Die ultimative Provokation
Die Logik des Kriegs ist dem Schlachtfeld entwachsen und in der Öffentlichkeit allgegenwärtig — höchste Zeit, an die radikale Friedensbotschaft des Christentums zu erinnern. Wenn deutsche Politiker äußern, sie hätten Sorge, die Bevölkerung könnte kriegsmüde werden, dann fragt sich, in welcher Welt wir eigentlich leben. Mehr als verstörend ist auch, dass pazifistisches Nachdenken permanent diffamiert wird. „Wir folgen nicht dem makabren Tanz der Todeshändler, andernfalls werden wir in Europa keinen gerechten Frieden haben, sondern, wie Kant sagt, den ewigen Frieden der Friedhöfe und des Todes.“ So sagte es Donatella Di Cesare in einem Statement auf dem YouTube-Kanal der Nichtregierungsorganisation Emergency. Empörung und Shitstorm waren der italienischen Philosophin sicher. Warum eigentlich? Leben wir nicht vermeintlich im „christlichen Abendland“, in welchem Friedfertigkeit, Vergebung und Liebe nicht nur erlaubt, sondern sogar gefordert sind? Gerade die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der heute Parteien, Medien und sogar Kirchen in vielen Ländern die Kriegslogik unterstützen, zeigt: Die christliche Botschaft ist noch immer eine Provokation, von der sich die meisten überfordert fühlen — es ist jedoch eine heilsame. Sylvie-Sophie Schindler
Angst vor Beifall
Bellizistische Logik findet man keineswegs nur auf dem Schlachtfeld. Auch die Gesellschaft, bekräftigt durch ein polit-mediales Aufwieglerkollektiv, ist meisterhaft in ihrem militanten Furor, man denke nur an feindbildstützende Parolen wie „Man muss sich abgrenzen“ oder „Kein Applaus von der falschen Seite“. Wohin das führt, darauf verwies Hans Magnus Enzensberger in einer 1962 erschienenen Essaysammlung: „Die Angst vor dem ‚Beifall von der falschen Seite‘ ist nicht nur überflüssig. Sie ist ein Charakteristikum totalitären Denkens.“ Und: „Die einzig in sich stimmige Welt ist die totalitäre.“ Allein, Wokismus-Prediger schreckt das nicht.
Eine totalitäre Welt? Nie wieder. Was stattdessen? Was braucht diese Welt eigentlich? Ist es überhaupt erlaubt, nach Martin Luther King noch die ganz großen Träume zu träumen? Und was ist ihr Inhalt? „Wird aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?“, endet Thomas Manns „Zauberberg“. Eine verzweifelte Hoffnung angesichts des Blutbads des Ersten Weltkrieges, durch das der große Schriftsteller seinen Protagonisten Hans Castorp stolpern lässt, mal das „Gesicht im kühlen Kot“, mal „die Spitze des Säbels auf dem Bauch“.
Jede nächste Begegnung gibt mir eine nächste Gelegenheit, Nächstenliebe zu leben.
Die Liebe also. Auf sie gilt es weiterhin zu hoffen. Im öffentlichen Diskurs schweigt man sie allerdings tot. Als existierte sie nicht. Oder allerhöchstens als Verschwörungstheorie unter Traumtänzern in strahlend weißen Gewändern. Dafür singt man euphorisch das Schwere-Waffen-Mantra. Und es beschallen Markus Lanz und Co ihre Zuhörerschaft mit einem Panzerhaubitzen-Talk nach dem anderen und glorifizieren dabei en passant Killermaschinen, die bis zu zehn Granaten pro Minute abfeuern. Ein öffentlich-rechtlicher Überbietungswettbewerb in Vernichtungsfantasien. Nur: Wissen sie denn, was sie tun? Und: Wer öffnet sein Herz?
Spreche ich von Liebe, dann nicht von der verkitschten Version, die nur einen Klick entfernt in Streamingdiensten wie Netflix angeboten wird. Und von der sich, erschreckend genug, immer mehr Paare infizieren lassen — Hochzeitsmessen sind ein wahres Eldorado des Schmonzetten-Klimbims. Was aber verbirgt sich hinter der Rosa-Wolken-Inszenierung? Kommt da noch was? Wie begabt sind Menschen überhaupt für die Liebe? Einen in die Tiefe führenden Liebesbegriff, der durchaus viel abverlangt, untersuchten die Philosophen und Einander-Liebenden Hannah Arendt und Martin Heidegger. In einem regen Briefwechsel versuchten sie sich an Modifizierungen des Augustinus-Zitats „Amo: Volo ut sis“, wonach der Liebende sich befähigt, zu dem anderen zu sagen: „Ich liebe, das bedeutet, ich will, dass du seist, wer du bist.“ Gemäß Heidegger geht es darum, das Gegenüber „in seinem Sosein und Dassein bejahend zu lassen“. Das führe zu der Überlegung: „Wie bereit ich’s, dass du wohnst im Wesen?“
Mündigkeit des Herzens
Fassen wir dieses Ideal der Liebe, wie sie unter zweien sich entfalten kann, größer. Und denken wir sie außerdem über Familie und freundschaftliche Gruppen hinaus, hin zur Welt. Sind Menschen fähig, sich zu einem Plural zusammenzufinden, dessen Größe und Komplexität den vertrauten Kreis übersteigt, und zwar als solche, die einander liebend bejahen? Anders gefragt: Wie steht es um die Mündigkeit des Herzens? Die des Verstandes gilt, so heißt es seit dem 18. Jahrhundert, zumindest für alle, die mitmachen wollen.
