Die Sehnsucht nach der sinnlichen Dichte der Welt
Eine kurze Geschichte des Einkaufens. „Der Kunde ist König“? Heutzutage ist er eher ein Belästiger, fast ein Aussätziger. Verkäufer versuchen den Kontakt mit ihm fast um jeden Preis zu vermeiden. Beim Auffinden der Waren in einem Konsum-Labyrinth wie beim Bezahlen wird an seine Eigenverantwortung appelliert. In manchen Läden deuten Verkäuferinnen schon missmutig auf einen Schlitz, in den man Geldscheine zu stecken hat, wenn ihnen Old-School-Käufer das Geld noch auf die nackte Hand zu geben versuchen. Das Einkaufen wird – wie fast alles in dieser schönen neuen Welt – schneller, steriler, immaterieller. Auf der Strecke bleibt nicht nur die sinnliche Direktheit, sondern auch der unmittelbare Kontakt zwischen Menschen. Der gilt Kommerz-Strategen wohl als lästiger Prozess-Verlangsamer und ist marktwirtschaftlich kontraproduktiv. Der Autor erinnert sich, dass das einmal anders gewesen ist… Götz Eisenberg
„Zum Schluss noch ein Gedänkchen: in allen Bewegungen, welche die Welt verändern möchten, ist immer etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes. Das Maß dessen, was ersehnt wird, ist immer bis zu einem gewissen Grade Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist. Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepasst, und will es darum nicht anders haben.“ (Theodor W. Adorno in einem Brief an Max Horkheimer aus dem Jahr 1957)
„… damals, als alles noch besser, nein, besser nicht, aber weniger schlimm gewesen ist.“
(Werner Kofler)
Neulich suchte ich ein Gießener Kaufhaus auf, um ein Klebeband zu kaufen, das man beim Streichen zum Abkleben benötigt. Eigentlich ist schon die Wendung „ein Gießener Kaufhaus“ irreführend, weil es insinuiert, es gebe mehrere. Als ich nach Gießen kam, gab es in der Innenstadt mindestens vier Kaufhäuser. Das, in dem der amtierende thüringische Ministerpräsident Anfang der 1970er Jahre seine kaufmännische Lehre absolviert hat, ist übriggeblieben. Ich suchte also das Gießener Kaufhaus auf, weil ich keine Lust hatte, mit dem Rad zu einem Baumarkt am Rande der Stadt zu fahren. Wo aber findet man in den unermesslichen Weiten dieses Kaufhauses ein Malerband? In der Schreibwarenabteilung suchte ich vergebens. Ich fragte einen Mitarbeiter, der mich auf den zweiten Stock verwies. Dort in der Heimwerkerabteilung müsse es so etwas geben. Ich fuhr also mit der Rolltreppe nach oben und fand am Rande dieser Etage tatsächlich die Heimwerkerabteilung.
Ich brauchte nicht lang, um die Klebebänder zu entdecken. Sie hingen auf Drahtbügeln in einem Regal. Aber sie waren nicht mit Preisschildern versehen. Ich sah mich nach einem Kaufhausmitarbeiter um. Am Horizont entdeckte ich jemanden, der einer sein konnte. Aber er war in ein Gespräch mit einem Kunden vertieft, und so ich musste warten, bis dieses beendet war. „Wissen Sie, was dieses Klebeband kostet?“, fragte ich dann. „Dort“, sagte er und wies mit dem Kinn in südliche Richtung, „ist an der Wand ein Scanner. Wenn Sie das Produkt Ihrer Wahl da drunter halten, zeigt er Ihnen an, was es kostet. Heute ermittele ich den Preis für Sie nochmal mit meinem Handy.“ Er fuhr mit seinem Smartphone mehrmals über das Klebeband, bis es einen Piepston absonderte und der Betrag auf dem Display erschien. „Wollen Sie denn von Kunden überhaupt nicht mehr belästigt werden“, fragte ich. Eine in der Nähe stehende Kundin, die Zeugin unseres Gesprächs geworden war, lachte hellauf. Der Mitarbeiter war schlagfertig und sagte: „Ich habe Sie auf diese Möglichkeit hingewiesen, damit Sie nicht nach einem freien Mitarbeiter suchen müssen. Das kann nämlich dauern, da es kaum noch Mitarbeiter gibt.“
Nachdem ich mich für das fragliche Klebeband entschieden hatte, begab ich mich auf die Suche nach einer Kasse. Früher gab es in jeder Abteilung sowohl Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als auch eine Kasse, jetzt kann man froh sein, wenn man auf der jeweiligen Etage eine findet. Die meisten Zeitgenossen zahlen noch die kleinsten Beträge inzwischen mit Karte. Solange es geht, ziehe ich es vor, mit richtigem Geld und bar zu bezahlen. In einer nicht mehr allzu fernen Zukunft werden die Kassiererinnen und Kassierer wegrationalisiert sein. In den Niederlanden geriet ich unlängst in einen Laden, der bereits weitgehend ohne auskommt. Man nimmt am Eingang einen Scanner aus der Halterung und scannt seine Einkäufe selbst. Am Ende des Einkaufs hält man die Kreditkarte an den Scanner und der Betrag wird abgebucht. Manche wickeln ihre Einkäufe bereits über ihr Handy ab. Man kann einkaufen, ohne mit irgendeinem Menschen geredet und in Kontakt gekommen zu sein. Vorbei der kleine Plausch an der Käsetheke, keine Berührung mehr mit niemand im Nirwana des Geldes und des Konsums.
