Die Schere

 In Monika Herz

Eine Schere kann nicht nur auseinanderklaffen, sie kann auch abschneiden, was zu viel ist und wuchert, damit Neues nachwachsen kann. Das Symbol der Schere gleicht jenem, wonach der Teufel immer gerade auf dem größten Haufen seine Notdurft verrichtet. Niemand käme auf die Idee, die Münzen im Hut eines Bettlers wegzunehmen, um sie ins Handtäschchen der reichen Pelzdame zu verstauen, die auf der Straße an ihm vorüber geht. Genau das geschieht aber in unserem “System” – Tag für Tag. Es ist keine Schande gegen eine mächtige Reichen-Lobby einmal eine Niederlage einzustecken; es ist eine Schande, dass Politik und Bevölkerung nicht einmal ernsthaft versuchen, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen. Monika Herz kritisiert diese Schieflage mit grimmigem Humor und einer Reihe drastischer Beispiele. Jetzt wird klar, was dieses kalte Land braucht: mehr Herz.

Seit Jahrzehnten höre ich das geflügelte Wort von der Schere zwischen Arm und Reich, die immer weiter auseinanderklafft.

Eine gewöhnliche Schere hat zwei Teile, die miteinander verbunden sind. Innen sind die Teile scharf, am einen Ende spitz und am anderen Ende schön rund, so dass ein Mensch Daumen und Mittelfinger hineinstecken kann, um damit etwas zu zerschneiden. Der Zeigefinger dient bei diesem Vorgang als Steuerungsinstrument, er zeigt der Schere die Richtung.

Ich habe mir im Lauf meines Lebens angewohnt, so genannte „dumme“ Fragen zu stellen und sie dann selber zu beantworten. Ich bin gut damit gefahren. So frage ich also heute: Wer oder was ist eigentlich arm? Wer oder was ist eigentlich reich? Was für einen Zweck hat eigentlich eine Schere? Ist sie nützlich? Was passiert eigentlich, wenn die beiden Teile einer Schere immer weiter auseinderdriften?

Die letzte Frage ist am einfachsten zu beantworten: Die Schere geht irgendwann nicht mehr weiter auf, und falls immer noch weiter Kraft in diese Richtung aufgewendet wird, geht sie kaputt. Die beiden Klingen lösen sich dann voneinander und liegen gebrauchsunfähig herum. Bevor ich darüber nachdenke, ob es sich lohnt, eine kaputte Schere zu reparieren, möchte ich wissen, wozu sie mir dient. Dumme Frage, ja ich weiß. Ich geb mir trotzdem Antwort. Mit der Schere kann ich Papier, Haare, Stoff oder Himbeersträucher schneiden, je nach Spezialisierung des Scherentyps. Das heißt, die Schere ist ein Werkzeug schöpferischer Gestaltungsfreiheit. Was zu viel ist, wird abgeschnitten. Bei Himbeersträuchern etwa schneide ich die Starken ab, damit die Schwachen nachwachsen können. Die Starken wuchern nämlich rum und tragen keine Früchte mehr. Bei Haaren schneide ich die kaputten Spitzen weg. Wenn ich ein Kleid nähen will, dann habe ich einen Plan, den lege ich auf den Stoff drauf und schneide weg, was nicht zum Plan gehört.

Dazu ist die Schere nützlich. Alle diese Beispiele werden in den neurobiologischen Schaltkreisen meines Gehirns mit dem Thema „Arm und Reich“ verknüpft: Die Starken (Reichen) zurechtstutzen, damit die Schwachen (Armen) gedeihen können. Die kaputten und degenerierten alten Spitzen (Reichen) wegschneiden. Weg mit dem, was nicht zum Plan gehört!

Es lohnt sich also, eine Schere zu reparieren, falls sie kaputtgegangen wäre. Etwas klüger wäre es, die Schere gar nicht erst kaputtgehen zu lassen, sondern rechtzeitig vorher wieder zuzuklappen. Damit sie ihren Dienst versehen kann. Nämlich von den Reichen das wegschneiden, was zu viel ist und den Armen hübsche Kleider aus den Stoffresten nähen. Wie gesagt. Eine Schere dient der schöpferischen Gestaltungsarbeit.

Bevor ich mir über den soeben angesagten Plan Gedanken mache, möchte ich noch ein bisschen ausführlicher darüber nachdenken, was arm und was reich ist. Zu diesem Zweck verwende ich spontan zwei Beispiele, die mir gerade in den Sinn kommen: Häuptling Eulenfeder und Joachim Herz.

