Die Nachbarn verstehen (5)

 In Frank Nonnenmacher, Kultur, Politik (Ausland)

Daniel Maigron: „Le manteau du printemps“

Was eine Ausstellung „Künstler für den Frieden“ in einem kleinen südfranzösischen Dorf auslöst. In Castelnau-Valence, einem kleinen Weinort in Südfrankreich, in dem unser Autor Frank Nonnenmacher während mehrerer Monate im Jahr lebt, herrscht eine – vorsichtig ausgedrückt – eher „wertkonservative“ Stimmung. Viele wählen den Front National, man schimpft über die EU und sehnt sich nach den Tagen nationaler Selbstbestimmung zurück. Dennoch ist dem deutschen Gast dort gelungen, eine durchaus erfolgreiche Ausstellung zum Thema „Frieden“ zu organisieren – anknüpfende an den „journée pour la paix“, den alternativ gestalteten Nationalfeiertag 11. November. Ein kleines Wunder und ein Zeichen der Hoffnung für unser ebenfalls stark von rechtem Gedankengut infizierten Nachbarland. (Frank Nonnenmacher)


Die Vorgeschichte

In „Die Nachbarn verstehen (4)“ (HdS vom 3. November 2016) habe ich die Bedeutung des 11. November als offizieller Feiertag in Frankreich beschrieben und die damit verbundenen nationalen Rituale, die in jeder französischen Kommune stattfinden. Und ich habe von der Ausnahme berichtet: In dem kleinen Dorf Castelnau-Valence organisiert der lokale Kulturverein CVPHA seit 2014 den 11. November nicht als Heldengedenktag, sondern als „journée pour la paix“ (Tag für den Frieden). Das Ziel ist, durch kulturelle Aktivitäten das Publikum über die Gefahren durch Nationalismus, Xenophobie und Militarismus zumindest zum Nachdenken anzuregen. Eva und ich, die wir etwa ein Drittel des Jahres in diesem Dorf verbringen, haben diesen „11 novembre autrement“ (der andere 11. November) angeregt, und er ist mittlerweile im Kulturverein die zentrale Aktivität des Jahres.

2014 hatten wir zwei Vorträge (ein Franzose, ein Deutscher) über die verschiedenen Erinnerungskulturen und eine Ausstellung mit Reproduktionen von französischen und deutschen Soldatenbriefen. 2015 veranstalteten wir ein „cinéma pour la paix“ (Filme für den Frieden) gezeigt. (Siehe „Die Nachbarn verstehen (4)“)

Die Planung

2016 also luden wir die Öffentlichkeit ein unter dem Motto: „Artistes pour la paix“ (Künstler für den Frieden). Schon ein Jahr vorher hatten wir über die regionale Monopolpresse „midi libre“ und über Mund-zu-Mund-Information Maler und Bildhauer der Region aufgerufen, sich mit eigens für diesen Tag hergestellten Werken zu beteiligen. Nachdem wir noch Mitte des Jahres fürchteten, die ganze Veranstaltung könnte scheitern – wir hatten gerade mal vier Zusagen – waren es dann am Ende 2 Bildhauerinnen, 4 Bildhauer, 12 Malerinnen und Maler sowie 12 Malerinnen und Maler. Außerdem gab es zwei Installationen. Alle Künstler arbeiten mit eigenen Ateliers seit Jahren freischaffend, sind regional und zum Teil national bekannt, z.B. Serge Castillo, Cric Feuerbach, Jef de Penthou oder Pauline Robustelli. Eine Australierin, eine Japanerin, ein Franko-Tunesier, ein US-Amerikaner und ein Deutscher waren unter den Ausstellenden.

Auch die im Nachbardorf Brignon gelegene Gesamtschule beteiligte sich. Etwa 120 Schülerinnen und Schüler der „troisième“ (Abschlussklasse der Mittelstufe) nahmen an einem schulinternen Wettbewerb teil. Zwanzig Arbeiten, die die kritische Qualitätsprüfung der Kunstlehrerin, Mme Brante, bestanden hatten, wurden schließlich der Öffentlichkeit gezeigt.

Die Ausstellung selbst fand im neuen „foyer communal“ statt, dem Gemeindesaal, der während der Woche die Schulkantine ist. Wir hatten also ein enges Zeitkorsett, weil wir erst am 10. November nachmittags mit der Bestuhlung und der Etablierung von Stellwänden und Staffeleien beginnen und die Werke präsentieren konnten. Die Ausstellung selbst war dann ab Freitagmorgen (11. November) bis Sonntagabend zugänglich.