Früher war Einkaufen ein sozialer Akt, der ohne Kommunikation nicht vorstellbar war. Die Läden meiner Kindheit waren nicht nur Geschäfte, sondern Begegnungsstätten. Sie waren keine Selbstbedienungsläden, sondern von Tresen und Regalen umstellte Räume, in dem die Kunden ihre Bestellungen aufgaben, die sie zu Hause auf Einkaufszetteln notiert hatten. Man kam irgendwann an die Reihe und wurde bedient. Auch die Inhaber kannten ihre Kunden mit Namen und wussten über ihre Lebensumstände Bescheid. Man nahm sich Zeit für einen Plausch und erkundigte sich nach dem Wohlergehen von Angehörigen und den Plänen für die Sommerferien. Bis man drankam redete man miteinander und auch danach redete man weiter. Es wurden überhaupt unendlich viele Geschichten erzählt, von den Männern in der Kneipe, von den Frauen im Laden, wo man sein Brot und seine Milch kaufte. Die Milch wurde in mitgebrachte Milchkannen gepumpt, Heringe mit einer hölzernen Zange aus einem Fass geholt und in Papier eingeschlagen, meist in altes Zeitungspapier. Tee, Zucker, Mehl, Gewürze waren noch nicht abgepackt, sondern wurden mit Schaufeln aus gläsernen Behältern geholt, gewogen und in Papiertüten gefüllt, die von Verbrechern in Gefängnissen geklebt worden waren.
Viele Kunden brachten die gebrauchten Tüten beim nächsten Einkauf wieder mit. Selbstverständlich brachte jeder Taschen oder Körbe mit, in denen die Einkäufe verstaut wurden. Die meisten ließen anschreiben und zahlten die Einkäufe am Ende des Monats. Wer einem Kunden etwas Missratenes oder Verdorbenes andrehte, musste damit rechnen, dass dieser gleich darauf auftauchte und der Verkäufer im ganzen Ort unten durch und blamiert war. Die persönliche Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer beinhaltete eine Qualitätskontrolle, die durch heutige noch so ausgefuchste Qualitätssicherungsmaßnahmen nicht annähernd erreicht werden kann. Dass an schwül-heißen Sommertagen die Milch in der Kanne auf dem Heimweg sauer wurde, konnte natürlich dem Händler nicht angelastet werden, das war einfach so. Die Milch war noch nicht pasteurisiert und homogenisiert. Weg geschüttet wurde sie deswegen nicht. Man goss sie in tönerne Schalen, deckte sie mit einem Fliegengitter ab und aß sie nach ein paar Tagen mit Kompott, das im Keller in langen Reihen von Einmachgläsern stand. Wenn die Gummiringe nicht richtig dicht waren und die Gläser aufgingen, bildete sich oben auf dem jeweiligen Inhalt eine dicke Schicht grünlichen Schimmels. Dieser wurde mit einem Löffel abgehoben und der Rest dennoch gegessen. Wir Kinder ekelten uns ein wenig vor der Haut, die sich auf der sauren Milch bildete. Die enthalte das Beste und Wertvollste, hieß es, und musste mitgegessen werden. Erstaunlicherweise haben wir all diese Prozeduren überlebt.
