Die Jobcenter und die „angemessenen“ Kosten der Unterkunft

 In FEATURED, Politik (Inland)

Eine neue Entscheidungen des Bundessozialgerichts gibt Hoffnung auf höhere Zuschüsse. In der Hartz IV-Behörde sitzen ja gute Menschen: Sie übernehmen für ihre Schützlinge bereitwillig alle Kosten für Unterkunft und Heizung, “die angemessen sind”. Was aber bedeutet “angemessen”? Darüber entscheiden Leute, die sicher im Winter nicht frieren müssen und vermutlich in recht komfortabler Wohnsituation leben. Allzu anspruchsvolle Leistungsbezieher mögen doch bitte einfach in eine “angemessene” neue Wohnung überwechseln. Hartz IV-Betroffene werden ja gerade in teuren Großstädten von günstigen Wohnungsangeboten geradezu überhäuft. Um das Problem zumindest abzumildern, hat ein Gericht jetzt höhere Mietzuschüsse in Aussicht gestellt. Aber ob das reichen wird, um alle Notfälle abzudecken?  Stefan Sell

Gerade in den zurückliegenden Monaten hatten wir wieder einmal eine „Hartz IV-Debatte“. Dabei ging es auch und vor allem um die Frage, ob und wie man das Grundsicherungssystem (SGB II) weiterentwickeln sollte und könnte. Auch das vor dem Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren zur Frage der verfassungsrechtlichen (Nicht?-)Zulässigkeit von Sanktionen wurde und wird diskutiert.

Man sollte an dieser Stelle daran erinnern, dass das Grundsicherungssystem nicht nur Arbeitslose bzw. Langzeitarbeitslose absichern soll, die immer im Zentrum der „Hartz IV-Debatten“ stehen. Die bilden sogar nur mit mehr als 1,4 Mio. Menschen eine Minderheit der insgesamt 5,9 Mio. Menschen, die in „Bedarfsgemeinschaften“ leben (müssen). Und auch die vieldiskutierten 424 Euro für einen Alleinstehenden pro Monat sind nur ein Teil der Hartz IV-Leistungen. Als zweite wichtige Säule der Grundsicherung ist die Übernahme der „angemessenen“ Wohnkosten für die Leistungsbezieher zu nennen.

Immer wieder hilfreich ist ein Blick auf die monetären Größenordnungen, um die es bei „Hartz IV“ geht. Für das Jahr 2017 wurden insgesamt 45 Mrd. Euro Gesamtausgaben für das SGB II ausgewiesen. Davon entfallen auf die „angemessenen“ Kosten der Unterkunft (KdU) mit 14,65 Mrd. Euro ein Drittel der Gesamtausgaben. Eine gewaltige Summe.

Die gesetzliche Grundlage für die KdU-Leistungen der Jobcenter findet man unter der Überschrift „Bedarfe für Unterkunft und Heizung“ im § 22 SGB II: »Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.« Das liest sich allerdings unverfänglicher als es tatsächlich ist – denn hier wird mit „angemessen“ ein „unbestimmter Rechtsbegriff“ verwendet, der in der Praxis dann konkretisiert und rechtlich überprüfbar bestimmt werden muss. In Form von konkreten Wohnungsgrößen und Mietkostenhöhen, die „noch“ oder eben „nicht mehr“ als angemessen definiert werden. Dazu beispielsweise der Beitrag Die angemessenen „Kosten der Unterkunft und Heizung“ im Hartz IV-System: Wenn ein unbestimmter Rechtsbegriff mit elementaren Folgen von der einen Seite bestimmt werden soll vom 16. Februar 2018.

Der Vorbehalt der „Angemessenheit“ dazu führt, dass viele Hartz IV-Empfänger aus ihren sowieso schon mehr als knapp kalkulierten Regelleistungen 600 Mio. Euro abzweigen mussten zur Finanzierung der von den Jobcentern nicht übernommenen Unterkunftskosten (vgl. dazu Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom 22. September 2017). Und der Betrag geht weiter nach oben, vgl. dazu: Die Unterdeckung wächst: Hartz-IV-Empfänger zahlen bei Wohnkosten 627 Millionen Euro drauf:

»Im August 2018 erhielten über drei Millionen Haushalte in Deutschland Hartz-IV-Leistungen zur Deckung ihrer Wohnkosten. Denn für Haushalte im Hartz-IV-Bezug übernehmen die Jobcenter Miete, Betriebs- und Heizkosten, die so genannten Kosten der Unterkunft (KdU). Das allerdings nur bis zu einer „angemessenen“ Obergrenze … Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigen aber, dass die Obergrenze für angemessene Wohnkosten an der Lebensrealität vieler Hartz-IV-Empfänger vorbeigeht und gleichzeitig zu erheblichen Einsparungen auf der Seite der Jobcenter führt: Von Januar bis Dezember 2017 summierte sich die Lücke zwischen den anerkannten und den tatsächlichen Kosten der Unterkunft aller in Deutschland lebenden Hartz-IV-Empfänger auf knapp 627 Millionen Euro. Verglichen mit dem Vorjahr ist die Unterdeckung der tatsächlichen Wohnkosten um rund 25 Millionen Euro gestiegen, obwohl insgesamt weniger Haushalte Hartz IV bezogen.«

Und man kann sich gut vorstellen, dass das „Sandwich-Problem“ vieler Hartz Iv-Empfängern in diesen Zeiten eines expandierenden Mangels an halbwegs bezahlbaren Wohnraum in vielen Gegenden zunimmt: Zum einen sind die seitens der Jobcenter übernahmefähigen Kosten gedeckelt (und das oftmals unrealistisch niedrig im Kontext der lokalen Wohnungsmärkte), zum anderen aber läuft der Hinweis, durch einen Umzug in eine billigere Bleibe die Kosten wieder voll erstattet zu bekommen, angesichts des eklatanten Mangels auf der Angebotsseite in diesem Segment des Wohnungsmarktes ins Nirwana.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht wirklich überraschend, dass die Frage der „Angemessenheit“ eine höchst umstrittene ist und auch nicht selten vor die Sozialgerichte getragen wird – verständlich, denn wir reden hier mit Blick auf die Wohnkosten über einen wahrhaft existenziellen Bedarf. Schon die Vorgaben des § 22a SGB II, in der es um die Ermächtigung zum Erlass von Satzungen auf der kommunalen Ebene geht, mit der bestimmt wird, in welcher Höhe Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in ihrem Gebiet angemessen sind, sind mehr als komplex. Außerdem muss man vor Ort auch noch die höchstrichterliche Rechtsprechung vom Bundessozialgericht (BSG) zur Kenntnis nehmen und beachten. Das BSG fordert bei der Bestimmung der Angemessenheit die Anwendung eines „schlüssigen Konzepts“ und versteht darunter ein planmäßiges Vorgehen des Grundsicherungsträgers im Sinne der systematischen Ermittlung und Bewertung der Tatbestände vor Ort und gerade nicht nur ein punktuelles Vorgehen von Fall zu Fall.

Und nun gibt es vom Bundessozialgericht (BSG) Neues in dieser Frage zu berichten: Wohnkostenzuschüsse der Jobcenter auf dem Prüfstand, so ist einer der Berichte zu neuen Entscheidungen des BSG überschrieben: »Hartz-IV-Empfänger können auf höhere Wohnkostenzuschüsse hoffen. Das Bundessozialgericht beanstandete am Mittwoch die bisherige Praxis. Es gab Klägern aus Sachsen-Anhalt Recht, die sich benachteiligt fühlten. Das Urteil werten Rechtsexperten als Signal an die Jobcenter, Hartz-IV-Empfängern höhere Zuschüsse zu gewähren«, berichtet der MDR.

»Das Bundessozialgericht in Kassel hat nun am Mittwoch über insgesamt sechs Fälle entschieden, davon waren vier aus Sachsen-Anhalt – aus dem Harz, der Börde und dem Salzlandkreis. In allen Fällen haben die Richter die Entscheidungen der Jobcenter aus früheren Jahren beanstandet. Sprich: Die übernommenen Wohnkosten hätten sehr wahrscheinlich höher ausfallen müssen, und zwar seit dem Jahr 2012.«

Wer es genauer und original vom BSG wissen möchte, der wird hier zu allen sechs Verfahren und Entscheidungen fündig:

➞  BSG, B 14 AS 41/18 R
➞  BSG, B 14 AS 12/18 R
➞  BSG, B 14 AS 10/18 R
➞  BSG, B 14 AS 11/18 R
➞  BSG, B 14 AS 24/18 R
➞  BSG, B 14 AS 27/18 R

