Die letzte Wahl

 In Politik, Umwelt/Natur

Pulitzer-Preisträger Chris Hedges stellt klar, dass sich die Menschheit entweder gegen die herrschenden Eliten erhebt — oder untergehen wird. Trotz der immer sicht- und spürbarer werdenden Auswirkungen des Klimawandels und der anhaltenden Demonstrationen von Schülern und Aktivisten weltweit, bleiben die Eliten weiter unbeweglich. Sie sind zu Hütern eines kapitalistischen Systems der Ausbeutung ausgebildet — nicht, um eine sterbende Zivilisation zu retten. Das Altbewährte funktioniert nicht länger — es müssen neue Formen des Protestes und der Problembewältigung gefunden werden. Gewaltfreier, ziviler Ungehorsam ist nötig, um die tödliche Maschinerie des herrschenden Systems zu stoppen. Chris Hedges

Der weltweite Schülerstreik für das Klima am Freitag, dem 20. September 2019, wird ebenso wenige Auswirkungen haben wie die Massenmobilisierungen von Frauen nach der Wahl Donald Trumps und die hunderttausenden Demonstranten, die den Irakkrieg anprangerten. Das heißt nicht, dass diese Proteste nicht hätten stattfinden sollen. Im Gegenteil. Doch solche Demonstrationen müssen auf dem Boden der bitteren Realität stehen, dass wir in den Etagen der Macht nicht zählen.

Würden wir in einer Demokratie leben — was wir nicht tun —, dann hätten unsere Bestrebungen, Rechte und Forderungen, insbesondere die Forderung, dem Klimanotstand ins Auge zu sehen, ihre Auswirkungen. Dann könnten wir Repräsentanten an die Regierungsmacht wählen, damit sie Veränderungen durchführen. Dann könnten wir Umweltgerechtigkeit von den Gerichten einfordern. Dann könnten wir Ressourcen in die Beseitigung von CO2-Emissionen umverteilen.

Wahlen, Lobbyarbeit, Petitionen und Proteste, die die herrschenden Eliten dazu bewegen wollen, rational auf die Klimakatastrophe zu reagieren, haben sich als ebenso wenig effektiv erwiesen wie die Bitten von Skrofulose-Opfern an Henry VIII., sie durch königliche Berührung zu heilen. Die vertrauten Taktiken, die während der letzten Jahrzehnte von Umweltaktivisten eingesetzt worden sind, waren spektakuläre Misserfolge.

Im Jahr 1900 verursachte die Verbrennung fossiler Energieträger — hauptsächlich Kohle — etwa 2 Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Jahr. Diese Zahl hatte sich bis zum Jahr 1950 verdreifacht. Heute ist dieser Wert 20-mal so hoch wie 1900. Innerhalb des letzten Jahrzehnts verlief der Anstieg von CO2 100- bis 200-mal schneller, als es während der Übergangsphase nach der letzten Eiszeit auf der Erde geschah.

Am 11. Mai 2019 verzeichnete das Mauna Loa Observatory auf Hawaii 415,26 ppm CO2 in der Luft. Es wird angenommen, dass es sich dabei um die höchste Konzentration seit Entstehung der Menschheit handelt.

Wir werden uns ein neues Paradigma des Widerstands zu eigen machen müssen oder zugrunde gehen. Die herrschenden Eliten und die Konzerne, denen sie dienen, sind die Haupthindernisse für Veränderung. Sie können nicht reformiert werden.

Und das bedeutet Revolution, also das, was Extinction Rebellion meinen, wenn sie für den 7. Oktober 2019 zu einer „internationalen Rebellion“ aufrufen, bei der sie versuchen werden, Stadtzentren weltweit durch Akte anhaltenden, massenhaften zivilen Ungehorsams lahm zu legen.

Wir müssen die Macht übernehmen. Und da die Eliten ihre Macht nicht freiwillig abgeben werden, müssen wir sie uns durch gewaltfreie Aktionen nehmen.

Proteste können den Anfang politischen Bewusstseins bilden. Doch ebenso können sie leeres politisches Theater sein. Sie können dazu benutzt werden, unsere moralische Integrität zu feiern — Werbung für uns selbst, besonders im Zeitalter der sozialen Medien.

