Die letzte Freiheit

 In FEATURED, Politik, Spiritualität

Ist Religion ein geistiges Gefängnis oder kann sie auch frei machen? Wie ist das Verhältnis zwischen organisierter Religion und weltlicher Obrigkeit? Sollten freiheitlich und sozial denkende Menschen nicht eher auf der sicheren Seite bleiben und als Atheisten und Agnostiker ohne spekulative Glaubensvorstellungen an der Verbesserung der Situation im Diesseits mitarbeiten? Das ist sicher legitim. Viele spirituelle Menschen schöpften aber gerade aus ihrer Anbindung an etwas “Höheres” die Kraft, die Niederungen des politischen Flachlands mit Würde zu durchschreiten – innerlich frei, auch wenn äußerlich noch viel im Argen liegt. Denn wenn die sichtbare Welt nicht “alles” ist, dann ist auch die Bedeutung der Mächtigen dieser Welt nur eine sehr relative. Auszug aus dem Buch “Strategien der Macht”. Roland Rottenfußer

 

Franz Jalics war ein Jesuit ungarischer Herkunft. 1974 ging er in das Slumviertel Bajo Flores bei Buenos Aires (Argentinien), um dort unter den Armen zu leben. Nach dem Militärputsch im Mai 1976 wurde Jalics aus bis heute nicht ganz geklärten Gründen verhaftet und eingekerkert. Vielleicht hatte sich ein Mitbruder im damaligen argentinischen Bürgerkrieg der linken Guerilla angeschlossen, was die Jesuiten den neuen Machthabern verdächtig machte. Franz Jalics verbrachte insgesamt fünf Monate gefesselt und mit verbundenen Augen in Gefangenschaft – eine unvorstellbare Situation, in der er von einem Wechselbad quälender Gefühle und Bilder heimgesucht wurde.

Doch der Jesuit besaß ein Gegenmittel gegen den Wahnsinn, den Hass und die Verzweiflung: das Jesusgebet. Es bestand aus nichts anderem als der permanenten inneren Wiederholung des Namens »Jesus Christus«. Jalics hatte sich als junger Priester nach neuen Formen christlicher Spiritualität umgesehen und war dabei auf das Jesus-Gebet gestoßen, das schon die frühen Wüstenmönche angewandt hatten, um einen Zustand inneren Friedens zu erreichen. In der Langfassung lautete das Gebet: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner«. Jalics sprach allein den Namen des Religionsstifters aus: Jesus Christus. In Tausenden von Wiederholungen der Formel rang er um Vergebung für seine Peiniger und überlebte – auch psychisch – in einem einigermaßen gesunden Zustand. Er empfand die fortwährende Anrufung des Namens als Prozess der Läuterung und entwickelte aufgrund seiner Erfahrungen eine eigene Schule kontemplativer Exerzitien.[i]

Diese wahre Geschichte ist insofern interessant, als sie eine Antwort auf die Frage darstellt: »Wozu sind spirituelle Übungen gut?« Spiritualität oder Religion erscheinen durch sie in einem neuen Licht. Was, wenn jemand im Gefängnis sitzt und nicht die geringste Aussicht hat zu entkommen? Wie kann er es in einer solchen Situation schaffen, den Mut nicht zu verlieren, den intakten Kern seiner Persönlichkeit zu bewahren, seinen Peinigern somit in gewisser Weise den Sieg zu entreißen? Viele von uns fühlen sich auch auf freiem Fuß »wie im Gefängnis«, jedenfalls was ihre politischen Handlungsoptionen betrifft. Gerade in Corona-Zeiten sind wir umgeben von Mauern juristisch sanktionierten Unrechts, von der Ignoranz der meisten Mitmenschen, die als Mitstreiter kaum zu gewinnen sind, von lauter Blockaden und Unmöglichkeiten, die den politischen Widerstand schon im Keim ersticken. Es mögen in vieler Hinsicht nur Denkgefängnisse sein – und doch ist unsere Situation in einer Fassadendemokratie mit gefügiger Mehrheit, einer rigiden Staatsmacht und Gesetzen, die fast immer gegen uns sind, der in einem Gefängnis nicht unähnlich – einem Gefängnis mit größeren Zellen vielleicht.