Der Verlauf und einige Beispiele

Am Freitagabend gab es eine Vernissage mit dem Vortrag eines Kunstwissenschaftlers aus Nîmes (Frédéric Podetti), der über „Frieden als Thema in der Kunstgeschichte“ referierte. Neben bekannten antimilitaristischen Werken (Picasso, Otto Dix, Claudot) referierte er auch über den pazifistischen Antagonismus, der in der Forderung nach „Kampf“ für den Frieden besteht. Und er zeigte in einfachen Beispielen die historisch und aktuell immer wieder nachweisbare Differenzkonstruktion von „wir“ und „die anderen“, die auf Dauer die Überlegenheit des „Eigenen“ und die Distanz gegenüber dem „Fremden“ produziert und damit potentiell Nationalismus und Xenophobie befördert.

Während der gesamten drei Tage waren Eva und ich, aber auch andere Vereinsmitglieder, ständig anwesend, einerseits quasi als Aufsichtspersonal, andererseits und vor allem, weil wir neugierig waren auf das Echo, das die ausgestellten Werke auslösen würden.

Das wohl die meisten positiv beeindruckende Werk war zweifellos „la bravache“ (etwa: die Entschlossene) eine 53 cm hohe farbige Keramikbüste von Serge Castillo.

Hier einige Interpretationsversuche, die ich aufgeschnappt habe:
„Ihr stehen die Haare zu Berge, weil sie entsetzt ist über etwas.“
„Sie hat etwas Schlimmes gesehen, aber sie weiß noch nicht, wie sie reagieren soll.“
„Sie ist nicht ‚schön’ aber sie hat ein lebendiges, ein sprechendes Gesicht.“
„Sie schaut mich nicht direkt an, aber ich fühle mich aufgefordert, dahin zu sehen, wohin sie schaut.“
„Von was ist sie so schockiert?“
„Ich kann sie nicht lange anschauen, denn ich muss dann an all die schrecklichen Ereignisse in Frankreich und in der Welt denken, an die sie vielleicht denkt.“
„Vielleicht wird sie im nächsten Moment etwas tun, vielleicht schreien …“

 

 

 

Wesentlich weniger eindeutig waren die Kommentare der Besucherinnen und Besucher zu der 170 cm hohen Installation von Daniel Maigron „Le manteau du printemps“ („Der Mantel des Frühlings“).

Auf den Schulterteilen eines Filzmantels liegen viele grüne Hände aus Gummihandschuhen, interpretierbar als Geste der Behütung durch ein liebevolles Verhältnis zur Natur. Die Beschaffenheit des Mantels zitiert den „Filzanzug“ von Beuys, für den Filz (neben Fett) ein immer wieder verwendeter Werkstoff war. Für ihn, wie sicher auch für Maigron, steht er für Wärme, Schutz, aber auch für eine Isolation, die zugleich Katalysator für Kreativität sein kann. Im „Frühlingsmantel“ wird die Assoziation des schützenden Mantels vielfach gebrochen. Die zartrosa Blüten stehen im Kontrast zu der hässlichen weißlichen Soße, die am Mantel heruntergelaufen ist. Die schützenden Hände können auch als Belastung oder Belagerung verstanden werden. Der deutlichste Kontrast zu den friedlich-beschützenden Assoziationen stellt der Korpus dar: Der „Kopf“ ist wie abgehackt, an ihm läuft blutrote Farbe herab, hier wurde brutale Gewalt angewendet. Das Werk ist ein Bekenntnis zur Widersprüchlichkeit. Es entzieht sich jeder Eindeutigkeit und will verstören. Aus meiner Sicht ein passender Kommentar zur nationalen, zur europäischen und zur weltweiten Lage, in der wir uns befinden.

Wiederum ganz anders verhielt es sich mit einem Werk meines Vaters, einer Leihgabe des Museums der Stadt Worms. Es war die einzige nicht speziell für diese Ausstellung geschaffene Arbeit. Es ist eine Collage aus coloriertem Gips, Draht, Bindfäden, Spielflugzeugen und Holzkreuzen (Maße: 60 x 90 x 8 cm). Das Werk wurde erst im Nachlass von Gustav Nonnenmacher entdeckt und stellt offensichtlich einen Teil der Verarbeitung schrecklicher Kriegserlebnisse dar, vor allem aber seine eigene Rolle als ehemaliger Pilot für die deutsche Luftwaffe.

