Die Menschen-Zähmer

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik

Autorität und blinder Gehorsam sind in der Psychiatrie systemimmanent. Psychiater und Psychologen werden laut Bruce E. Levine durch die autoritär-hierarchische Ausbildung selbst zu autoritätsgläubigen Therapeuten, die von antiautoritären Patienten und Kollegen höchst verunsichert werden. In der Folge werden jene pathologisiert, lächerlich gemacht und gefeuert. Dass Psychiatrie-Establishment und Pharma-Industrie auch kein Interesse an antiautoritären Patienten und Psychiatern haben, versteht sich von selbst. (Bruce E. Levine)

„Sei nicht lau, sondern schlau“: Warum antiautoritäre Ärzte so selten sind
von Bruce E. Levine

“Don’t be stupid, be a smarty, come and join the Nazi Party” – übersetzt etwa „Sei nicht lau, sondern schlau, tritt bei der Nazi-Partei“ – ist ein absichtlich anstößiger Vers des köstlichen Liedes „Springtime for Hitler“ in Mel Brooks‘ Film „The Producers“. Nicht witzig ist dagegen die Tatsache, dass Ärzte im Deutschland der Nazizeit „schlau“ waren im sarkastischen Sinne Brooks‘ – war ihre Beitrittsquote zur SS doch proportional weit höher als die der allgemeinen deutschen Bevölkerung.

Ebenso wenig witzig ist, dass US-amerikanische Ärzte und medizinisches Fachpersonal sich in den Dienst autoritärer US-amerikanischer Richtlinien stellen – von der „Beihilfe zur Folter“, im Bericht des CIA-Generalinspekteurs „aiding torture“ genannt, in Guantánamo, Abu Ghraib und anderswo bis zur jüngst erfolgten Verabreichung von Psychopharmaka an inhaftierte Migrantenkinder.

Ärzte in SS und NSDAP

Alessandra Colaianni berichtet 2012 im Journal of Medical Ethics): „Mehr als 7 Prozent aller deutschen Ärzte traten während des Zweiten Weltkrieges der SS bei – im Vergleich dazu tat dies weniger als ein Prozent der Allgemeinbevölkerung (…). Während vor der Machtübernahme Hitlers nur 6 Prozent der deutschen Ärzte der NSDAP beigetreten waren, erhöhte sich dieser Anteil bis 1945 auf 50 Prozent.“ Colaianni betont: „Die Ärzte traten der NSDAP und der Tötungsmaschinerie nicht bei, weil man ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt hatte, sondern aus freiem Willen.“

Hierarchische Strukturen und ausgeprägter Ehrgeiz

Laut Colaianni gibt es verschiedene Erklärungen für den ärztlichen Hang zum Autoritarismus – und diese Gründe gelten auch heute noch. Da wäre zum einen die hierarchische Sozialisation der Ärzte und zum anderen ihre außerordentlich stark ausgeprägten Karriere-Ambitionen. „Die medizinische Kultur“, erklärt sie,

„ist in vielerlei Hinsicht eine starre Hierarchie (…). Jene am unteren Ende der Hierarchie sind es gewohnt, genau das zu tun, was ihre Vorgesetzten von ihnen verlangen, oft ohne wirklich zu verstehen, warum sie das tun sollen (…). Seine Vorgesetzten in Frage zu stellen, ist unbequem, fürchtet man doch negative Folgen – Vergeltungsmaßnahmen, Gesichtsverlust vor dem Höherrangigen – und im Unrecht zu sein (…). Arzt zu werden erfordert ein nicht geringes Maß an Ehrgeiz (…). Der stereotype Student im Vorbereitungskurs zum Medizinstudium (ist) gnadenlos kompetitiv und bereit, alles zu tun, um voranzukommen.“

„Autoritär“ wird im American Heritage Dictionary folgendermaßen definiert: „Zeichnet sich durch absoluten Gehorsam gegenüber einer Autorität aus oder bevorzugt diesen“. Autoritäre Menschen in Machtpositionen verlangen bedingungslosen Gehorsam von den niederen Rängen und autoritätshörige Untergebene erfüllen alle Forderungen der Autoritäten.