Was tun, wenn alle Wege versperrt scheinen und alles, was getan werden könnte, nicht zum Ziel führt? Eine Möglichkeit besteht darin, zunächst den Blick vom Tun selbst wegzulenken. Es ist nicht unbedingt politischer Defätismus und typisch spirituelle Weltfremdheit, wenn man feststellt: Meditation eröffnet Räume innerer Freiheit, wo die äußere – derzeit – nicht möglich scheint. Spirituelle Übungen können dabei helfen, dass man sich unter widrigsten Umständen nicht brechen lässt. Und wer es als Ungebrochener schafft, wieder freizukommen, besitzt die Kraft und Integrität, um weiter für eine gerechtere Welt, eine Welt möglichst ohne Gefängnismauern einzutreten.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich will nicht darauf hinaus, dass alle – quasi als Quintessenz meiner bisherigen Ausführungen – spirituell werden »müssen«. Für wichtig halte ich es aber, dass sich möglichst viele einen Zugang zu einem »inneren Bezirk« schaffen, einem Persönlichkeitsinnenraum sozusagen, der prinzipiell unverletzlich ist und eingebunden in einen größeren Zusammenhang. Wo das Problem zum großen Teil in einer geistigen Atmosphäre des Materialismus liegt – man denke nur an die transhumanistischen Angriffe auf unsere Menschlichkeit –, liegt es nahe, dass die Lösung keine materialistische sein kann.

Was die offiziell für Spiritualität zuständigen Institutionen in unserer Gesellschaft angeht, halte ich zum Beispiel die katholische Kirche mit ihren strikt hierarchischen Strukturen, dem Verbot der Frauenpriesterschaft, dem Mammonismus der Vatikanbank, dem seelenverformenden Herumreiten auf der Fiktion einer zutiefst sündigen Menschheit für ausgesprochen problematisch. Über andere institutionelle Religionen ließe sich mit unterschiedlichen Akzenten Ähnliches sagen. In Corona-Zeiten konnten wir vielerorts das peinliche Spektakel beobachten, dass sich zuvor universell offenstehende Einrichtungen in speziell auf Geimpfte spezialisierte Erlösungsangebote verwandelten. Sowohl Kirchen, katholische wie evangelische, als auch buddhistische Einrichtungen wurden vielfach auf 2G umgestellt und unterschieden sich somit, was den Grad ihrer Widerständigkeit betrifft, nicht von einem beliebigen Fast-Food-Restaurant.

Ich habe aber ebenso erlebt, wie sich viele spirituell geprägte Einzelpersonen in meinem Umfeld kritischer zur herrschenden Corona-Politik äußerten als beispielsweise die eingebettete Linke, zu deren politischer DNA ja eigentlich der Habitus des Rebellischen gehört. Der Grund könnte darin liegen, dass der Persönlichkeitsschwerpunkt spirituell interessierter Menschen nicht allein im Bereich des Opportunen, Effizienten und »Machbaren« liegt, sondern vielmehr in einem Bereich, der zwar in, jedoch nicht unbedingt »von dieser Welt« ist. Darüber wurde und wird viel gespottet: die weltfremden und abgehobenen Religionen. Aber fragen wir andersherum: Woher soll, wenn praktisch der ganze Erdboden mit einem Grauschleier aus Zweckdenken überzogen ist, das Wissen kommen, dass da auch noch das Blau einer unerhörten Freiheit existiert?

Spirituelle Menschen stehen bei Linken in dem Ruf, verhuschte »Diesseits-Drückeberger« zu sein. Auf den jüdisch-amerikanischen Zen-Meister Bernard Glassman trifft das jedenfalls nicht zu. »Sie waren der Meinung, als Zen-Lehrer sollte ich meine Zeit besser darauf verwenden, Menschen zur Erleuchtung zu geleiten. Ich bin jedoch der Meinung, dass man Menschen, die hungern, zuerst einmal etwas zu essen geben sollte«, schrieb Glassman.[ii] Gesagt, getan. »Bernie«, wie ihn seine Anhänger nennen, verzichtete auf seine Karriere als »Berufserleuchteter« seiner Zen-Schule. Berührt vom Schicksal der vielen Obdachlosen in New York gründete er die Greyston Bakery. Die brachte den Wohnungslosen nicht nur Brot, sondern auch Jobs – und sozialen Projekten hohe Zuschüsse aus dem Verkauf der leckeren Backwaren. »Greyston« wurde in kurzer Zeit zu einem ebenso ethisch wie ökonomisch erfolgreichen Musterbetrieb. Sollten solche Beispiele den Spöttern nicht zu denken geben?