Dass überhaupt ein deutscher Weltkriegsteilnehmer vertreten war, der nach dem Krieg Bildhauer wurde und antimilitaristische Mahnmale geschaffen hat, mit einem Werk, das seine von ihm als schuldhaft gesehen Mitwirkung am Krieg visualisiert, wurde durchweg empathisch betrachtet. Häufig wurde vor dem Bild voller Anerkennung für diese Selbstreflexivität gesprochen. Parallelen wurden gezogen, von US-Bombardements in Vietnam bis zu Luftwaffeneinsätzen in Syrien. Ohne dass ich auch nur den leisesten Anstoß dazu gegeben hätte, wurde auch mehrfach auf die Menschenopfer hingewiesen, die die vor allem von Churchill zu verantwortende sinnlose Bombardierung deutscher Städte 1945 gefordert hatte. Der „Alptraum“ war das Werk, das immer wieder umlagert war und Gespräche provozierte. Viele Besucherinnen und Besucher sprachen mich an, wollten Genaueres wissen, zeigten eine zugewandte emotionale Betroffenheit. (Wer zur Biographie Gustav Nonnenmachers und derjenigen seines Bruders Ernst, der als „Berufsverbrecher“ im KZ war, mehr wissen will, hier die Quelle: Frank Nonnenmacher: „Du hattest es besser als ich. Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. Mit einer Widmung von Konstantin Wecker. Bad Homburg 2014; 352 Seiten)

Auch von den Arbeiten der Gesamtschülerinnen und -schüler möchte ich kurz berichten. Das Auffälligste für mich war, dass alle, wirklich alle Beiträge mehr oder minder einfach, mehr oder minder kreativ eine Sehnsucht nach Frieden ausdrückten. Jenseits der künstlerischen Qualität fand ich das erstaunlich. Fast alle Bilder zeigten – weniger überraschend – das Motiv der Friedenstaube. Wie zum Beispiel das folgende von Marion Favresse:

Eine pfiffige Idee präsentierte Frédéric Porcheron: Einen Notfallkasten, bei dem man „im Falle eines Konflikts“ („en cas de conflit“) einen Hammer benutzen und die Scheibe einschlagen soll, damit der Frieden, symbolisiert durch die Friedenstaube, herauskommen kann (siehe Foto ganz oben).

Eine andere Idee hatte Louna Fougeroux: Sie modellierte zwei ein Lenkrad festhaltende Hände. Das Steuer war Friedenssymbol gestaltet. Auf den Händen ist jeweils eine palästinensische und eine israelische Flagge abgebildet (sieht man auf dem Foto kaum.). Sie nannte ihr Werk „auf der Straße des Friedens“ („sur la route de la paix“).

Schließlich ist noch die Arbeit von Charlotte Privat aus anderem Grund bemerkenswert: Vor buntem Hintergrund geben sich zwei Männer die Hand. Jeder Franzose erkennt beide sofort: Es sind General de Gaulle und Adolf Hitler. Sie hat dem Bild den deutschen Titel gegeben „Alles ist möglich“ („tout est possible“).

Meine spontane Reaktion war voller Ablehnung. Diese imaginierte Szene ist eben nicht möglich, war nicht möglich gewesen, und sie wäre auch nicht wünschenswert gewesen. Weiß diese Schülerin – und wissen alle Betrachter! – denn nicht, dass es eine ähnliche Szene mit einem französischen General und Hitler tatsächlich gegeben hat, nämlich als die Kollaborationsregierung von Hitlers Gnaden unter Marschall Pétain etabliert war? Soll das Bild einen Wunsch nach einem anderen Verlauf der Geschichte darstellen? (etwa: Wie schön wäre es gewesen, wenn de Gaulle und Hitler sich verständigt hätten; dann hätte es keinen Krieg gegeben.) Sieht sie denn nicht, dass eine Verständigung mit dem menschenverachtenden System des Faschismus nicht nur eine Verharmlosung, sondern sogar eine Unterwerfung unter die Prinzipien der Inhumanität darstellen würde, wie es unter Pétain tatsächlich auch gewesen ist?
All dies konnte ich mit den jungen Leuten, die auch zur Ausstellung kamen, nicht diskutieren. Im Gespräch mit ihnen wurde mir klar, dass sie die historischen Zusammenhänge überhaupt nicht kannten. Für sie war es ganz einfach. Die beiden Männer repräsentieren im Bewusstsein der Künstlerin zeitlos Frankreich und Deutschland als Nationen, nicht als widersprüchliche Systeme. Verblüffend: Als ich einige Freunde darauf ansprach, war ich schnell in der Situation des Kritikasters, der die Sache viel zu genau nimmt, und der nicht sehen will, dass es hier um den einfachen und tiefen Wunsch nach Frieden zwischen unseren beiden Völkern geht. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob ich mich mit dieser harmonisierenden Erklärung zufrieden geben kann.