Eulenfeder ist arm. Er ist so arm, dass er nicht einmal mehr die Miete bezahlen konnte. All sein Hab und Gut wird gepfändet und von Staats wegen in einem Container gelagert. Die Miete für den Container wird zu Häuptling Eulenfeders Schulden hinzugefügt. In wenigen Tagen wird er sich mit einem Rucksack auf seinen Drahtesel schwingen und sich gen Süden Bewegung setzen. Das ist in meinen Augen „arm“. Das heißt, arm an Geld und Besitz. Andrerseits ist Häuptling Eulenfeder innerlich sehr reich an Gelassenheit, reich an guter Laune, reich an Zufriedenheit, reich an Klugheit, Großzügigkeit, Menschenkenntnis und Erfahrung. Außerdem ist er reich an Blues. Mit Menschenkenntnis und Gelassenheit kann der Häuptling aber leider die Miete nicht bezahlen.

Reich im herkömmlichen Sinne ist die Familie Herz. Natürlich nicht meine Familie, sondern eine andere Familie Herz, die den Namen eher nicht verdient, den sie meines Erachtens zu Unrecht trägt. Bekannt geworden ist der Clan in Zusammenhang mit Tschibo. Der inzwischen verstorbene Clanvater Max Herz kam in seinen jungen Jahren auf die Idee, die Sucht nach Kaffee zu fördern und zu diesem Zweck arme Menschen aus der so genannten Dritten Welt für Hungerlöhne Kaffee anbauen, ernten, rösten und transportieren zu lassen. So hat er ein riesiges Vermögen angehäuft. Die Familie Herz zählte noch vor wenigen Jahren zu den Top 10 der reichsten Deutschen, mit einem geschätzten Vermögen von ungefähr 20 Milliarden Euro. Die Erben (5 Geschwister) haben sich nach dem Tod von Herrn Herz über das Erbe so gestritten, dass der große Topf mit dem vielen Geld zerschlagen wurde und in seine Einzelteile zersprang. Reich an Geschwisterliebe waren sie offenbar nicht.

Einer der Fünf, Joachim Herz, ist vor ein paar Jahren tödlich verunglückt. Da er keine Kinder hatte, hinterließ er seinen Teil des Erbes – er bekam leider nur etwa 1,3 Milliarden Euro – der „Joachim Herz-Stiftung“. Die Stiftung fördert insbesondere das Verständnis für unser Wirtschaftssystem und für Naturwissenchaften. Ich habe vor 5 Jahren für die damalige Regionalgeld-Initiative einen Antrag auf Fördermittel bei dieser Stiftung gestellt. Dieser wurde umgehend abgelehnt und es wurde hinzugefügt, ich solle mir ja nicht einfallen lassen, weitere Anträge zu stellen. Es wäre aussichtslos. Die 1,3 Milliarden sind überwiegend in der Beiersdorf AG angelegt, welche wiederum zu 50% der Familie Herz gehört. Die Stiftung hat z.B. im letzten Jahr 8,9 Millionen für gemeinnützige Zwecke verwendet. Bei einem vorsichtig geschätzten Gewinn von 3% aus dem Anlagekapital (= 39 Millionen) darf man fragen, wo eigentlich der Rest von etwa 30 Millionen abgeblieben ist. Verwaltung? Honorare für die Stiftungs-Häuptlinge? Die armen Reichen schaffen es nicht einmal, ihr Geld wirklich sinnvoll zu verschenken. Das Geld kehrt über Umwege immer wieder zum Haufen zurück und vermehrt sich sogar noch. So viel hab ich auch schon von unserem Wirtschaftssystem verstanden!

Eulenfeder ist zwar arm, aber es gibt noch sehr viel ärmere Menschen auf dieser Welt. Und Joachim Herz – der Herr sei seiner armen Seele gnädig – war zwar reich, aber es gibt noch sehr viel reichere Menschen auf dieser Welt. Joachim Herz hatte aus seiner Tätigkeit als Erbe des Tschibo-Imperiums zu Lebzeiten immerhin mindestens 1 Milliarde Euro zur Verfügung.

Die Schere klafft hier doch für meinen Gechmack deutlich zu weit auseinander. Auf des Häuptlings Seite ein Vermögen von Null und ein Einkommen als Armuts-Rentner von etwa 400,- pro Monat. Auf der anderen Seite ein Vermögen von 1 Milliarde und ein Einkommen (aus diesem Vermögen) von etwa 10 Millionen jährlich (bei nur 1% Gewinn des Anlagekapital), also einem Monats-Einkommen von 833 333 Euro. So weit die beiden Beispiel-Personen.