In der Tat haben die katholische wie die evangelische Kirche ihre Schäflein allzu oft im Sinne eines Paulus-Zitats indoktriniert: »Jedermann sei Untertan der Obrigkeit.« (Römer, 13,1) Und so mancher fromme Kirchenmann war nicht wählerisch, wenn es um die Unterstützung der jeweiligen Machthaber ging. Wo nicht integre geistige Führer agieren, ist die Kirche eben unter dem Nationalsozialismus »deutsch«, unter sozialistischer Herrschaft den Arbeitern und Bauern zugetan, in einer Demokratie den Werten der Demokratie verpflichtet und in Corona-Zeiten eben coronakonform. Spiritualität in ihrer Gesamtheit abzulehnen ist jedoch ebenso sinnlos wie Politikverdrossenheit mit Blick auf einen Biden, Erdogan oder Scholz. Die Schattierungen innerhalb der Politik wie der Spiritualität sind so mannigfaltig, dass sich jede Verallgemeinerung verbietet.

Aber trifft der Vorwurf nicht doch zu, dass Religionen vor allem »Weltfluchthelfer« sind? Tatsächlich gibt es ebenso viele Belege für das Gegenteil. Der evangelische Pastor Dietrich Bonhoeffer, der wegen seines widerständigen Verhaltens 1945 von den Nazis ermordet wurde, vertrat ein entschieden diesseitiges Christentum: »Der Mensch, der die Erde verlassen will, der heraus will aus der Not der Gegenwart, der verliert die Kraft, die ihn durch ewige geheimnisvolle Kräfte immer noch hält. Die Erde bleibt unsere Mutter, wie Gott unser Vater bleibt.«[iii] Persönlichkeiten wie Bonhoeffer machen deutlich, dass spirituelle Menschen nicht nur zur gesellschaftlich relevanten Aktion in der Lage sind, sondern dass ihnen ihr Glaube zusätzlich eine besondere Kraft verleiht. »Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können«, sagt Jesus im Matthäus-Evangelium (10, 28) – eine Ermutigung für jeglichen durch das Gewissen begründeten Widerstand gegen die Obrigkeit.

Wir erkennen anhand der Corona-Hysterie deutlich, wie schädlich es ist, den Tod mehr zu fürchten, als dies für ein lebendes und sein Leben liebendes Wesen normal und gesund ist. Den Tod ganz unbedingt auszuklammern, ihn um buchstäblich jeden Preis – etwa um den Preis der Würde und Freiheit aller – ausklammern zu wollen, führt zu jener angstgetriebenen Verleugnung des Lebens, deren Zeuge wir in den letzten Jahren sind. Religion sollte die Bedeutung irdischer Machtverhältnisse relativieren. Sie sollte Menschen mit einer inneren Instanz in Kontakt bringen, die nicht korrumpierbar, nicht erpressbar ist. Religion sollte eine Perspektive jenseits ökonomischer und physischer Zwänge aufzeigen. Eine Religion, die nicht befreit, ist eine Religion, von der sich die ihr Unterworfenen befreien müssen.

Spiritualität wird politisch vielfach als irrelevant, ja sogar kontraproduktiv betrachtet. Dabei sehen Aktive meist nur die eine Seite: das Fehlen lauten und auftrumpfenden Protests. Wenig wahrgenommen wird dagegen das Widerstandspotenzial, das in der Verweigerung liegt, im Sich-Entziehen und in der radikalen gedanklichen Dekonstruktion des gesellschaftlich Vorgegebenen. Im günstigsten Fall wird daraus eine Lebenshaltung, die den spirituellen Menschen unbestechlich und unerpressbar macht. Er bleibt dann ganz seinem Gewissen verpflichtet und einem Ideal, das teilweise »überweltlich« verstanden wird, jedoch gestaltend in diese Welt hineinwirkt.

Im Prozess des spirituellen Wachstums werden Menschen mitunter immer einfacher, immer weniger ambitioniert und somit auch immer weniger leicht manipulierbar. Natürlich versuchen sie weiter, dem zu dienen, was sie für gut und wichtig erachten: der Sache der Gerechtigkeit, des Friedens oder der sozialen Güte. Aber sie sind nicht mehr so fixiert auf das Gelingen. »Das letzte Kriterium der Beteiligung an widerständigem, solidarischem Verhalten kann nicht der Erfolg sein, das hieße immer noch, nach der Melodie der Herren dieser Welt zu tanzen«,[iv] sagte die Mystikerin und Buchautorin Dorothee Sölle. Wer verbissen und gehässig auf das Niederringen des Gegners fixiert ist, dessen Züge verzerren sich bereits und er wird dem vermeintlich Bösen immer ähnlicher. Eine Leistungs-, Wettbewerbs- und Effizienz-Ideologie schleicht sich dann ausgerechnet im »antikapitalistischen« Kampf ein – wo es doch gerade diese Ideologie ist, an der unsere Welt krankt. Ähnlich kann auch der Kampf für die Freiheit, sofern wir uns durch gedankliche Fixierung an ihn gekettet fühlen, unfrei machen, andere schöne und nährende Aspekte des Lebens wahrzunehmen oder irgendeine andere Perspektive als die des »finsteren« Tales zu sehen, das zu durchschreiten uns der politische Gegner zwingt.