Am Samstagabend gab es dann „musique pour la paix“: Vier Sänger und eine Sängerin (Eva) sangen mit Gitarrenbegleitung verschiedene pazifistische Lieder, darunter auch das sehr bewegende „Le déserteur“ von Boris Vian. Es ist ein bis 1962 (Ende des Algerienkrieges) in Frankreich verbotenes Lied und es gehört offensichtlich zum Kulturgut der aufgeklärteren Teile der französischen Gesellschaft. Viele Menschen aus dem Publikum sangen textsicher mit. Hier die ersten vier Strophen:

Le déserteur
von Boris Vian (1954)

Monsieur le Président
Je vous fais une lettre
Que vous lirez peut-être
Si vous avez le temps

Je viens de recevoir
Mes papiers militaires
Pour partir à la guerre
Avant mercredi soir

Monsieur le Président
Je ne veux pas la faire
Je ne suis pas sur terre
Pour tuer des pauvres gens

C’est pas pour vous fâcher
Il faut que je vous dise
Ma décision est prise
Je m’en vais déserter

deutsche Übersetzung
von Leobald Loewe (2003)

Verehrter Präsident,
vielleicht seid Ihr in Eile,
doch leset diese Zeile,
mit der mein Brief beginnt
Mir werden da gebracht
die Militärpapiere,
dass in den Krieg marschiere
ich noch vor Mittwoch Nacht.
Herr Präsident, ich bin
gewiss nicht Mensch geworden,
um Menschen zu ermorden,
das macht doch keinen Sinn.
Ich will nicht provozier’n,
wenn ich ganz offen sage:
Der Krieg kommt nicht in Frage,
ich werde desertier’n!

Erfolgreiche Ausstellung?
Insgesamt hatten wir etwa 500 Besucherinnen und Besucher, darunter den regionalen Nationalversammlungs-Abgeordneten Frédéric Verdier (PS) und mehrere Bürgermeister der Nachbargemeinden. Es war die größte kulturelle Veranstaltung seit Jahrzehnten, die in unserem Dorf stattgefunden hat. Nach den Aufräumungsarbeiten am Montag, den 14. November waren die Aktiven des Vereins beim abendlichen Apéro mehr als zufrieden, es gab kein einziges negatives Echo, alle waren davon überzeugt, dass uns nicht nur ein interessanter „11 novembre autrement“ gelungen war, sondern das wir der einen Beitrag für Frieden und Völkerfreundschaft geleistet hatten.

Um meine Skepsis angesichts dieses bruchlos positiven Resümees zu begründen, muss ich ein wenig ausholen. Unser Dorf ist ein Winzerdorf. Sechs „grandes familles“ haben seit Jahrzehnten entscheidenden Einfluss. Sie beherrschen seit „ewigen Zeiten“ den Gemeinderat, der in Personalwahl ohne Parteietikett gewählt wird. Unser Bürgermeister, natürlich ebenfalls Winzer, gilt als „Rechter“, wie weit rechts – darüber gehen die Meinungen auseinander und zumindest mir hat er es jedenfalls auch noch nicht verraten. Wie üblich in ländlichen Gemeinden gelten die lokalen Probleme auch nicht als „politisch“, denn bei Entscheidungen zum Erwerb von Baugelände, Deklarierung neuen Terrains als Bau- oder Bauerwartungsland und bei der Grundsteuer geht es vordergründig ums Gemeinwohl und indirekt um handfeste Interessen der Landbesitzer. Aus dieser Perspektive werden auch selbstverständlich alle europäischen Maßnahmen zur Landwirtschaft (Stilllegungsprämien, Subventionen, Marktzugänge) als Gängelung betrachtet.