Welche Kraft muss ich nun aufwenden, um die Schere in die andere Richtung zu bewegen? Ich muss zudrücken. Frei Schnauze würde ich mal sagen: Mit der Kraft des Gesetzes.

Denn die Kraft de Gesetzes, das ja für alle gleich sein soll, hat die Reichen einfach vergessen.

Die Armen werden Kraft Gesetz beständig gefragt und kontrolliert, ob sie immer noch arm genug sind. Oder ob sie etwa klammheimlich ein paar Euro schwarz hinzuverdient haben. Ob sie etwa im internet ein paar alte Bücher verkauft haben und so Geld eingenommen haben, das man ihnen wieder wegnehmen könnte.

Ob der Herr Herz wohl jemals gefragt wurde, ob er eigentlich zu viel eingenommen hat?

Das Gesetz, das für alle gleich sein soll, vergisst die Reichen irgendwie. Diese bedürfen offenbar keiner Gesetze.

Für die von Unten gibt es keine Grenze nach unten, sondern nur Grenzen nach oben. Die Untergrenze ist Null Wohnraum, die Obergrenze ist maximal 60 qm Wohnraum für zwei Personen. Die Untergrenze ist Null Hartz IV, weil weg-sanktioniert, aber die maximale Hinzuverdienstgrenze beträgt 150,- Euro. Die Untergrenze von Vermögen ist Null, Obergrenze ist 150,- Euro pro vollendetem Lebensjahr.

Für die von Oben gibt es keine maximalen Hinzuverdientgrenzen, keine Vermögensgrenzen und auch keine Wohnraumbegrenzung. Die Begründung für die fehlenden Grenzen ist, weil diese nicht auf Kosten der Allgemeinheit leben. Aber stimmt das eigentlich wirklich?

Wenn es auf der einen Seite von Grenzen nur so wimmelt und auf der anderen Seite die Grenzen nur recht spärlich und in weiter Ferne winken, ist dann nicht die Grenze des Erträglichen erreicht?

Frei Schnauze behaupte ich mal, spätesten dann, wenn ein Leben in Würde nicht mehr möglich ist, dann ist das elementare Recht auf Leben bedroht. Wenn ein Mensch obdachlos ist und seinen Körper vor Regen, Schnee und Kälte nicht mehr ausreichend schützen kann, dann ist definitiv die Grenze des Erträglichen überschritten. Finde ich. Also die Grenze dessen, was eine Gesellschaft dulden kann. Eine Gesellschaft wie die unsere, dürfte eigentlich schon lange nicht mehr dulden, dass es Obdachlose überhaupt gibt. Ich meine, Obdachlosigkeit, die systemisch entstanden ist. Nicht Obdachlosigkeit, die jemand freiwillig gewählt hat, das mag es ja auch geben.

Und wo sollten die Grenzen des Reichtums sein, wenn es sie gäbe? Frei Schnauze würd ich mal sagen: Bei der Kanzlerin.

Die Kanzlerin hat nämlich tatsächlich einen harten Job. Sie arbeitet meistens sieben Tage in der Woche. Sie muss sich mit ziemlich unangenehmen Typen die Tage und manchmal sogar die Nächte um die Ohren schlagen. Ich wollte  ja eigentlich keine Namen nennen. Aber ich treffe mich definitiv lieber mit Häuptling Eulenfeder als mit Erdogan, Putin oder Juncker.

Die Kanzlerin hat ein Jahres-Einkommen von etwa 270.000,- Euro. Ein Hartz-Mensch hat ein Jahreeinkommen von ca. 9000,- Euro (12 mal 750,-) – das ergibt den Faktor 30. Die Kanzlerin verdient 30 mal so viel wie der Ärmste von denen, die sie mehrheitlich zur Chefin gemacht haben.

Und genau hier muss Schluss sein! Niemand sollte in Deutschland mehr als die Kanzlerin verdienen. Man mag von ihr und ihrer Arbeit halten, was man will. Aber sie hat die Verantwortung für das Wohlergehen von 80 Millionen Menschen, und ihr Einfluss für das Wohlergehen der restlichen 6,2 Milliarden Menschen auf dieser Welt ist nicht ganz unerheblich. Sie arbeitet hart und ihr Einkommen sei ihr gegönnt.

Zurück zur Schere: Wie wird eine Schere benutzt? Man öffnet sie, dann setzt man sie da an, wo man was wegschneiden will und dann wendet man Kraft auf zum Schließen der Schere. Sehr einfach.