Eine mystische und authentische, zugleich unangestrengt engagierte Lebensweise kann gegen die Verlockungen und Zwänge des »modernen« Lebens immunisieren – zumindest innerlich, sodass wir uns, wo wir unfrei sind, nicht auch noch dumm machen lassen und verliebt in unsere Ketten. Unter »mystisch« verstehe ich hier: auf das unmittelbare und eigene Erleben konzentriert, losgelöst von vermittelnden und verfälschenden Instanzen (Medien, technische Geräte, Autoritäten), eingebunden in einen Kontext, dessen Bedeutung unser kleines Leben übersteigt.

Wir können umgekehrt fragen: Was steht einer solchen Lebensweise am meisten im Weg? Was sollten wir auf keinen Fall tun, wollen wir uns selbst – unser Selbst – bewahren? Besonders schädlich sind aus meiner Sicht:

  • eine endlose Verstrickung in Kampfgetümmel und der verbissene Wunsch, Gegner »niederzuringen«,
  • eine nicht integrierende, sondern ausschließende, »rechthaberische« Geisteshaltung,
  • ein zielorientiert durchorganisierter Alltag nach Kriterien des »Zeitmanagements« und der Effizienz,
  • Überladung mit intellektuellem Input aller Art (Informationen aus Print- und Online-Medien, Fernsehen usw.), sodass Selbstbesinnung schwer wird,
  • der Wunsch, »etwas zu werden«, um Macht über möglichst viele Menschen auszuüben,
  • der Wunsch, gesellschaftlich etwas »darzustellen«, sich »beliebt zu machen« als Basis zum Erreichen der angestrebten Position,
  • Orientierung an der gegebenen ökonomischen und gesellschaftlichen Realität als einzige Denk- und Handlungsgrundlage,
  • die Annahme, der Mensch sei Quelle und zugleich einziges Ziel jeder Ethik, sodass Rücksichtnahme auf »niedere« Lebensformen (Pflanzen, Tiere, die Erde), aber auch auf »höhere« Inspiration (theistisch gesprochen: auf Gott) unnötig sei.

Damit ist auch die vorherrschende Charakterstruktur unserer Politiker unter den Bedingungen interessengeleiteter Politik beschrieben. Und das gilt für linke Politiker nicht weniger als für rechte und neoliberale. Bezüglich ihrer Mentalität und Lebensweise, ihrer fundamentalen Werte und Einstellungen gleichen die »Lager« einander weitaus mehr, als sie sich voneinander unterscheiden. Linke, die sich nach erfolgter politischer Befreiung in ihrer eigenen Ideologie verbarrikadiert haben, tanzen wie alle anderen »nach der Melodie der Herren dieser Welt« (Dorothee Sölle). Sie sind selbst zu unfrei, um andere befreien zu können. Mag die Farbe ihrer geistigen Gestalt eine andere sein als etwa bei Neoliberalen, die Form ist doch die gleiche: jene der Rechthaberei, des Gewinnenwollens, des Zweckdenkens und des pragmatischen Materialismus.

Volksvertreter meinen vielleicht subjektiv wirklich, das »unter diesen Umständen« Richtige zu tun. Grundlage jeder Politik ist für sie stets »die Realität«. Realität aber ist nichts Fixes, sie ist etwas von Menschen aufgrund von Interessen und Machtstrukturen Erschaffenes. Wer sich ihr vermeintlich »anpasst«, stärkt und verewigt sie. Er hilft, jenen Anpassungsdruck immer neu zu erzeugen, dem sich auch künftige Generationen werden unterwerfen müssen. Realpolitik dreht sich stets im kleinen Kreis des »Möglichen«, also von den Mächtigen Erlaubten, und verschließt die Fenster vor jeglicher Frischluftzufuhr durch das Neue und Ungeahnte. Politik, auch linke Politik, ist ihrem Wesen nach Selbstzensur mit der Machbarkeitsschere, ist institutionalisierte Perspektivlosigkeit.

