten‹: Eine Bilanz des Klimagipfels in Paris«, Kontext TV, 21. Januar 2015; http://www.kontext-tv.de/​de/​sendungen/​sie-verbrennen-den-planeten-eine-bilanz-des-klimagipfels-paris; für die wissenschaftliche Diskussion des verbleibenden Treibhausgasbudgets und der Aufteilung unter den Industriestaaten und Entwicklungsländern (Annex 1 bzw. non-Annex 1) siehe: Kevin Anderson, Alice Bows-Larkin, »Beyond dangerous climate change: emission pathways for a new world«, Philosophical Transactions Of The Royal Society A: Mathematical, Physical And Engineering Sciences 369, 2011, S. 20–44

14 Politische Öffentlichkeit wird im Folgenden verwendet im Sinne von massenmedialer Mainstream-Öffentlichkeit.

15 Vgl. David Goeßmann, »Wir Schlafwandler: G-20 Fieberträume, Klimaretter-Halluzinationen und der allzu reale Crashkurs«, Kontext TV, 5. Juli 2017; http://www.kontext-tv.de/​de/​blog/​wir-schlafwandler-g-20-fiebertraeume-klimaretter-halluzinationen-und-der-allzu-reale-crashkurs; »Luxusstrom«, Spiegel 36/​2013; http://www.spiegel.de/​spiegel/​print/​d-110117909.html; Josef Joffe, »Der Wahnsinn, der aus der Steckdose fließt: Abermals wächst die Ökostromumlage – wider wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit. Die Förderung der erneuerbaren Energien ist eine Torheit«, Die Zeit, 17. Oktober 2013; https://www.zeit.de/​wirtschaft/​2013-10/​erneuerbare-umlage-kritik

16 Spencer Ackerman, Ed Pilkington, »Obama’s war on whistleblowers leaves administration insiders unscathed«, The Guardian, 16. März 2015; https://www.theguardian.com/​us-news/​2015/​mar/​16/​whistleblowers-double-standard-obama-david-petraeus-chelsea-manning

17 Meredith Bennett-Smith, »Womp! This Country Was Named The Greatest Threat to World Peace«, Huffington Post, 2. Januar 2014; https://www.huffingtonpost.com/​2014/​01/​02/​greatest-threat-world-peace-country_n_4531824.html?guccounter=1

18 Vgl. Kapitel 6

19 Vgl. Kapitel 6. Zur Bedrohung der Heimat siehe: Thomas Petersen, »Heimat und Heimatministerium«, Institut für Demoskopie Allensbach, 25. April 2018; https://www.ifd-allensbach.de/​uploads/​tx_reportsndocs/​FAZ_April2018_Heimat.pdf

20 Siehe Eurobarometer Herbst 2015, Standard-Eurobarometer 84, Umfrage der EU-Kommission, S. 13 ff. Bei den Eurobarometern in den folgenden Jahren zeigt sich, dass die Sorge der Europäer um Einwanderung wieder stark zurückging.

21 Siehe Klaus J. Bade, »Menschenrechte in Gefahr«, in: Migration, Flucht, Integration, 2017, S. 574: »Bei der Flüchtlingsabwehr gibt es eine Art legitimatorischen Schaukeleffekt: Je unsicherer die Bevölkerung wird bzw. je unsicherer sie gemacht wird, desto leichter lassen sich inhumane Abwehrkonzepte legitimieren.«

22 Siehe »Text of the European Union migration deal«, CNN, 29. Juni 2018; https://edition.cnn.com/​2018/​06/​29/​europe/​eu-migration-deal-text-intl/​index.html

23 Vgl. Amadeus Ulrich, »Die Politik des Unbehagens: Sicherheit und Asyl in der BRD. Diskursanalyse deutscher Parlamentsdebatten 1993 und 2014–2015. Wie versicherheitlichen Abgeordnete darin Asyl?«, Arbeitspapier Universität Hamburg, Institut für Politikwissenschaften, 1/​2016; https://www.wiso.uni-hamburg.de/​fachbereich-sowi/​professuren/​jakobeit/​forschung/​akuf/​archiv/​arbeitspapiere/​ap-uilrich-asyl-2016-1.pdf. Darin betont der Autor, dass sich die Rhetorik der Parlamentsdebatten verschoben habe von einer »Politik des Ausnahmezustands« zu einer »Politik des Unbehagens«. Er führt das zurück auf den Umstand, dass heute das Grundgesetz nicht mehr geändert werden müsse und die Versicherheitlichung von »bedrohlichen« Zuwanderern technokratisch und auf EU-Ebene gelöst werde. Das stimmt sicherlich. Doch der Wandel in der Rhetorik ist auch ein Zeichen dafür, dass sich die öffentliche Meinung verändert hat und eine offene Hetze bei den Bürgern Zustimmung zur brutalisierten Abschottung bewirkt. Daher müssen heute verstärkt humanitäre Fassaden aufgebaut werden.

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