Anti-autoritär: abnormal und geisteskrank

Ich interessiere mich besonders für den Autoritätsglauben unter Psychiatern und Psychologen. In ihrer Ausbildung und Schulung – oft auch darüber hinaus – leben sie jahrelang in einer Welt, in der man den Forderungen aller Autoritäten nachkommt. Und so erscheinen ihnen die Patienten, die Autorität(en) in Frage stellen und sich illegitimer Autorität widersetzen, als „abnormal“ und „geisteskrank“.

Kaum Aufstiegschancen als Antiautoritärer

In meiner Ausbildung zum Psychologen entdeckte ich, dass jene Studenten, Auszubildenden und im Bereich „Psychische Gesundheit“ Tätigen, die Autoritäten infrage stellten, regelmäßig den Stempel „hat ein Problem mit Autorität“ aufgedrückt bekamen, was ihren Aufstiegschancen nicht förderlich war.

Sowohl die Auslese wie auch die Sozialisation von psychosozialem Fachpersonal sondert die meisten Antiautoritären aus. Und die Handvoll Antiautoritärer, denen es gelingt, die akademischen Hürden zu nehmen, um ihren Abschluss zu erhalten, verspielen ihre Aufstiegschancen meiner Erfahrung nach durch das Infragestellen illegitimer Autorität.

Die Zeitschrift „Ethical Human Psychology und Psychiatry“ widmete 2017 den dissidenten Psychiatern Thomas Szasz (1920-2012) und dessen Schützling Ron Leifer (1932-2017) eine Ausgabe und bestätigte dort meine persönlichen Erfahrungen mit den Vergeltungsmaßnahmen, denen die seltenen antiautoritären Psychiater ausgesetzt sind.

Perhaps the most famous anti-authoritarian psychiatrist in U.S. history is Thomas Szasz. His The Myth of Mental Illness (1961) brought the wrath of the entire psychiatric establishment against him. Szasz continues today to be widely misunderstood. “He did not deny that people suffer mentally and emotionally,” Leifer pointed out, “He was not even denying mental illnesses exist. He acknowledged that they exist, but . . . not as diseases in the same sense that diabetes or pneumonia are diseases.” Szasz argued that “mental illness” is a metaphor for emotional and behavioral problems in living. Szasz has been widely accused of being anti-psychiatry, but what he opposed was coercive psychiatry. Szasz was a fierce opponent of involuntary psychiatric treatment, believing psychiatry and psychotherapy should only be utilized when there is informed choice and consent.

Der vielleicht berühmteste antiautoritäre Psychiater in der Geschichte der USA ist Thomas Szasz. Mit seinem Buch „The Myth of Mental Illness“, Geisteskrankheit – Ein moderner Mythos, von 1961 zog er die Wut des gesamten psychiatrischen Establishments auf sich. Auch heute noch wird Szasz weitgehend missverstanden. „Er leugnete gar nicht, dass Menschen geistig und emotional leiden“, stellte Leifer klar, und: „Er bestritt nicht einmal, dass Geisteskrankheiten wirklich existieren. Er erkannte ihre Existenz an, aber (…) nicht als Krankheiten im Sinne eines Diabetes oder einer Lungenentzündung.“

Szasz argumentierte, dass „Geisteskrankheit“ eine Metapher für emotionale und Verhaltensprobleme bei der Bewältigung des Lebens ist. Man warf Szasz eine grundsätzlich antipsychiatrische Einstellung vor – tatsächlich lehnte er jedoch eine Psychiatrie ab, die mit Zwangsmaßnahmen arbeitete.

