Die Rede im Adlon
Leistungsträger sind stolz auf die ihnen eigene Härte und Selbstdisziplin. Umso mehr verachten sie Minderleister und Arbeitsverweiger, speziell wenn diese für ihr Versagen nach Entschuldigungen suchen. Dr. Dietmar Clauss war eine solche Stütze der Gesellschaft – bis ihn ein plötzlicher Hirnschlag ungewollt in genau jenen Menschentyp verwandelte, den er sein Leben lang bekämpft hatte … Die nachdenkenswerte, so nüchtern wie brillant geschriebene Geschichte von Georg Rammer entführt uns in die bizarre Welt der „Führungseliten“. Nicht einmal eigene Hinfälligkeit und das unvermeidliche Schwinden der Kräfte im Alters bewirken bei solchen Menschen eine Besinnung auf mehr Mitgefühl.
Alles hatte damit begonnen, dass Dr. Dietmar Clauss gegen die Wand lief. Er war um halb sechs aufgewacht, wollte zur Toilette, aber er hatte einen unwillkürlichen Rechtsdrall und stieß unsanft an die Flurwand. Als er im Spiegel nachschauen wollte, ob mit seinem Gesicht noch alles in Ordnung war, bekam er kein Bild zustande: Das linke Auge zeigte ihm etwas anderes als das rechte.
Er weckte seine Frau und sie rief einen Krankenwagen. Der Chefarzt musste geholt werden und nach einer kurzen, intensiven Untersuchung stand die Diagnose fest: Ein Blutgerinnsel im Kleinhirn. Hirnschlag. Dr. Clauss kam auf die Intensivstation. Nach zwei Tagen bekam er ein geräumiges Einzelzimmer auf der Privatstation.
Er war ein ungeduldiger Patient. Dr. Dietmar Clauss war CEO bei einem weit verzweigten Konzern mit langer Tradition und intimen Verbindungen im Dritten Reich, der seit gut dreißig Jahren fusionierte und expandierte. Damit waren auch die Macht und der Einfluss von Dr. C. beständig gewachsen. Er galt als hart und unerbittlich. Das war ihm durchaus recht.
Denn er wollte hart und unerbittlich sein, auch gegen sich selbst. Er joggte zweimal in der Woche konsequent auch bei schlechtem Wetter und bei Auslandsreisen. Nie weniger als zehn Kilometer. An seinem 50. Geburtstag hatte er sich vorgenommen, alle 4000er der Alpen zu besteigen. Jetzt, mit 59 Jahren, hatte er exakt die Hälfte bewältigt. Er fühlte sich fit, durchtrainiert und wurde durchaus bewundert: für seine extravaganten Touren genauso wie für seine schlanke, sportliche Figur. Und seine Macht. Er bevorzugte schnelle Entscheidungen. Er war ein Mann der Tat.
Für andere, die da nicht mithalten konnten oder wollten, hatte er Sarkasmus und eine gelinde Verachtung übrig. Seine eingefleischte Überzeugung lebte er selber: Aufstieg kostet Energie und wer sie aufbringt, wird belohnt. Vollkommen zu Recht. Als „Botschafter“ der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hielt er darüber Vorträge: „Leistung lohnt sich“ oder „Die Spaltung der Gesellschaft findet in den Köpfen statt“. Sein Parteibuch bedeutete ihm etwa genauso viel wie der Golfclub oder seine Seidenkrawatte: Eher ein notwendiger, selbstverständlicher Code als eine Sache der Überzeugung. Parteien waren natürlich nützlich, um strategische wirtschaftliche Ziele in der Politik durchzusetzen. Übrigens verhehlte er mitnichten seine aktive Unterstützung des Kommunistischen Bundes Westdeutschland in den Siebzigern: Spätestens seit Joschka Fischer, Trittin oder Kretschmann war diese jugendliche Politexkursion eher förderlich für die Karriere: damals Führungskader, heute Führungskader.
Und jetzt: Krankenhausroutine. Man schob ihn zur CT, bandagierte ihm die Beine und schloss ihn an Schläuche an. Vergeblich kämpfte er gegen eine überwältigende Müdigkeit an. Schon nach wenigen Stunden Aufenthalt in der Klinik versuchte er verbissen, mithilfe seines Smartphones einen Termin abzusagen. Er arbeitete eine halbe Stunde, dämmerte dabei zweimal ein und das Ergebnis war eine sinnlose Kombination von Wörtern, die bei der Handelskammer erhebliche Verwunderung auslösten.
Doch nach fünf Tagen war er wieder zu Hause. Zum Glück ohne bleibende Schäden. Er wurde für vier Wochen seiner Aufgaben entbunden, schluckte diszipliniert Marcumar und nahm sich ein paar Wirtschaftsblätter und Krimis vor. An Joggen war erst mal nicht zu denken und die Gletschertouren im Monte-Rosa-Gebiet musste er leider auch abblasen. Von einem befreundeten Sportmediziner ließ er sich ein medizinisch indiziertes leichtes Fitnessprogramm zusammenstellen.
