Die Katastrophe verhindern – den Krieg Erdoğans stoppen

 In FEATURED, Politik

Erklärung von medico international: Die drohende Katastrophe verhindern.

„In Nordsyrien/Rojava droht eine humanitäre und politische Katastrophe“, lautet der erste Satz einer aktuellen Erklärung der internationalen Hilfsorganisation medico international: Zu den Unterzeichner*innen gehören unter anderem die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek,  die englische Designerin Vivienne Westwood und die Philosph*innen Nancy Fraser aus den USA und Étienne Balibar aus Frankreich. Es ist ein Appell an alle, den drohenden Krieg Erdoğans gegen die selbstverwalteten Gebiete in Rojava zu verhindern und endlich den tödlichen Deal der EU-Migrationspolitik mit dem türkischen Regime zu beenden. HdS veröffentlicht die Erklärung Die Katastrophe verhindern:

„Die Bilder jesidischer Männer und Frauen, die 2014 von kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vor dem bereits begonnenen Genozid gerettet wurden, werden wir nicht vergessen. Nicht auszuschließen aber, dass wir bald Bilder sehen müssen, die uns kurdische Opfer zeigen. Als die Jesiden vor den Augen der Weltöffentlichkeit von ihren Peinigern überfallen wurden, waren sie von allen Mächten dieser Welt verlassen – außer von den Kurdinnen und Kurden. Letztere trugen auch während der vergangenen Jahre die Hauptlast des Kampfes gegen den Islamischen Staat, etwa 10.000 ihrer Kämpferinnen und Kämpfer haben ihr Leben verloren. Nun könnte es sie selbst treffen: nicht zum ersten Mal. Seit der Ankündigung des Abzugs der US-Truppen droht die Türkei mit dem Einmarsch ihrer Armee in Rojava, die mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebiete des syrischen Nordens. Präsident Erdogan hat vor der syrischen Grenze bereits 80.000 Soldaten und seine Luftwaffe in Stellung gebracht. Es ist absehbar, dass es niemanden gibt, der den Bewohnerinnen und Bewohnern Nordsyrien beistehen wird. Wir melden uns deshalb heute zu Wort, um Europa aufzufordern, der angekündigten humanitären und politischen Katastrophe in den Weg zu treten.

Kommt es zur Eroberung Rojavas, werden die türkische Armee und verbündete dschihadistische Milizen wiederholen, was sie im Januar 2018 mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der kurdischen Region Afrin begonnen haben. Dort nutzen sie die Flucht von weit über 100.000 Menschen für ein systematisches Umsiedlungsprogramm. Dasselbe geschah 2016 bereits in kurdischen Städten im Südosten der Türkei, die von türkischen Kampffliegern zuvor massiv bombardiert wurden. Aus Rojava aber wird niemand mehr fliehen können: für die Menschen dort wird es keinen sicheren Ort mehr geben.

Mit einer Eroberung Rojavas würde der dort seit mittlerweile sechs Jahren voranschreitende Demokratisierungsprozess zerstört. Die Selbstverwaltung Nordsyriens war nie und ist auch heute keine bloß kurdische, sondern eine multiethnische und multireligiöse Selbstverwaltung. Unter den widrigen Bedingungen einer vom Krieg verwüsteten Region können ihre Bürgerinnen und Bürger frei ihren Ansprüchen auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität folgen. Es gab und gibt demokratische Wahlen, die Medien haben mehr Rechte als in den anderen Teilen Syriens. Die Bemühungen um den Aufbau einer Basisgesundheitsversorgung sind außerordentlich und gelten auch den mehreren hunderttausend Menschen aus Syrien und dem Irak, die dort Zuflucht gefunden haben. Im Unterschied zu den anderen Kriegsparteien in Syrien hat sich die nordsyrische Selbstverwaltung Vorwürfen von Menschenrechtsverbrechen gestellt und sich auf internationale Prozesse ihrer Überprüfung eingelassen.

Um sich mit Erdoğan zu arrangieren, verhandeln die USA jetzt über die Einrichtung einer sogenannten Schutzzone. Doch bildet die in Frage stehende Region das Zentrum des mehrheitlich kurdischen Siedlungsgebiets einschließlich der Städte Kobanê und Qamischli. Sie türkischen Truppen zu öffnen, heißt, die Menschen Nordsyriens jeden Schutzes zu berauben.

Deshalb müssen die verbliebenen diplomatischen Möglichkeiten genutzt werden, um die vor aller Weltöffentlichkeit angekündigte Katastrophe abzuwenden. Nach Lage der Dinge hängt dabei viel an der Europäischen Union, die mit Frankreich, Großbritannien, Belgien und Deutschland im UN-Sicherheitsrat vertreten ist. Wir appellieren an die europäischen Regierungen, dazu alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen. Das muss die entschlossene Bemühung um eine gesamtsyrische Friedenslösung einschließen, zu der auch gehört, die zweite angekündigte Katastrophe zu verhindern, einen Vernichtungsfeldzug Assads und seiner Verbündeten gegen die Provinz Idlib. Eingekesselt sind dort eben nicht nur dschihadistische Milizen, die sich vieler Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht haben. Eingekesselt sind auch Millionen von Zivilistinnen und Zivilisten. Zu ihnen gehören auch viele Angehörige der demokratischen Opposition, die bereits einen langen Leidensweg aus Krieg und Verfolgung hinter sich haben.

