Die Machtergreifung von Erfurt

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30. Januar 1933: Hitler am Fenster der Reichskanzlei in Berlin bei der Entgegennahme der Ovationen der Bevölkerung. Bundesarchiv, Bild 146-1972-026-11 / Sennecke, Robert / CC-BY-SA 3.0

Neue Faschisten mit alten Methoden.  Ist es Demokratie, wenn nach ein bisschen parteitaktischem Gekungel ausgerechnet die kleinste Partei im Parlament – eine Partei also, die fast niemand wollte – den Ministerpräsidenten stellt? Ist es Demokratie, wenn am Ende gerade diejenigen zu Königsmachern werden, die der Demokratie feindlich gesonnen sind und eine ganz andere Republik wollen? Einiges an diesem am 5. Februar entstandenen Text wurde zum Glück durch die aktuellen Ereignisse überholt. Noch aber ist die Lage unübersichtlich, kann vieles geschehen. Vor Wiederholungen ähnlicher Vorgänge ist weder Thüringen noch Deutschland als Ganzes geschützt. Der Artikel bietet interessante Analysen und Gedankenspiele. Aus “Das Flugblatt” von Hannes Nagel

Der Wahlgang

Drei Kandidaten standen zur Wahl zum Ministerpräsidenten von Thüringern: der alte Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke), der FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich und der parteilose Christoph Kindervater. Herrn Kindervater hatte sich die AFD als Kandidaten genommen. Weil kein Kandidat in den ersten zwei Wahlgängen zwei Drittel der Stimmen bekam, musste noch ein dritter Wahlgang herhalten, bei dem eine einfache Mehrheit reichte. Daraufhin gaben alle AFD-Leute geschlossen ihre Stimme dem FDP-Fraktionschef. Ergebnis: Ein Kandidat, dessen Partei nur knapp die 5-Prozent-Hürde in der Landtagswahl erreicht hatte, stellt nun den Ministerpräsidenten. CDU, Linke und Grüne: Alle Demokraten, die im Falle von Einigkeit gegen Höckes Faschisten im Landtag eine solide demokratisch legitimierte Regierung hätten bilden können, marschierten in die zweite Reihe. Für die Nazis war‘s ein Fackelzug, für die Demokraten ein Desaster.

Lagenotizen, Handlungsoptionen und Teufelspläne

Zeitungskommentatoren und Politikkollegen gaben im noch frisch emotionalen Geisteszustand nach dem Wahlergebnis erste Kommentare ab. „Putsch“ sagte keiner, aber das Wort „Coup“ fand Verwendung. In der Übersetzung ist ein Coup ein Putsch. „Tabubruch oder beispiellose politische Dummheit“ kam vor, ebenso wie erste Vergleiche mit Weimarer Republik und nationalsozialistischer Machtergreifung. Auf historische Parallelen eingehend, befand ein Politologe im Fernsehen, dass diese Art der Ministerpräsidentenwahl durchaus ein bis dato unerhörter Vorgang sei. Denn das in einer demokratischen Wahl, in der Mehrheiten das Ziel des Wahlvorgangs sind, ausgerechnet ein Kandidat einer nur knapp über die 5-Prozent-Hürde gekommenen Partei, Ministerpräsident wird und nun sein Kabinett zusammenstellen darf, das ist eine unerhörte politische Situation. Die bisherigen Minister haben mit der Wahl des Strohmannes von der FDP ihre Posten verloren. Die Ministerien werden von den Staatssekretären geleitet. Im Grunde gibt es jetzt die Möglichkeit, dass der neue Ministerpräsident zurück tritt oder ein Misstrauensvotum wegen des putschähnlich zustande gekommenen Ergebnisses der Ministerpräsidentenwahl ihn wieder heraushebt. Rücksetzung auf null und Neuwahl wäre die Folge.

