Die ungesunde Identifikation mit den Peinigern

 In FEATURED, Politik, Roland Rottenfußer

Gemälde: „Die Erschießung der Aufständischen“, Goya

Wie funktioniert Unterdrückung? Wie schafft es militärischer Drill, Menschen so zu deformieren, dass sie bereitwillig töten? Wie kommt es immer wieder zu entsetzlichen Massakern und Folterungen? Und nicht zuletzt: Warum wächst der Widerstand der Bevölkerung nicht mit dem Grad der Zumutungen? Der Versuch, einer Erklärung näher zu kommen (Roland Rottenfußer)

Es ist ja kein Wunder, dass ich in den letzten Jahren etwas „negativ“ drauf bin. Seit dem Bombardement von Kundus 2009 – vermutliche das grösste deutsche Kriegsverbrechen seit dem 2. Weltkrieg – stoße ich durch „Zufall“ ständig auf Schreckensmeldungen. Besonders Berichte über Massaker. Es scheint geradezu eine typische Verhaltensweise der menschlichen Spezies zu sein, Massaker zu verüben.

Massaker überall

Zum Beispiel Nanking 1937. Japanische Besatzer töteten damals ca. 300.000 Opfer aus der Zivilbevölkerung, es kam zu Massenvergewaltigungen. Der Film „John Rabe“ gibt einen noch recht dezenten Einblick in das unfassbare Verbrechen. Bald nachdem ich den Film gesehen hatte, las ich Jean Zieglers Buch „Der Hass gegen den Westen“, der ein eigenes Kapitel über Kolonialmassaker enthält. Am 8. Mai 1945, am Tag nach der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation, befahl Frankreich die Durchführung eines Massakers an algerischen Aufständischen sowie an Unbeteiligten. Ca. 45.000. Tote Der Befehl lautete, innerhalb von 24 Stunden alle männlichen Algerier zu töten, derer man habhaft werden konnte. „Natürlich“ wurde der Befehl befolgt. Weder Japan noch Frankreich haben sich bisher in angemessener Form zu den Verbrechen bekannt.

Dabei gehören die genannten Ereignisse noch zu den „kleineren“. Laut Jean Ziegler gab es in Südamerika bei der Ankunft der Conquistadores 70 bis 90 Millionen Angehöriger indigener Völker. 150 Jahre später waren davon noch 3,5 Prozent übrig. Da ist Kundus mit seinen 140 Toten ja noch kommod. Allerdings muss man sagen: Es ist in der deutschen Geschichte eine eher junge Errungenschaft, sich auf Opferzahlen in dreistelliger Höhe zu beschränken. Angesichts der Uneinsichtigkeit der politischen Führung ist wohl zu erwarten, dass da noch einiges hinzukommen wird.

Die „Schock-Strategie“

Für all diese und viele weitere entsetzliche Vorfälle muss es einen Grund geben, der entweder in der menschlichen „Natur“ liegt oder darin, wie diese Natur von interessierter Seite verformt wurde. Es muss schon immer Techniken gegeben haben, die es Machthabern ermöglichten, ganze Gruppen von Menschen in willfährige Mörder zu verwandeln. Ich habe die Biografien der Täter nicht studiert, gehe aber davon aus, dass in allen Fällen Techniken militärischer Disziplinierung im Spiel waren. „Gehirnwäsche“ könnte man in einem modernen Begriff dazu sagen – eine Psychotechnik, die es vermag die alte Persönlichkeit des Soldaten quasi auszulöschen und – wenigstens vorübergehend – durch eine neue, unbegrenzt zum Töten bereite Persönlichkeit zu ersetzen.