Statt Erdogans Diffamierung der Kurden und überhaupt aller Oppositionellen als „Terroristen“ zu flankieren, sollte die die EU die Kooperation überprüfen, die sie in der Migrationspolitik mit Ankara eingegangen ist. Dies richtet sich insbesondere an die deutsche Regierung, die bereits das Zeigen kurdischer Symbole verbietet. Im Gegenzug ist das Recht von Menschen aus Syrien, in Deutschland und Europa Schutz vor ihren Verfolgern zu finden, ausdrücklich zu garantieren. Das läge auch im eigenen Interesse: Wer demokratische Prozesse schwächt oder gar zerstört, indem er autoritären Regimes freie Hand lässt, wird diese Welt für niemanden sicherer machen können.“

UNTERZEICHNER*INNEN:

Elfriede Jelinek, Schriftstellerin / Österreich
Axel Honneth, Philosoph / Deutschland, USA
Milo Rau, Regisseur, Theaterautor / Schweiz, Belgien
Leyla Imret, abgesetzte Bürgermeisterin von Cizre / Türkei, Deutschland
Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin, Präsidentin der HUMBOLDT VIADRINA Governance Platform / Deutschland
Nancy Fraser, Philosophin / USA
Vivienne Westwood, Designerin / England
Sandro Mezzadra, Politikwissenschaftler / Italien
Étienne Balibar, Philosoph / Frankreich

https://www.medico.de/kampagnen/die-katastrophe-verhindern/

https://www.medico.de/rojava/

 

Anzeigen von 4 Kommentaren
  • Peter Boettel
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    Es ist schlimm, was Erdogan dort anrichtet.

    Wo hören wir hier Proteste von Maas, Merkel oder der EU gegen diese Invasion? Wo bleiben die Sanktionen gegen dieses Regime in der Türkei?

    Die Annexion der Krim durch Russland, die ohne militärische Invasion und mit einer Abstimmung der Bevölkerung, die sich dann mit großer Mehrheit für den Anschluss an Russland aussprach, wird laufend verurteilt und und mit Sanktionen, die auch unserer Wirtschaft schaden, belegt.

    Aber Erdogan erhält Milliarden zur Aufrüstung und wird dazu mit Waffen beliefert

  • Ruth
    Antworten
    Eine Welt, wo offenbar alle moralischen Grenzen aufbrechen und brutales Töten jeden Abend über unsere Bildschirme konsumiert wird!

    Die Weltgemeinschaft, zurückgefallen in die Barbarei!

    Und dann wird hier – Gott sei Dank nur vereinzelt – von notwendigen kriegerischen Auseinandersetzungen geschrieben – umschrieben mit bedauerlichen   Kollateralschäden – noch nicht – wenn so kommentiert werden sollte, dann dürfen wir auch von den Verantwortlichen nichts befriedendes erwarten!

     

  • heike
    Antworten
    Ich habe im Fernsehen einen Bericht gesehen, in dem über die militärische Ausbildung von Kurden durch die Bundeswehr im Irak erzählt wurde. Also werden die Kurden durchaus von der Bundesrepublik unterstützt. Der richtigere Weg wäre sicher, die Türkei (durch ein Ultimatum? durch die Androhung von Sanktionen?) zu einem Rückzug aus den besetzten Gebieten zu bewegen.

    Dann sanktioniert Deutschland die Türkei – was tut die Türkei daraufhin? Mit Trump koillieren und seine Mittelstreckenraketen aufstellen?

    Was will die Türkei überhaupt in den kurdischen Gebieten? Das ist mir nicht klar, auch die Geschichte der Kurden nicht. Nur insofern, dass die Kurden seit Jahren um ihre Autonomie kämpfen.

  • heike
    Antworten
    Ich finde dieses Menschengeschlecht etwas absonderlich, könnte man wohl ein Märchen beginnen. Ich weiß nicht, warum immer und immer wieder Kriege und Unterdrückungen von Völkern oder bestimmten Menschengruppen stattfinden müssen. Ja, das ist abzulehnen. Aber wie dagegen angehen? Zuallererst könnte man es auf dem politischen Parkett verurteilen. Welche Machtgefüge spielen im Hintergrund eine Rolle, dass das nicht geschieht? Meiner Meinung nach ist es noch immer die USA, die unsichtbar im Hintergrund steht und bestimmt, welche Worte gerade noch gesprochen werden können und welche nicht. Wenn sich die Welt zum Friedlicheren hin ändern soll, dann muss sich die Macht derjenigen verringern, die mit Gewalt und durch Unterdrückung ihre Ziele (die da wären Macht und Reichtum) durchsetzen.

    Ich hoffe sehr, dass unsere Regierung auch nach den Wahlen bei ihrer Absage einer kriegsvorbereitenden Mission in der Straße von Hormus bleibt.

    Und man kann sich sicher auch gegen die Unterdrückung der Kurden durch die Türkei aussprechen – das wäre ein Anfang.

     

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