Sie können Mode-Aktivismus sein, bei dem sich Demonstranten durch Polizeibarrikaden schleusen lassen und Verhaftungen höflich choreographiert sind, zu ein paar Stunden im Gefängnis führen und die Demonstranten schließlich als Radikale qualifizieren. Sie können dazu benutzt werden, uns selbst von einer abstoßenden politischen Figur wie Donald Trump zu distanzieren, während wir stumm und mitschuldig bleiben, wenn scheinbar Progressive wie Barack Obama dieselbe Politik anwenden.

Dies ist ein Spiel, das der Staat zu seinem Vorteil zu spielen gelernt hat. So lange wir die Maschinerie nicht stören, so lange wir entsprechend ihrer Regeln protestieren, werden die Eliten uns mit rosa „Pussy“-Hüten durch die Straßen von Washington marschieren oder einen Tag lang die Schule schwänzen lassen.

Wenn ihre Macht gefährdet ist, beispielsweise durch anhaltende Proteste während der Occupy-Besetzungen und in „Standing Rock“ (Reservat in North und South Dakota, dort wurde seit 2016 gegen den inzwischen bewilligten Bau der „Dakota Access Pipeline“ demonstriert; Anmerkung der Übersetzerin), reagieren die herrschenden Eliten ganz anders:

Sie wenden das ganze Gewicht des Überwachungsstaates an, um die Demonstranten zu dämonisieren, die Führungsriege zu verhaften und festzusetzen und Agents Provocateurs einzuschleusen, die gewalttätige Angriffe ausführen, um den Einsatz von Polizei und Sicherheitskräften zur Niederschlagung der Proteste zu rechtfertigen.

Präventive Anstrengungen von Sicherheitskräften, die für Oktober geplante Besetzung von Stadtzentren der Extinction Rebellions zu torpedieren — eine Aktion, die entworfen wurde, um den Handel zu beeinträchtigen und Teile großer Städte zum Stillstand zu bringen —, haben bereits begonnen.

Roger Hallam, Mitbegründer von Extinction Rebellion, wurde am 14. September 2019 verhaftet und beschuldigt, mit einer Drohne versucht zu haben, den Flughafenbetrieb in Heathrow zu stören. Hallam hatte Heathrow „ein Verbrechen gegen die Menschheit“ genannt — von dem Klimaaktivisten sagen, er stoße 18 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr aus, mehr als die Emissionen von 118 Ländern zusammengenommen.

Er und andere Aktivsten haben dafür plädiert, die Pläne des Flughafens zum Bau einer dritten Landebahn zu stoppen. Hallams Anhörung wird am 14. Oktober 2019 vor dem Isleworth Crown Court in London stattfinden, was bedeutet, dass er nicht vor den Protesten vom 7. Oktober 2019 freigelassen wird. Darüber hinaus wurden in England weitere Organisatoren von Extinction Rebellion, darunter Andrew Medhurst, festgenommen sowie ihre Telefone und Computer von der Polizei beschlagnahmt.

Es spielt keine Rolle, wer das öffentliche Gesicht des Corporate State ist. Es geht hierbei nicht um politische Persönlichkeiten. Schließlich war es Obama, der die organisierten nationalen Anstrengungen zur Beseitigung der Occupy-Camps überwachte und die Wasserschützer in Standing Rock belagern ließ.

Obamas Umweltpolitik war erschreckend, trotz seiner Lippenbekenntnisse zur Eindämmung der Klimaerwärmung und seiner Unterstützung des unverbindlichen Pariser Klimaabkommens — welches der Klimawissenschaftler James Hansen als heuchlerische Mogelpackung bezeichnete.

Die Ölproduktion der USA stieg während seiner Amtsjahre um 88 Prozent. Es war der höchste Anstieg einheimischer Ölproduktion in der amerikanischen Geschichte. Obama ermöglichte US-Ölfirmen Offshore-Bohrungen, als sei er Sarah Palin.