Was aber passiert, wenn der FDP -Mann zur AfD übertritt und also Höcke‘s Faschistenbund hinter sich vereint? Wer kann auf die Besetzung der Ministerämter Einfluss nehmen, also Schadensbegrenzung betreiben und die Nazis von den Ministersesseln fernhalten? Da die Thüringer Verfassung keine parteipolitische Bindung der Person des Ministerpräsidenten erfordert, könnte Herr Kemmerich aus der FDP austreten und als freier Abgeordneter vorbehaltlos mit der AfD zusammenarbeiten. Nach den Grundsätzen der freien Mandatsausübung dürfte auch ein Parteiübertritt von Herrn Kemmerich keine rechtlichen Konsequenzen zeitigen und die rechnerische Fraktionsstärke der AfD erhöhen. So traurig es klingt, aber ohne AfD wird Herr Kemmerich keine Regierung formieren können. Die Verweigerung von Linke, SPD und Grünen darf als definitiv gesetzt werden. Die einzige Option bleiben hoffentlich baldige Neuwahlen.

Kommentar zur Wahl von Solotänzer

Thüringen – eine Land unbegrenzter Möglichkeiten

Denke ich an Thüringen in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.

Die vorangegangene Ausgabe des Flugblatts bemühte sich in verständlicher Art und Weise, über die verfassungsrechtlichen Bedingungen einer Ministerpräsidentenwahl aufzuklären. Das aktuell eingetretene Wahlergebnis auf Basis des Konzepts einer Meiststimmenwahl beweist leider wieder einmal, wie weit doch Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit getrennte Wege gehen. Politik und Recht sind von jeher ein schicksalhaft verbundenes Zwillingspärchen, allerdings mit sehr unterschiedlicher Herkunft. Dem Verfassungsrecht in Thüringer Ausprägung wurde Genüge getan, einem neuen Ministerpräsident die demokratische Legitimation erteilt, die verfassungsrechtliche Intention stabiler Verfassungsorgane erfolgreich in die Tat umgesetzt. Nur politisch ist alles andere als Stabilität erkennbar. Man hätte auch Mickymaus wählen können. Mit Herrn Kemmerich kommt ein Abgeordneter auf Grund parteitaktischer Kalküle ins Amt, dem es außer Haarlosigkeit und Cowboystiefeln an allem mangelt: einem Programm, koalitionären Absprachen sowie Regierungsmitgliedern.

Geradezu grotesk mutet es an, in dieser Situation an die ehemaligen SPD Minister zu appellieren, sie mögen doch ihre Position beibehalten. In grenzenlosem machtpolitischem Opportunismus haben es die bürgerlichen Parteien gezielt zugelassen, dass die FDP zum Steigbügelhalter der AfD im Thüringer Landtag avancieren konnte. Der Realität des Wahlergebnisses sollte man nicht ausweichen. Nur zeigt die momentane Verfassung der AfD mit ihren konfliktreichen Flügelkämpfen noch keine erfolgversprechende Perspektive auf, die eine verlässliche Regierungsarbeit nun einmal erfordert. Linke, SPD und Grüne, auf die Oppositionsbank verwiesen, werden ein Kabinett Kemmerich nicht unterstützen. Worauf soll sich der Zufallskandidat denn dann in seiner Regierungsbildung einlassen? Erpressbar seitens der AfD, denn ihre Stimmen verhalfen ihm ins Amt, erreichen FDP und CDU zu keiner Zeit sachentscheidende Mehrheiten im Parlament. Es ist absurd, dass der Repräsentant einer Fünf-Prozent-Partei mit lediglich fünf Gefolgsleuten im Parlament, das Land Thüringen mit ca. 2,2 Millionen Einwohnern vertritt. Der Verfassungsrechtler Böckenförde attestierte der Demokratie einst, sie lebe von Voraussetzungen, die sie selbst nicht zu garantieren vermag.