Szasz war leidenschaftlicher Gegner unfreiwilliger psychiatrischer Behandlung, war er doch davon überzeugt, dass Psychiatrie und Psychotherapie nur dann angewandt werden sollten, wenn der Patient eine informierte Zustimmung zur Behandlung gegeben hat.

Vergeltungsmaßnahmen des Establishments

Wie reagierte das psychiatrische Establishment auf Szasz? Der Psychologe Chuck Ruby berichtet: „Unmittelbar nach seinem offenen Aufstand wurde Szasz von seinen Kollegen lächerlich gemacht. Sie betrachteten ihn als Verräter am Beruf des Psychiaters.“

Ruby, Geschäftsführer der „International Society for Ethical Psychology and Psychiatry“ bemerkt weiter: „Es gab erfolglose Versuche von New Yorker Staatsbeamten, ihm seine Professur an der Medizinischen Universität Syracuse SUNY zu entziehen; auch seine Vorgesetzten versuchten, ihn zu einer Kündigung aufzustacheln.“ Szasz war Professor mit einer Lebenszeitstellung; laut Leifer hinderte das den Vorsitzenden des Instituts für Psychiatrie, David Robinson, jedoch nicht daran, „zu versuchen, Szasz zu einer Befehlsverweigerung zu drängen, um ihn dann feuern zu können.“ Letztendlich musste Szasz einen Rechtsanwalt einschalten, um seine Festanstellung zu sichern.

Meinungsfreiheit? Fehlanzeige!

Ron Leifer, der keine Festanstellung hatte, war einem Karriere-„Knick“ viel ungeschützter ausgeliefert. Leifer berichtete, er sei 1966 von der akademischen Psychiatrie „exkommuniziert“ worden –

„gefeuert (von Robinson) aus Rache für die Veröffentlichung eines Buches, das als Kritik an der Psychiatrie aufgefasst wurde. „Ich bewarb mich an anderen psychiatrischen Instituten, (…) wurde aber wegen meiner Nähe zu Szasz abgelehnt. So viel zur freien Ideenäußerung in der akademischen Psychiatrie!“

Das Soteria House

Und dann ist da noch der Fall Loren Mosher (1933–2004) – möglicherweise der meist respektierte Psychiater von Ex-Patienten, die Menschenrechtsaktivisten wurden. 1968 wurde Mosher zum Leiter des Zentrums für Schizophrenie-Forschung im National Institute of Mental Health ernannt. 1974 begann er mit einer anderen Herangehensweise gegenüber Menschen mit der Diagnose Schizophrenie, indem er das erste Soteria House in Santa Clara, California, eröffnete. Soteria bot eine egalitäre Umgebung, die nicht mit Zwang arbeitete und Laien-Pflegekräfte beschäftigte.

Die Ergebnisse zeigten, dass es den Patienten mit dem Soteria-Ansatz weit besser ging als bei einer psychiatrischen Standardbetreuung, und dass Patienten tatsächlich auch mit nur wenig oder ganz ohne Antipsychotika genesen können.

Moshers Erfolge stellten das Psychiatrie-Establishment bloß, und auch die Pharmaindustrie war wenig begeistert. Wen überrascht es da noch, dass das National Institute of Health die Zuschüsse für Soteria strich und Mosher 1980 feuerte?

Eine seltene Rasse: der dissidente Psychiater

Quer denkende Psychiater sind eine seltene Spezies, und alle mir bekannten erzählen mir, dass der versuchte Schlag gegen Szasz und die erfolgreichen Schläge gegen Leifer und Mosher so vorhersehbar waren wie die Anschläge der Cosa Nostra, „Unsere Sache“ – ist doch das Psychiatrie-Establishment ebenfalls nicht eben tolerant, was das Infragestellen „ihrer Sache“ betrifft.

Achtung, autoritärer Psychiater!