Erwin Strittmatter schildert im ersten Teil seines Romans „Der Laden“, mit welchen Schwierigkeiten die Familie Matt zu kämpfen hatte, als sie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in einem kleinen Dorf in der Lausitz einen Krämerladen eröffnete. Niemand kaufte Scheuersand im Laden. Die Leute gingen in die Heide und holten sich den Sand dort, wo er herumlag, auf den Bruchfeldern der Gruben. Oder Peitschen. Bisher hatte kein Bossdomer Kleinbauer je eine Peitsche gekauft. Man schnitzte sich einen Peitschenstiel aus Wacholder, Birke oder Hasel, flocht aus drei Bindfadensträhnen einen Riemen, den man mit Öl tränkte und dann in Ruß, Moder oder Pech wälzte. Man musste die Dinge des Alltags erst zu etwas machen, was man kaufen kann. Man musste den Leuten einreden, dass sie „altmodisch“ sind und „mit der Zeit gehen“ müssen. Irgendwann bestanden dann die Leute auf Scheuersand der Marke Max und Moritz. Einer kaufte eine Peitsche, die schön knallte, und bald wollten alle eine solche Peitsche haben und hörten auf, sich Peitschen selber herzustellen. Mit den Worten von Ivan Illich: Durst musste umgewandelt werden in Nachfrage nach Coca Cola.
Im Laufe der Zeit werden aus den Dingen des täglichen Gebrauchs Waren, die man käuflich erwerben muss. Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Universalgeschichte der Enteignung – zunächst von den Produktionsmitteln, den Arbeits- und Lebensbedingungen, dann von Wissen und Fähigkeiten, zuletzt, wenn alles Äußere dem Kapital subsumiert und in den Geldnexus einbezogen ist, sogar von den Gefühlen und intimen Binnenwelten. Alles bekommt eine Warenhaut übergezogen und erhält einen Wert, das Leben gerät komplett unter die Kontrolle des Marktes. Bedürfnisse werden geweckt, Waren mit unerfüllten Sehnsüchten und unbewussten Wünschen verknüpft. Am Ende wissen die Leute nicht einmal mehr, wo eine Kartoffel herkommt und wie man sie schält. Vor dem Haus verfaulen die Äpfel auf den Bäumen, aber man kauft sich in Plastik eingeschweißte Äpfel aus Südamerika. Wie Leben geht und Liebe aussieht, wie man sich kleidet und küsst, schauen sich die Jugendlichen von irgendwelchen Influenzerinnen oder Teilnehmern an Casting-Shows ab.
Die kleinen Lebensmittelläden und Einzelhandelsgeschäfte verschwanden ab den 1970er Jahren peu à peu. Nun fuhr man einmal in der Woche mit dem Auto zum nächsten Supermarkt und kaufte H-Milch in Tüten. Es begann die Zeit der Verpackungen und des Plastiks. Alle kommunikativen Aspekte wurden aus dem Vorgang des Verkaufens herausgepresst. Reden gilt in der schönen neuen Einkaufswelt als Störfaktor. Gefürchtet werden ältere Leute, die nicht mir Karte zahlen und in ihren Geldbörsen umständlich nach Kleingeld suchen. Eine Supermarktkette aus den Niederlanden hat verstanden, dass man im Begriff ist, den Bogen zu überspannen und eine „Plauderkasse“ für Kunden mit Redebedarf eingeführt. Das wird vom Rest der Kundschaft wahrscheinlich wahrgenommen wie eine Kasse für „Gehandicapte“, wie man Behinderte neuerdings nennt. Die sozialen und kommunikativen Aspekte des Einkaufens sollten nicht abgespalten und arbeitsteilig ausgegliedert werden, sondern ins normale Einkaufen zurückgeholt werden. Wie es auf dem Wochenmarkt noch der Fall ist, der von Menschen aufgesucht wird, um Einkäufe zu tätigen, Freunde zu treffen und miteinander zu reden.
Es gibt ein verbreitetes Leiden an der wachsenden Anonymität und Entfremdung und eine große Sehnsucht nach Orten, an denen man wahrgenommen und wiedererkannt wird, eine Sehnsucht nach der sinnlichen Dichte der Welt und leiblicher Anwesenheit, nach einer Zeit, als die Menschen noch Dinge herstellten und Werkzeuge benutzten, statt zu Anhängseln von Maschinen und Algorithmen zu werden. Eine Welt, in der, wie Brecht sagte, alles „in die Funktionale gerutscht ist“, wird sich am Ende als nicht lebbar erweisen. Den Widerstand gegen diese Tendenzen dürfen wir nicht dem rechten Populismus überlassen, der die Sehnsüchte zur Gartenlaube zurückbetrügen möchte, wo wie in Großmutters Nähkästchen alles an seinem Platz liegt und im Dämmerlicht des Kerzenscheins aus einer kalten, funktionalen Gesellschaft eine heimelige, warme Gemeinschaft wird. Es gilt, die regressiven Sehnsüchte der Menschen im Sinne Erst Blochs in „Träume nach vorwärts“ zu verwandeln. Nicht in einer das Fremde und Andere ausgrenzenden „Volksgemeinschaft“ liegt die Lösung, sondern in einer solidarischen Gesellschaft, die die wild gewordene Ökonomie zurückpfeift und sich ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen wieder aneignet.