Als er den Sonnenschirm auf der Terrasse in eine bessere Position wuchten wollte, verspürte er einen heftigen Schmerz an den Lendenwirbeln. Der Sportarzt brauchte nur einen Blick auf das Röntgenbild zu werfen: Bandscheibenvorfall. Dr. Dietmar Clauss war quasi lahmgelegt. Verzweifelt kämpfte er gegen die erzwungene Ruhigstellung an. Er empfand seine Lage als höchst ungerecht und beschämend. Nicht einmal Nordic Walking, von ihm bis dahin eher als unter seiner Würde belächelt, erlaubte ihm sein Rücken.
In den vier Wochen nahm er neun Kilo zu. Als er sich zwang, seine Laufschuhe anzuziehen und wenigstens ein kurzes Laufprogramm zu absolvieren, musste er nach 50 Metern aufgeben. In dem Maß, wie sein Gewicht zunahm, nahm seine Kraft ab. Vor allem aber seine Energie. Er konnte absolut nicht begreifen, was mit ihm los war, was ihm angetan wurde; er fand nicht einmal ein Wort dafür. Am ehesten schien ihm eine Formulierung zu passen, die er irgendwo gelesen hatte: Man hat mir den Stecker rausgezogen.
Plötzlich war alles ganz anders als früher. Seine Essgewohnheiten hatten sich verändert, seine Kontakte nahmen radikal ab, er hatte keine Freude mehr an Theater. Die Salzburger Festspiele ließ er zum ersten mal aus. Nur seine Frau merkte, wie sich sein Gesicht veränderte und seine Bewegungen. Er dachte: Ich habe immer weniger Freiheitsgrade. Immer weniger Möglichkeiten, immer mehr Einschränkungen. Eine Ahnung stieg in ihm hoch: So geht es Menschen, wenn sie arm werden. Er hatte den Impuls, einer Tafel Geld zu spenden. Aber schnell waren diese halb bewussten Gedanken wieder verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen.
Seine Beurlaubung wurde verlängert. Die Informationen aus dem Vorstand über strategische und operative Planung kamen bei ihm nicht mehr an. Er klammerte sich mit verbissener Restenergie an die vor Monaten ergangene Einladung zum Vortrag beim gemeinsamen Kongress von Handelskammer und BDI im Berliner Adlon, der vom Bundeswirtschaftsminister eröffnet werden sollte. Er sollte eine halbe Stunde zu „Aktualität der sozialen Frage: Leistungsträger und Leistungsverweigerer“ reden. Endlich konnte er eine Wende in seiner Misere markieren. Hätte er nicht schon hundert solcher Vorträge gehalten, wäre er wohl freudig erregt oder gar aufgeregt zu dem Ereignis mit mächtiger publizistischer Breitenwirkung gegangen.
Der Minister übergab ihm nach seiner Einführung das Mikrophon, der Applaus war durchaus von Anerkennung geprägt. Dr. Clauss begann mit einem kleinen Scherz, das kam immer gut. Er redete natürlich frei, das Thema war ihm geläufig und sehr wohl ein Anliegen. Anknüpfend an die guten Wirtschaftsdaten und die erfreulichen Signale des Arbeitsmarktes stellte er die rhetorische Frage, wem diese robuste Aufwärtsentwicklung zu verdanken sei. Zwar hatten ihn alte Bekannte aus Wirtschaft und Politik kaum erkannt – einer fühlte sich an die Körperlichkeit von Depardieu erinnert -, aber sie konnten der von ihm garantierten Pointe entgegensehen, die sie im Grunde ebenso erwarteten wie bereits kannten: Leistung und Erfolg sind ein gutes Gespann und sie gehören natürlich honoriert. Das ist die persönliche und gesellschaftliche Gerechtigkeit, der Markt selektiert eben Versager, Fördern und Fordern ja, aber keine Hängematte.
Dr. Dietmar Clauss hatte mit erhobenem Zeigefinger diese Schlusssequenz einleiten wollen, die Worte „mangelnde Willenskraft“ und „falsche Signale durch Belohnung der…“ lagen ihm auf der Zunge. Zunächst dachte das Publikum, die Lautsprecheranlage wäre ausgefallen. Die Lippen des Redners bewegten sich, der Zeigefinger ging in die Höhe, aber es war nichts zu hören. Die Elite aus Wirtschaft und Politik schaute sich etwas verwundert, dann irritiert an. Die Hand von Dr. Clauss sank auf den Rednerpult. Die Ratlosigkeit seines Blicks verwandelte sich in Verzweiflung, die Augen waren aufgerissen, immer noch formte der Mund lautlose Wörter. Nichts kam mehr. Als der Präsident und der Wirtschaftsminister ihn diskret hinausbegleiteten, war sein Blick leer.
Die Diagnose „psychogene Aphasie“ sagte ihm nichts. Er war am Ende: Dr. Clauss verstand nichts mehr, am wenigsten sich selbst. Alles war grausam und ungerecht.
(Aus: „Hinter den Fassaden“ von Georg Rammer, 2014)