Antiautoritäre Patienten sollten gerade bei Psychiatern und Psychologen aufpassen – mehr noch als bei anderen Ärzten. Während ein autoritärer Kardiothorax-Chirurg sich seinem Pflegepersonal gegenüber herablassend und beleidigend verhalten mag, kann er trotzdem noch eine gelungene Arterien-Bypass-Operation bei einem antiautoritären Patienten durchführen. Autoritäre Psychologen und Psychiater dagegen werden ihren antiautoritären Patienten immer Schaden zufügen.

Die Pathologisierung der Non-Konformität

Psychiater und Psychologen sind sich oft des Ausmaßes ihres Gehorsams nicht bewusst. Deswegen kann die antiautoritäre Einstellung ihrer Patienten große Angst und Scham über ihre eigene extreme Gefügigkeit in ihnen auslösen. Diese Angst und Scham können dazu führen, dass sie jede zu Spannungen führende Nicht-Konformität psycho-pathologisieren. Eine solche Spannung kann schon dadurch entstehen, dass ein Patient wütend auf unrechtmäßige Autorität reagiert.

Antiautoritäre Helfer – die man viel häufiger in Selbsthilfegruppen findet – verstehen wütende Reaktionen auf unrechtmäßige Autorität, begegnen empathisch dem Schmerz, der diese Reaktionen auslöst, und nehmen diesen Schmerz ernst.

Wenn man erlebt, dass das eigene Verhalten verstanden und der Schmerz ernst genommen wird, kann man sich einem Dialog öffnen, in dem geklärt wird, wie man mit diesem Leid umgehen kann.

Weil antiautoritäres Fachpersonal im Bereich Psychische Gesundheit rar ist, laufen antiautoritäre Patienten Gefahr, von einer Autorität „behandelt“ zu werden, die das Leiden noch verschlimmert.

Das führt zu noch mehr Selbstzerstörung und Gewalt.

Erfüllungsgehilfen der herrschenden Machtstruktur

Es ist sicher kein Zufall, dass antiautoritäre Psychiater und Psychologen rar sind. Mainstream-Psychiatrie und -Psychologie sind Erfüllungsgehilfen der herrschenden Machtstruktur, weil sie Ärger und Wut pathologisieren sowie die Malaise entpolitisieren und damit den Status Quo aufrechterhalten.

Im Gegensatz dazu sind antiautoritäre Menschen bestätigende Vorbilder für den Widerstand gegen illegitime Autorität und damit niemand, auf den die herrschende Machtstruktur wohlwollend blickt – seien die Betreffenden nun Lehrer, Geistliche, Psychiater oder Psychologen.

Bruce E. Levine ist praktizierender klinischer Psychologe und stimmt oft nicht mit dem Mainstream seines Berufszweiges überein. Er schreibt und spricht über die Berührungspunkte zwischen Gesellschaft, Kultur, Politik und Psychologie. Sein neuestes Buch ist: Resisting Illegitimate Authority: A Thinking Person’s Guide to Being an Anti-Authoritarian―Strategies, Tools, and Models. Weitere Informationen auf brucelevine.net.


 

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „“Don’t Be Stupid, Be a Smarty”: Why Anti-Authoritarian Doctors Are So Rare. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.

Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.
Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.
Kommentare
  • Norbert Andersch
    Antworten
    Danke für diesen Bericht. Als kritischer Nervenarzt (Neurologe und Psychiater) mit 40 Jahren Berufserfahrung im Ruhrgebiet und in London bin ich froh über jede Stellungnahme, die die Absurdität des derzeitigen Psychiatriebetriebes infrage stellt. Dennoch verweigern  die meisten Kritiker die Antwort, wie auf akute Notfallsituationen zu Antworten ist. Neben der Kritik ist auch ein völlig anderer Ansatz erforderlich. Ich verweise (sorry) auf mein Buch ‚Symbolische Form und Psychische Erkrankung‘ (2014), daß diesen schwierigen Balanceakt versucht.

     

    Beste Grüße

    Norbert Andersch

     

     

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