Es bleibt uns nicht mehr allzu viel Zeit, um die Kontrolle über die ökonomischen Prozesse zurückzugewinnen, sonst werden wir alle in einen marktwirtschaftlichen Schiffsuntergang mit hineingerissen. Noch immer herrscht gute Laune an Bord der Titanic, und die Mehrheit der Zeitgenossen macht keine Anstalten, dem Kapitän das Ruder zu entreißen und einen anderen Kurs einzuschlagen. Die Absatzzahlen der SUV‘s steigen und die Anzahl der Flugpassagiere nimmt stetig zu. Hinter den Scheiben von McDonalds sitzen die Leute und verleiben sich diesen Scheißfraß ein, jeder zweite rennt hinter seinem Smartphone her und/oder hält einen Coffee-to-go-Becher in der Hand. Gestern sah ich vier Halbwüchsige eine Luxuslimousine umkreisen. Sie tauschten technische Daten aus und waren sichtlich hin und weg. Da bemerkten sie, dass der Besitzer drin saß. Einer von ihnen klopfte an die Scheibe und fragte, ob er für sie nicht mal den Motor anlassen können. Sie würden gern mal den Sound hören. Er tat ihnen den Gefallen, fuhr ein paar Meter und ließ den Motor aufheulen. Die Jungs träumen von so einem Auto und werden sich eines Tages der Bewegung Fridays for Hubraum anschließen.
Alle wissen alles, aber machen weiter wie bisher. Wie soll man da nicht verrückt werden oder verzweifeln? Luisa Neubauer sitzt beim Lanz und hält ihr schönes Gesicht in jede Kamera. Längst hat die „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) die Bewegung gegen den Klimawandel vereinnahmt und ihre Repräsentantinnen spielen im medialen Zirkus begeistert mit. Der Hype um die Grünen und Fridays for Future hat eine objektive Basis: Der Kapitalismus benötigt dringend Kräfte, die den Übergang zu einer neuen Akkumulationsphase tragen und ihm dabei behilflich sind, sich von Kohle und Öl zu lösen und ins postfossile-digitale Stadium einzutreten. Geht der Planet vor die Hunde, geht der Kapitalismus mit unter. Deswegen benötigt er politische Bewegungen und Parteien, die ihn vor seiner eigenen Destruktivität schützen und versuchen, seine und unsere Lebensgrundlagen zu bewahren.
Die Fähigkeit, sich oppositioneller Bewegungen als Motor für die eigene Weiterentwicklung zu bedienen, ist erstaunlich und erklärt die Langlebigkeit eines Systems, dessen Untergang die Linken schon so oft vorhergesagt und erwartet haben. Marx hatte im „Manifest der Kommunistischen Partei“ allerdings die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die kämpfenden Klassen gemeinsam untergehen könnten. Diese Möglichkeit scheint mir inzwischen realistischer als die revolutionäre „Expropriation der Expropriateure“ und der Übergang zu einem „Verein freier Menschen“. Bleibt mir nur, mich und uns an Rosa Luxemburg zu erinnern, die einer verzagenden Parteigenossin am 28. Dezember 1916 aus dem Gefängnis schrieb: „Dann sieh, dass Du Mensch bleibst. Mensch sein ist vor allem die Hauptsache. Und das heißt: fest und klar und heiter sein, ja, heiter trotz alledem und alledem.“
Bei Norma hängt neuerdings ein PC-Ausdruck an der Eingangstür „Bitte keine Rucksäcke!“ Äh was, soll ich meinen Minirucksack vor dem Laden ans Fahrrad hängen? Man könnte mich auch gleich auffordern keine Jacke oder Hose mit Taschen zu tragen, jeder Kunde ein potentieller Dieb. Klar, kommt vor, wenn’s Existenzminimum nicht mehr reicht und der Magen knurrt. Schrecklich für Konzerne, Armutskriminalität treibt sie an den Rand des Ruins. Aber Lebensmittel als Müll zu entsorgen, das können sie schon, darf nur kein Dieb im Container wühlen, wird als Bereicherung angesehen, als kriminelle Tat im Sozialstaat.
Früher gab’s im Emma-Laden noch Endstücke Wurst oder Käse für wenig Geld, heute kloppt man Essbares als umsatzschmälernd in die Tonne und macht dazu einen steuerlichen Gewinn daraus.
Oder mit Karte zahlen wollen, aber die PIN vergessen haben, bei der Dritten Fehlermeldung die Welt nicht mehr verstehen, die gerade kopfsteht.