„Die amerikanische Energieproduktion, auch wenn es Ihnen nicht immer bewusst war, stieg mit jedem Jahr, das ich Präsident war“, erzählte Obama letztes Jahr einem Publikum in der Rice University. „Und Sie sehen… plötzlich ist Amerika der größte Ölproduzent… das war mein Werk, Leute.“

Demokraten dienen, ebenso wie Republikaner, der Macht der Konzerne. Sie werden die Regierungssubventionen für die Industrien der Fossilenergie und Mineralgewinnung nicht einstellen.

Sie werden keine CO2-Steuern einführen, um fossile Energieträger im Boden zu halten. Sie werden übermäßigen Konsum nicht beschränken. Die Technologien, in die sie investieren — Fracking, Hybridautos, gentechnisch veränderte Nahrungsmittel — sind dazu gedacht, das Konsumlevel zu halten oder zu erhöhen, nicht um es zu verringern.

Sie werden die Billionen an Dollar sowie die wissenschaftliche und technische Expertise des militärisch-industriellen Komplexes nicht umlenken, um uns vor der Umweltkatastrophe zu bewahren. Die Rhetorik und die Gimmicks, die sie einsetzten, um die Öffentlichkeit zu besänftigen — von Kohlenstoffkrediten bis zu Windturbinen und Solarpanels —, sind, wie der Wissenschaftler James Lovelock sagt, das Äquivalent zu den Methoden von Ärzten im 18. Jahrhundert, die versuchten, schwerwiegende Krankheiten mit Blutegeln und Quecksilber zu heilen.

Die Schaffung immer komplexerer bürokratischer und technokratischer Systeme in einem Zeitalter schwindender Ressourcen ist ein Merkmal sterbender Zivilisationen. Zivilisationen, die sich in ihrer finalen Phase befinden, suchen krampfhaft nach neuen Ausbeutungsmethoden, statt sich an eine sich verändernde Umwelt anzupassen. Sie unterdrücken und berauben die Unterschichten auf immer rücksichtlosere Weise, um den unersättlichen Appetit der Eliten nach Macht, Luxus und Hedonismus weiter zu befriedigen.

Je schlimmer die Dinge werden, desto weiter ziehen sich die Eliten in ihre privaten Enklaven zurück. Je mehr die Eliten den Bezug zur Wirklichkeit verlieren, desto größer ist die garantierte Katastrophe. Dieser Prozess der Selbstzerstörung degradiert das Ökosystem, bis das desaströse System schließlich zusammenbricht.

Die herrschenden Eliten, ausgebildet in Wirtschaftsschulen und Managerlehrgängen, sind nicht dafür gerüstet, sich den existentiellen Problemen zu stellen, die durch die Klimakatastrophe ausgelöst werden. Sie sind dafür ausgebildet, die Systeme des globalen Kapitalismus aufrecht zu halten, koste es, was es wolle.

Sie sind Systemmanager. Es mangelt ihnen an den intellektuellen Fähigkeiten und der Vorstellungskraft, um nach Lösungen außerhalb der beschränkten Parameter des globalen Kapitalismus zu suchen.

Jene, die im globalen Süden leben, leiden und sterben bereits jetzt an den Effekten der weltweiten Erwärmung, für die die reichen Industrienationen des globalen Nordens die größte Verantwortung tragen.

Die reichsten 0,54 Prozent der Weltbevölkerung, das heißt, 42 Millionen Menschen, sind für mehr Emissionen verantwortlich als die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung, das heißt, 3,8 Milliarden Menschen. Diese Eliten opfern die Ärmsten des Planeten, während sie sich selbst in der sozialen und wirtschaftlichen Hierarchie emporarbeiten, um uns alle auszulöschen.

Wir müssen unseren unbeirrten Positivismus aufgeben, unseren absurden Hoffnungswahn, unseren naiven Glauben daran, mit Charakterstärke und Durchhaltevermögen könnten wir alle Probleme lösen. Wir müssen der Trostlosigkeit, die vor uns liegt, ins Auge blicken.

Wir leben in einer Welt, die durch die globale Erwärmung bereits massiv geschädigt ist, was sich unvermeidlich noch verstärken wird. Die Weigerung, sich an der weiteren Zerstörung des Planeten zu beteiligen, bedeutet einen Bruch mit traditioneller Politik.