Mit der Aufklärung spätestens hat sich der Mensch aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit, also aus seinem Unvermögen, seinen Verstand ohne Lenkung von außen zu nutzen. In Anbetracht der Weltenlage ist freilich fraglich, ob ihm das umfassend genug gelungen ist.
Adäquat liegt nahe, dass es auch mit der Mündigkeit des Herzens nicht so weit her ist.
Es ist nicht schön, am Menschen zu zweifeln. Man sollte es besser wie Friedrich Nietzsche halten und ihn hin zum Höchsten denken. Das freilich erfordert eine Definition. Denn es soll Nietzsches Konzept des „Übermenschen“, das er als „Rettung für die Menschheit“ postulierte, hier nicht weiterverfolgt werden, sondern lediglich die Auffassung, dass der Mensch, als der er sich zeigt, noch nicht an sein Ende gekommen ist. Zudem, Nietzsches Übermensch kann nicht in einem christlichen Kontext situiert werden — doch genau darauf steuert mein Nachdenken zu. Wird doch der Homo amans, der Mensch als Liebender, nirgendwo mehr beworben als im Christentum. Man mag sagen, olle Kamellen, längst überholt, und dann noch die traditionelle und oft auch berechtigte Klage über die katholische Kirche dazupacken, doch halt, es verhält sich vielmehr so, dass man, wie der Schriftsteller Max Frisch in seinen Briefen, fragen muss: „Wann fängt das Christentum endlich an?“
Algorithmus und Empathie
Ein Affront? Das Gute, das zwischen Menschen geschieht, ihr stetes Bemühen, soll damit nicht kleingeredet werden. Doch: Da geht noch mehr. In der Bergpredigt interpretiert Jesus das Gebot der Nächstenliebe radikal: „Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.“ Denn: „Wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes?“ Nicht zu vergessen: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Es hat sich durchgesetzt, ob solcher Appelle von Zumutung zu sprechen.
Ohnehin wird dem Christentum vorgeworfen, es sei eine stete Überforderung. Als legte es dieses geradezu darauf an, jeden mit seinem Scheitern zu konfrontieren, das ob der hohen Ansprüche zwangsläufig folgen muss.
Ich habe mir angewöhnt, es sportlich zu nehmen, wenn ich als Homo amans nicht immer brillieren kann. Das heißt nicht, dass ich leichtfertig damit umgehe, aber ich muss deshalb nicht in Sack und Asche gehen. Jede nächste Begegnung gibt mir eine nächste Gelegenheit, Nächstenliebe zu leben. Ich mache das nicht, um Gott zu gefallen, ich will nicht als „guter Mensch“ beklatscht werden, sondern, ganz pragmatisch, mich überzeugt schlichtweg kein anderer Weg. Denn: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ So heißt es sehr treffend im sogenannten Hohelied der Liebe.
Mit künstlicher Intelligenz kann der Mensch nicht mithalten. Man denke nur an den selbstlernenden Algorithmus Alphazero, der nur vier Stunden brauchte, um eine übermenschliche Spielstärke im Schach zu erreichen. Geht es hingegen um Liebe, schauen KI-Systeme ziemlich alt aus. Mögen sie auch qua Programmierung Empathie und Zuwendung zeigen — es handelt sich, selbst wenn Transhumanisten das anders einordnen, immer um Simulationen. Und simulierte Liebe ist: keine Liebe.
Einsteins Definition von Wahnsinn
Was aber ist: Liebe? Müssen wir das überhaupt so genau wissen, oder sollten wir nicht einfach draufloslieben, so gut wir eben können? Jedenfalls, dass uns die Befähigung dazu von Robotern unterscheidet, ließe sich nachgerade als Aufforderung verstehen. Doch wie stellen wir es an, es darin zu einer, sagen wir mal, Meisterschaft zu bringen? Vielleicht über Subtraktion: Indem wir entfernen, was uns hindert zu lieben. Rechthaberei beispielsweise. Kann weg. Die Tyrannei der Übereinstimmung. Auch weg damit. Denn erst über die Erkenntnis, dass der andere von mir verschieden ist, lässt sich, da ich immer damit rechnen muss, selbstverständlicher mit der anderen Meinung umgehen. Oder anders: Die Annahme, der andere sei mir ähnlich, also die Idee der Verschmelzung, wozu die meisten neigen, führt bei abweichenden Positionen viel schneller dazu, den anderen als Bedrohung wahrzunehmen.
Die Welt der Bedingungen — „Wenn, dann“ — hört auf, zu existieren, wenn man liebt, auch Feindbilder kommen nicht mehr vor; niemand braucht sich angegriffen zu fühlen, niemand muss sich verteidigen. Und: Es gibt keine Abstufungen. Man liebt nicht diesen einen Besonderen, sondern jeden, der vor einem steht. Bisschen viel verlangt? Mag sein.
Doch genau darum geht es. Liebe ist, so besehen, die wohl noch einzig verbleibende Provokation. Weil wir dazu alles, aber auch wirklich alles aufbringen, uns anstrengen, über uns hinauswachsen müssen. Wer auf andere schießt, sei es mit Worten oder mit Waffen, was leistet der schon? Es ist das Konzept für die Bequemen, die Fantasielosen. Die wider besseres Wissen reflexartig Menschheitsgeschichte wiederholen.
„Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Das soll Albert Einstein gesagt haben, gleichwohl es nicht eindeutig belegt ist. Nichtsdestotrotz: Es stimmt.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Liebe ist die letzte Provokation“ bei Radio München.
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