Kleines Beispiel: Der WDR-Intendant Tom Buhrow soll 367.000 Euro im Jahr verdienen. Schere ansetzen und weg damit! Wenn es ihm nicht passt, findet sich bestimmt ein Anderer. Ein Intendant ist gewiss leichter zu ersetzen als eine Kanzlerin. Ich vermute ja, dass eine Handvoll Studenten seine Arbeit im Teamwork sogar besser machen würde. Und billiger dazu!

Ein nicht ganz so kleines Beispiel: Lt. Studie nehmen die Chefs der großen Firmen in Deutschlang im Schnitt 4,7 Millionen Euro jedes Jahr mit nach Hause. Das ist 17,4 mal so viel wie die Kanzlerin verdient. Arbeiten diese Leute etwa 17,4 mal 7 Tage, also 121 Tage in der Woche? Wie machen die das? Tragen Sie für so viel mehr Menschen Verantwortung als die Kanzlerin? Fördern sie den Fortschritt oder behindern sie ihn eher? Für das Geld nur eines einzigen von diesen Firmenchefs würden sich mit Sicherheit 40 Leute finden, die für „nur“ etwa 100.000,- Euro Jahresgehalt mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens die selbe Leistung erbringen, eher eine bessere. Billiger wäre es obendrein noch, und die so generierten Gewinne könnten an diejenigen ausgeschüttet werden, die sonst noch so in der Firma arbeiten. Cool, was man mit so einer Schere im Kopf alles machen kann!

Übrigens meinen nach der erwähnten Studie die befragten Arbeiter in den Firmen, ihre Chefs würden etwa 10 mal so viel verdienen, wie sie selber. Und ideal und gerecht würden sie finden, wenn der Faktor bei 4,6 läge. Das Durchschnittseinkommen von Beschäftigten liegt in Deutschlang bei etwa 32.000 Euro. Die Chefs greifen sich aber nicht „nur“ 10 mal so viel, sondern ca. 147 mal so viel! Schere angesetzt und weg damit!

Ich finde so eine Schere im Kopf einfach toll!

Wie genau so was machbar sein soll? Mit einem Gesetz eben! Hab ich doch schon gesagt.

Wo kriegt man ein Gesetz her? Kann man das kaufen? Na?

Wenn ja, was kostet ein solches Gesetz? Da müsste man die Lobby-Leute fragen, die ich bei der gesetzgebenden Instanz Tag für Tag die Türklinke in die Hände drücken.

Und was ist mit uns? Mit uns von unten? Wir können wählen. Haha! Kurz vor der Wahl werden in der Regel ein paar Themen zur Wahl gestellt. Die Schere zwischen arm und reich definitiv zuzuklappen, stand seit ich denken kann nicht zur Wahl. Ist der Preis, den wir zahlen müssen, ein Aufstand? Ein lautes Aufbegehren samt Schießbefehl auf die Unruhestifter?

Oder ein selbst gewählter Rückfall in den National-Sozialismus, der uns nicht vorwärts bringt, sondern zurück, samt KZs für Flüchtlinge?

Wie wäre es mit dieser Lösung: Der geordnete Übergang in die direkte Demokratie – Selbstbestimmung für das Kollektiv, und zwar gerade und ganz besonders zum Thema Geld. Zusammen mit einem coolen Weisenrat.

Ein Weisenrat? Was soll das denn nun wieder? Nicht nur Scheren sind in meinem Kopf. Auch Ideen! Die Idee vom Weisenrat stammt vom Erich Fromm. Sie ist also nicht neu und auch nicht in mir entstanden. Aber gewachsen ist der Same der Idee vom Weisenrat von Erich Fromm in meinem Kopf seit Jahrzehnten. Der Weisenrat ist auch schon längst gegründet. Und wer sitzt da drin? Na? Man möchte es kaum glauben: Es handelt sich um Häuptling Eulenfeder! Doch dazu mehr beim nächsten Mal.

Übrigens: Die Schere ist das Attribut der griechischen Schicksalsgöttin Atropos (die Unabwendbare). Atropos Gesänge handeln von der Zukunft.

Quellen:

http://www.manager-magazin.de/lifestyle/artikel/gehalt-von-chef-und-angestellten-im-vergleich-weltweit-a-995009.html

http://web.de/magazine/wirtschaft/kanzlerin-angela-merkel-verdient-intendant-wdr-gerecht-31007886

https://www.joachim-herz-stiftung.de/wer-wir-sind/fakten-zahlen/

http://www.businessinsider.de/forbes-liste-die-reichsten-deutschen-2016-3?op=0#/#36-michael-herz-15

 

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