Das Neue, Heilsame, das, was Gewohntes aufbricht und zum Aufbruch ermutigt – es wird nicht aus der Sphäre der Politik kommen. Vielmehr setzt es eine radikal unpolitische Lebenshaltung voraus:

  • die Fähigkeit, sich Zwängen um der Selbstidentität willen zu entziehen,
  • die Fähigkeit, Gegensätze zusammenzudenken und zu vereinigen, statt zu spalten,
  • groß zu sein aus Demut und realistisch genug, um auch dem »Unmöglichen« Einlass in den eigenen Geist zu gewähren,
  • das Wissen um die Unauftrennbarkeit des Universums und allen Lebens,
  • die Fähigkeit schließlich, in größeren Zusammenhängen und Synthesen zu denken und das kleine menschliche Schicksal als von höheren (oder tieferen) Kräften beeinflusst zu erkennen.

Man muss diese Geisteshaltung nicht »Spiritualität« nennen. Es gibt wunderbare, sehr integre und engagierte Menschen, die sich selbst als irreligiös verstehen. Aber zu vielem, was heute Not tut, schafft Spiritualität eine besonders gut begehbare Brücke. Der Kern jeden Widerstands liegt darin, sich selbst zu bewahren. Denn wer sollte sinnvollerweise widerstehen, wenn da eigentlich niemand mehr ist, der Stehvermögen besitzen könnte? Dieses Selbst muss nicht, aber es kann durch Spiritualität gestärkt werden. »Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten«, formulierte es Goethe.[v]

Ich möchte noch einen weiteren Aspekt anführen, warum es hilfreich ist, den Fokus auf Spiritualität zu lenken, denn der Mangel daran beziehungsweise die Abwendung von ihr könnte dem Problem pathologischer Machtausübung zugrunde liegen. Die Herauslösung aus primären Bindungen an Sippe und Nation, aus dem Ökosystem, dessen Teil wir sind, und nicht zuletzt aus den Zusammenhängen traditioneller religiöser Bindungen ruft in vielen Menschen Einsamkeitsgefühle hervor. Dies kann zur Entstehung von Gemeinschaften mit ungesunder Beziehungsdynamik führen, in denen die defizitäre Persönlichkeit dominiert (sadistische Variante) oder sich unterwirft (masochistische Variante). Aus einer religiösen Haltung heraus stellt die Anbindung an Gott oder an das Göttliche selbst die zentrale Kraftquelle des Menschen dar. Wenn eine solche Kraftquelle einem Menschen nicht zugänglich ist, kann es passieren, dass er mangels anderer Quellen zum Energieräuber wird – oder zum Machthaber, was auf dasselbe hinausläuft.

Daher können die destruktiven Erscheinungsformen der Machtausübung wie auch der Duldung von Macht durch die Unterworfenen aus einem spirituellen Defizit heraus erklärt werden. Machtmissbrauch in einem religiösen Amt wäre somit der Beweis der Nicht-Authentizität der priesterlichen Attitüde des Betreffenden. Macht missbraucht nur, wer »es nötig hat«. Stellen wir uns eine neue geschichtliche Ära vor, in der authentische, mystische Spiritualität wieder weitere Verbreitung findet, die aber die institutionellen, hierarchischen und psychisch gewalttätigen Erscheinungsformen der Religion hinter sich gelassen hat. Innerlich freie Menschen hätten ihre Ängste wie auch ihre Konformitätsbedürfnisse und ihre peinliche Neigung zur Anbetung der Macht überwunden. Sie träfen auf Personen in verantwortlichen Positionen, die in gesunder Demut ohne destruktive Machtlust agierten – ohne das krankhafte Bedürfnis also, die Löcher in der eigenen Seele mit geraubter Energie der von ihnen Beherrschten aufzufüllen.

Sicherlich ist dies eine eher unkonkrete, schwer realisierbare Vision. Sie würde aber mit jedem Schritt, mit dem wir uns auf sie zubewegen, eine wirkliche Veränderung in der Tiefe bewirken.

 

 

i] Diese Geschichte ist entnommen aus: Emmanuel Jungclaussen: Das Jesusgebet, Friedrich Pustet, Regensburg 2018

[ii] Bernard Glassman, Anweisungen für den Koch. Lebensentwurf eines Zen-Meisters, edition Steinrich, Berlin 2010

[iii] Dietrich Bonhoeffer in einem Gemeindevortrag in Barcelona, 1928/1929, https://www.reich-gottes-jetzt.de/reich_gottes/basileiologie/die-botschaft-jesu-vom-reich-gottes-48-woche/

[iv] Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand, Hoffmann & Campe, Hamburg 1998

[v] Johann Wolfgang Goethe, Gedicht »Beherzigung«, https://www.projekt-gutenberg.org/goethe/gedichte/chap051.html

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