»Die obersten Sozialrichter in Kassel haben nun festgestellt, dass die Berechnungsgrundlagen, die von einigen Jobcentern angewendet werden, um die Zuschüsse für Hartz-IV-Empfänger festzulegen, nicht zulässig seien. Denn bislang können die zuständigen Landkreise ausgehend von Durchschnittsmieten in der Region teils selbst berechnen, was sie als „angemessenes“ Niveau zugrunde legen.« Dagegen spricht ja auch erst einmal nichts, denn natürlich sind die Mietkostenverhältnisse in Sachsen-Anhalt andere als in München oder Köln.

»Doch müssen die Kreise ihr Vorgehen bei der Berechnung gut begründen, wenn sie unter den Richtwerten liegen, die sich aus dem Wohngeldgesetz ergeben. Das haben die beklagten Jobcenter nach Ansicht des Bundessozialgerichts nicht ausreichend getan. Teils mangle es, so die Richter, an einer „rechtfertigenden sachlichen Herleitung“.« In den beklagten Landkreisen müssen nun die angemessenen Wohnkostenbeträge neu berechnet werden. Außerdem haben die Entscheidungen in den konkreten Fällen handfeste Auswirkungen: Die Betroffenen können nun mit Nachzahlungen rechnen, die teilweise bis ins Jahr 2012 zurückreichen. Die Bundesagentur berichtete im Oktober 2018 von mehr als 30.000 Klageverfahren zu verweigerten Wohnkosten.

Rainer Balcerowiak hat seinen Artikel dazu so überschrieben: Hoffnung auf mehr Zuschuss für die Miete. Mit den neuen Entscheidungen »folgt das Gericht seiner in früheren Urteilen vertretenen Linie, nicht auf konkreten Erhebungen basierende Pauschalierungen der maximalen Wohnkostenübernahme als unzulässig zu bewerten. Die meisten Großstädte haben Ausführungsvorschriften entwickelt, die sich an unteren Mietspiegelwerten orientieren und regelmäßig überprüft werden. Auch gibt es Spielräume, um geringfügige Überschreitungen zu tolerieren und besondere Härten, die ein erzwungener Umzug mit sich bringen würde, zu berücksichtigen. Doch auch in Städten mit »differenzierten« Ausführungsvorschriften sind die ermittelten Sätze zweifelhaft, da oft mit veralteten Mietspiegeln gearbeitet wird, sodass die Obergrenzen durch die zwischenzeitlichen Mietpreissteigerungen kaum noch als Bemessungsgrundlage taugen. Im Urteil vom Mittwoch werden diese Fragen nicht thematisiert, denn in dem Verfahren ging es um Obergrenzen anhand allgemeiner Pauschalwerte. Dies könnte sich nach dem aktuellen Urteil ändern.«

Es geht hier nicht nur um die Verweigerung der vollen Wohnkostenübernahme durch die Jobcenter. Probleme gibt es auch bei der Übernahme von Betriebskostennachzahlungen, die von vielen Jobcentern verweigert werden, wenn bestimmte Höchstwerte überschritten werden. »Und selbst, wenn es den Betroffenen gelingt, eine neue Wohnung zu finden, die den Mietrichtlinien entspricht, drohen finanzielle Einbußen. Zwar übernehmen die Jobcenter die meist fällige Mietkaution, diese muss aber in monatlichen Raten von bis zu zehn Prozent des Regelsatzes zurückgezahlt werden.«

Aber die Konflikte um eine passende Operationalisierung der Angemessenheit der Unterkunftskosten im Hartz IV-System werden bleiben. Natürlich gibt es aus den Reihen der Betroffenen bzw. der sie unterstützenden Organisationen immer wieder die Forderung nach einer vollständigen Übernahme der tatsächlich anfallenden Wohnkosten. Mit dieser Frage hat sich allerdings bereits und das für die Betroffenen enttäuschend das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. So muss hier eine Pressemitteilung des BVerfG aufgerufen werden, die bereits 2017  unter der Überschrift Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Begrenzung auf Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung veröffentlicht wurde:

»Vor den Sozialgerichten wird immer wieder darum gestritten, ob im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II die Kosten für die Wohnung nicht nur in „angemessener“, sondern in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Das Sozialgesetzbuch beschränkt die Erstattung auf „angemessene“ Aufwendungen. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden, dass diese Begrenzung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber muss keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Wohnungskosten vorsehen. Die Regelung ist auch ausreichend klar und verständlich. Damit hat der Gesetzgeber seiner aus der Verfassung herzuleitenden Pflicht genügt, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.«

In dem Beitrag  Immer wieder Konflikte um die Unterkunftskosten der Hartz IV-Empfänger. Und eine eigenartige Seitwärtsbewegung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. September 2018 wurde dann genauer ausgeführt, dass es neben dieser Veröffentlichung auch noch eine nicht-veröffentlichte Nicht-Annahmeentscheidung des BVerfG gab hinsichtlich einer dem hohen Gericht vorgelegten Verfassungsbeschwerde, die die „Angemessenheitsobergrenze“ zum Gegenstand hatte, zurückgewiesen. Die Beschwerdeführer hatten sich auf das „Hartz-IV-Urteil“ des BVerfG vom 9.2.2010 berufen (vgl. dazu BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09). Die „Angemessenheitsobergrenze“ sei eine willkürliche Festlegung des BSG. Das sei mit der Rechtsprechung des BVerfG zum Grundsicherungsrecht nicht vereinbar, so die Argumentation der Beschwerdeführer.

Die Nicht-Annahmeentscheidung des BVerfG ist hier deshalb von Relevanz, weil das BVerfG die Rechtsprechung des BSG zur „Angemessenheitsobergrenze“ kritisch hätte prüfen müssen vor dem Hintergrund der Leitsätze aus dem wegweisenden Hartz IV-Urteil aus dem Jahr 2010, denn dort heißt es: »Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.«

Warum das problematisch ist? Das BSG entscheidet in ständiger Rechtsprechung, dass auch dann, wenn ein Jobcenter kein schlüssiges Konzept vorlegt, eine Angemessenheitsgrenze gelte: nämlich die vom BSG so genannte „Angemessenheitsobergrenze“, die das BSG aus § 12 WoGG ableitet. Daraus entspringt nach Auffassung von Harald Thomé ein Widerspruch zu den Anforderungen des BVerfG, denn: »Es handelt sich hier um eine „gegriffene Größe“ – mit anderen Worten: um eine freie Schätzung des BSG, die gar nicht den Anspruch erhebt, transparent und sachgerecht ermittelt zu sein.« Das hat Folgen: Dieses vom BSG geöffnete Scheunentor wird auch gerne genutzt: »Viele Jobcenter haben erkannt, dass die Angemessenheitsgrenzen, die sie durch ein schlüssiges Konzept ermitteln, höher ausfallen müssten als die „Angemessenheitsobergrenze“, die aus der Höchstbetragstabelle des § 12 WoGG abgeleitet wird. Insgesamt verzichtet rund ein Fünftel der Jobcenter von vorneherein darauf, ein schlüssiges Konzept zu erstellen, und wendet stattdessen die Höchstbetragstabelle aus § 12 WoGG an.« (Anmerkung: Die von Thomé zitierten Werte sind der Studie von Malottki et al. 2017 entnommen).

Die Nichtannahmeentscheidung erging jedoch ohne Begründung (Beschluss vom 10.10.2017, 1 BvR 944/14 – nicht begründeter Nichtannahmebeschluss). Dazu Thomé: »Das legt den Schluss nahe, dass das BVerfG einerseits die willkürliche Setzung des Bundessozialgerichtes, auf der die Angemessenheitsobergrenze beruht, nicht in Frage stellen wollte, sich aber andererseits nicht in der Lage sah, dieses Ergebnis widerspruchsfrei zu begründen.« So ist das wohl und man muss es hier erwähnen, falls die einen oder anderen Hoffnungen haben sollten, dass man über das Bundesverfassungsgericht die von vielen beklagten Willkürlemente beseitigen könnte. Karlsruhe verweigert (nicht nur) in diesem Fall die Annahme und möchte nicht behelligt werden mit solchen Fragen, die sich aber sehr wohl ableiten lassen aus der Rechtsprechung des BVerfG, konkret aus dem Jahr 2010. Aber das ist ja auch schon lange her und wahrscheinlich würde bei der heutigen Zusammensetzung des Gerichts eine solche fundamentale Entscheidung nicht mehr gewagt werden.

 

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