Obwohl man die gar nicht so dünn fließenden Subventionen und Prämien gerne nimmt, gilt „Brüssel“ als das gängelnde Feindbild und eine Rückkehr zu Zeiten des alleinentscheidenden französischen Nationalstaates, als die südfranzösischen Winzer den nationalen Markt beherrschten und („als noch Freiheit herrschte“) angeblich jeder tun und lassen konnte, was er wollte, erscheint den meisten Winzern plausibel. Also gibt es, wenn beim Boule-Spiel die Rede auf Politik oder auf die nächsten Wahlen kommt, ein allgemeines Brüssel-bashing, ohne dass dem Gegenargument – keine Brüssel-Entscheidung käme ohne das Ja der französischen Regierung zustande – Gewicht beigemessen wird. Denn wenn das so sei, dann brauche man eben eine nationale Regierung, die gegen die Brüssel-Einmischung sei und eine Abschottung (z. B. vor billigem Wein aus Rumänien, Bulgarien, Chile, Australien oder Südafrika) betreibe. Wenn ich dann von der französischen Auto-, Elektro-, Chemie-, ja sogar von der Atomindustrie spreche, die alle auf offene Märkte angewiesen seien, wenn Frankreich seine ökonomische Stellung in der Welt halten wolle, dann merke ich schnell, dass ich schon verloren habe und man darüber gar nicht mehr reden, sondern lieber weiterspielen will.

Ein Gradmesser für das Niveau nationalistischer Einstellungen kann das jeweilige Wahlergebnis für den „front national“, die rechtsextremistische Partei unter Führung von Marine Le Pen sein. Die letzten Wahlen fanden im Dezember 2015 zu den neu gegründeten Regionen statt. In ganz Frankreich erhielt der FN 27,1%, in der Region (Languedoc-Roussillon-Midi-Pyrénées) 33,8 % im Departement Gard (= Teil der Region) 42,6% und in unserem Dorf: 48,8 %.

Ich lebe also in einem Dorf, in dem fast die Hälfte der Einwohner eine nationalistische und rechtsradikale Partei wählt – und ich merke im Alltag kaum etwas davon. Niemand bekennt sich offen. Da findet also eine überregional positiv zur Kenntnis genommene antimilitaristische und antinationalistische Veranstaltung in mehreren Akten statt, ohne dass auch nur der leiseste Einwand zu hören war. Der Bürgermeister war nicht nur da, er hat sogar das offizielle Begrüßungswort gesprochen. (Es nicht zu tun, wäre angesichts seiner üblichen Rolleninterpretation allerdings auch der größtmögliche Akt der Geringschätzung gewesen.) Niemand hat mir oder einem anderen Mitglied des Kulturvereins gegenüber ein Wort der Kritik gefunden, weder vor, während oder nach der Ausstellung. Niemand hat einen kritischen Leserbrief geschrieben. Es gab keinen Vandalismus, keine nächtlichen Schmierereien, die wir intern durchaus ins Kalkül gezogen hatten.

Was sagt uns das?

Der Vormarsch des französischen Rechtsradikalen, die xenophoben und europafeindlichen Ideen zeigt sich im Süden und auf dem flachen Land deutlich in Wahlergebnissen. Sie kommen aber in den Dörfern eher versteckt vor, eher insgeheim, nicht mit offenem Visier. Man kann sich leicht von auf leisen Sohlen daherkommenden und bislang den Diskurs scheuenden Ideologien täuschen lassen. Noch sind die Parolen von „liberté, égalité und fraternité“ nicht vollständig mit offenem Nationalismus übertüncht.

Schon am 23. April 2017 wird es die erste Runde der Wahl zum französischen Präsidenten geben und zwei Wochen später wird es angesichts der Zerstrittenheit der französischen Linken, so meine Prognose, zu einer Stichwahl zwischen François Fillon, dem Kandidaten der bürgerlichen Rechten, und der Kandidatin des Front national, Marine Le Pen, kommen. Ob es dann im zweiten Wahlgang – wie 2002 gegen Jean-Marie Le Pen – wieder eine wahrhaft „republikanische“ Reaktion der Wählerinnen und Wähler und damit zu einem antifaschistischen Bündnis der bürgerlich-konservativ- republikanischen, der liberalen und der linken Strömungen kommen wird und Marine Le Pen eine krachende Niederlage erfährt? Ich bin nicht optimistisch, zumal die französische Linke bislang weder einen gemeinsamen Kandidaten hat noch ein überzeugendes Programm. Und eine nur knappe Niederlage der Neofaschisten würde das Damoklesschwert weiter über Frankreich und Europa schweben lassen.
Wir werden sehen. Ich werde berichten.

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