Ein jüngst in der NZZ veröffentlichter Artikel resümiert über demokratisches Denken:

„(…)Weder Montesquieu noch Rousseau wollten die ‘endgültige, perfekte Staatsform’ schaffen. Sie wussten, dass es diese nicht gibt – und vor allem: nicht geben darf. Weil sie dem widersprochen hätte, was ihnen vorschwebte: eine Staatsform, in der selbst die Grundlagen des Staates immer zur Disposition stehen. Wenn die älteren Herren aus längst vergangenen Zeiten uns etwas hinterlassen haben, dann das Bewusstsein dafür: dass Demokratie nicht ein Set von Regeln ist, um gesellschaftliche Abläufe zu organisieren. Sondern eine Idee, eine Form des Nachdenkens über den Staat. (…) Demokratie, so wie sie die Denker des 18. Jahrhunderts entworfen haben, ist ein Versprechen, das sich seiner Unerfüllbarkeit bewusst ist. Der Impuls zu einem Prozess, der nie an ein Ende kommt. (…)
Sie bietet keine fertigen Lösungen, die für immer gültig wären, sondern muss jeden Tag neu errungen werden. Demokratie gibt es nicht ein für alle Mal. Sie ist das, was wir aus ihr machen. Darin liegt ihre Verletzlichkeit. Aber auch ihre Stärke.“

(Thomas Ribi 28.01.2020 in: https://www.nzz.ch/meinung/achtung-demokratiekritik-demokratie-ist-was-wir-ausihr-machen-ld.1536529)

Demokratie erfordert Haltung und Verantwortungsethik.

Die Thüringer Wahl des Ministerpräsidenten zeigt, wie reduziert das Interesse an der Entwicklung einer gemeinwohlorientierten Politik ausgeprägt ist. Stattdessen stehen parteipolitische Machtinteressen im Mittelpunkt. Nicht ein neues Konzept für die bessere Landespolitik stand zur Wahl, sondern nur die Personalie Bodo Ramelow, die es aus Sicht der wahlunterlegenen Opposition mit allen taktischen Tricks für die Zukunft zu vermeiden galt.

Das demokratische Verständnis hat trotz formaler Rechtmäßigkeit einen nachhaltigen Schaden erlitten. Es gleicht im Umkehrschluss ein wenig der Situation eines Pauschalreisenden, dessen Aufenthalt im Hotel, trotz nachgewiesener Vertragserfüllung, von den weisungsgebundenen Mitarbeitern nur deswegen verweigert wird, da er den Passierschein, sprich, den Hotel-Voucher, nicht bei sich führt.

Formal rechtmäßig waren auch Schießbefehle und Anordnungen zur Massenvernichtung in der Vergangenheit. Der materielle Rechtsaspekt gerät leider dank deutscher Gründlichkeit und Untertanenmentalität oftmals in die Defensive.

Thüringen hätte ein Musterbeispiel erfolgreicher planvollorganisierter Minderheitsregierung werden können. Nun regiert eher das Chaos und die spontane quasi-professionelle Improvisation im politischen Betrieb des Freistaates.

Den Protesten aus den Bundesparteizentralen wird ein Sturm der Entrüstung durch die Länder folgen. Die Spaltung der Gesellschaft verstärkt sich und allein die Hoffnung auf eventuelle Neuwahlen vermag die Gemüter zu besänftigen. Nur bringen neue Wahlen tatsächlich neue Mehrheiten?

Ich liebe dieses Land mit seinen reichhaltigen kulturellen Traditionen und ich möchte das Lebensreglement in diesem Land nicht einer Regierung überantworten, der die Vision eines Nachtwächterstaates näher liegt, als die sozial verantwortungsvolle Gestaltung eines Gemeinwesens. Eines Gemeinwesens, das der Versuchung renditegetriebener Effizienzpolitik widersteht und sich stattdessen den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger ernsthaft widmet.

Weimar, 5.Februar 2020 – Solotänzer

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