Sie bedeutet Nicht-Kooperation mit den Autoritäten. Sie bedeutet, sich Konsumkapitalismus, Militarismus und Imperialismus auf jede mögliche gewaltfreie Weise zu widersetzen. Sie bedeutet, unseren Lebensstil anzupassen, inklusive des Wechsels zu einer veganen Ernährung, um die Kräfte auszubremsen, die auf unsere Auslöschung hinwirken. Und sie bedeutet Wellen anhaltenden zivilen Ungehorsams, bis die Maschinerie zusammenbricht.

Der Zustand der Biosphäre, darunter des Amazonasregenwalds, der Ozeane und der polaren Eiskappen, verschlechtert sich sichtbar. Hitzewellen lähmen Europa, Australien und den Südwesten der USA. Überflutungen verwüsten den amerikanischen Mittleren Westen.

Mitte September 2019 erlebte das südöstliche Texas schwere Überschwemmungen mit zahlreichen Toten, als es vom siebt-regenreichsten tropischen Zyklon der US-Geschichte getroffen wurde, bei dem manche Regionen innerhalb von drei Tagen mehr als einen Meter Regen abbekamen.

Monströse Hurrikans verwüsten die Karibik und die US-Küsten. Brände verschlingen die Wälder an der Westküste. Doch trotz der spürbaren Symptome des Klimanotstandes versichern die Eliten uns fortwährend, wir könnten weiter leben wie bisher.

Die mathematischen Modelle für die Zukunft des Planeten ergeben drei verheerende Verläufe: das massive Aussterben von etwa 70 Prozent der menschlichen Population und eine darauf folgende unsichere Stabilisierung; das Aussterben des Menschen und der meisten anderen Spezies; eine sofortige und radikale Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, um die Biosphäre zu schützen und sie vielfältiger und produktiver zu machen.

Dieses dritte Szenario, von dem die meisten Wissenschaftler glauben, dass es unwahrscheinlich ist, hängt von mehreren Faktoren ab: einem Stopp der Produktion und des Verbrauchs fossiler Brennstoffe, dem Wechsel zu einer pflanzenbasierten Ernährung, um die Industrie der Nutztierhaltung zu zerstören — die fast ebenso viele Treibhausgase wie die fossile Brennstoffindustrie verursacht — sowie der Begrünung von Wüsten und der Wiederherstellung der Regenwälder.

Wir wissen, was wir tun müssen, wenn unsere Kinder eine Zukunft haben sollen. Die einzig ausstehende Frage ist, wie wir Führungskräfte ermächtigen, die uns retten werden.

Klimaforscher warnen, dass wir bald einen Kipppunkt erreichen werden, an dem die Biosphäre so viel Schaden erlitten haben wird, dass keine der Anstrengungen, das Ökosystem zu retten, den unkontrollierbaren Klimawandel wird aufhalten können. Möglicherweise sind wir bereits an diesem Punkt.

Viele glauben, es handele sich dabei um eine weitere Zunahme der weltweiten Temperaturen um 2 Grad Celsius. Ab dann werden Rückkopplungsschleifen, sogenannte „feedback loops“, entstehen, in denen sich Umweltkatastrophen gegenseitig verschärfen.

Wir müssen uns einem neuen Radikalismus zuwenden. Wir müssen anhaltend zivilen Ungehorsam leisten, um die Maschinerie der Ausbeutung zu zerstören, selbst während wir uns auf die bevorstehenden unvermeidlichen Umsiedlungen und Katastrophen vorbereiten.

Wir müssen unsere Lebensweise und unseren Konsum verändern, um unseren persönlichen CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Und wir müssen uns organisieren, um bestehende Machtstrukturen durch solche zu ersetzen, die zu einer Bewältigung des nahenden Notstandes fähig sind.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Saving the Planet Means Overthrowing the Ruling Elites”. Er wurde von Melina Lieb aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert. www.rubikon.news

Kommentare
  • Piranha
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    Luisa Neubauer (23, Studentin), das deutsche Gesicht bei Fridays for future, ist Kolumnistin beim Stern geworden. (Der Stern und andere Gazetten liegen bei meinem Arzt aus, kaufen würde ich keine davon.)

    Das hat irgendwie schon ein “Geschmäckle”, wie der Schwabe sagen würde.

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