Naomi Kleins Buch „Die Schock-Strategie“ vermittelt eine Ahnung davon, wie das geschehen kann. Die Autorin berichtet darin von Experimenten, die der Arzt Ewan Cameron im Kalten Krieg in Zusammenarbeit mit der CIA bis 1961 durchgeführt hat. Er kidnappte labile Psychiatriepatienten und unterzog sie einer Tortur aus Elektroschocks, starken Medikamenten, langen Schlafphasen und darauf folgenden Suggestionsformeln. Die Folge war, dass die Patienten in kindliche Zustände regredierten. Ein grosser Teil ihrer ursprünglichen Persönlichkeit wurde zerstört, ohne dass – wie die offizielle medizinische Rechtfertigung lautete – eine neue, „gesunde“ Persönlichkeit aufgebaut wurde.

Die Experimente wurden von der amerikanischen Regierung nicht etwa, wie man annehmen könnte, mit Empörung verurteilt, sondern weiterentwickelt – bis hin zu ihrer systematischen Anwendung in Guantanamo und anderen Folterlagern. Man kann also sagen, dass die USA gerade in der Epoche, die aus deutscher Sicht noch als die rühmlichste gilt – die Zeit der Rosinenbomber und freundlichen US-Besatzer, die deutschen Kindern Kaugummi schenkten – eine Epoche massiver Staatsverbrechen war. Der Unterschied zwischen der Nachkriegszeit und der Bush/Obama/Trump-Ära besteht eher darin, dass man sich heute „ehrlicher“ zur Folter bekennt. Der 11. September 2001 hat diesbezüglich jede „falsche Scham“ zum Verschwinden gebracht. „Ja, wir foltern, und das ist gut so“, ist das unausgesprochene Motto. Analog dazu setzt sich in Deutschland zunehmend ein „ehrliches“ und „mutiges“ Ja zum Töten im Krieg durch. Und diese Haltung wird von der Bevölkerung weitgehend geduldet.

Den Widerstand brechen

Ich muss es so scharf sagen, selbst wenn es dem einen oder der anderen zu negativ erscheinen mag: Eine wirklich durchweg zivilisierte und humane Nation hat es in der Weltgeschichte vermutlich nie gegeben. Der Grad an „Zivilisiertheit“ oder „Humanität“, die einer Gesellschaft zugestanden werden, lässt sich daran bemessen, wie sie ihre schwächsten Glieder behandelt. Also vor allem jene Menschen, die sich nicht wehren können oder von denen angenommen wird, dass sie eine humane Behandlung am wenigsten verdienen. Dazu gehören Gefängnisinsassen, Asylbewerber, Wehrdienstleistende, Kriegsgefangene, Transferleistungsempfänger, Obdachlose und letztlich auch die Tiere. Daran gemessen sieht die Bilanz fast überall trübe aus.

Es ist nachvollziehbar, dass ein Staat Gesetze schafft, um eine Grund-Ordnung aufrecht zu erhalten. Anarchie ist nicht nach jedermanns Geschmack. Der Massstab der Humanität ist jedoch für mich folgender: In welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln werden Menschen gequält, die für sich eine andere Entscheidung treffen als die im Gesetz oder von Ordnungskräften vorgegebene? Folter-Arzt Ewan Cameron verglich seine „Patienten“ einmal mit Kriegsgefangenen beim Verhör. Auch diese hätten versucht, „Widerstand zu leisten, und dieser musste gebrochen werden.“ Es ist erstaunlich mit welcher Leichtfertigkeit auch in westlichen Staaten immer wieder Widerstand gebrochen und Eigenwille gebeugt wird. Polizisten und Beamte in Deutschland sind z.B. überwiegend freundlich, aber versuchen Sie einmal, deren Anordnungen nicht zu befolgen. Sie werden feststellen, dass Sie damit keineswegs auf Respekt stoßen, sondern dass der Polizist oder Beamte nach Wegen suchen wird, diesen ihren Willen zu brechen.

Vielleicht ist das ein alter Traum jeder Staatsmacht (sofern diese nicht zutiefst von Werten wie Naturrecht und Menschenwürde durchdrungen ist): den menschlichen Charakter mit seinen fehlerhaften und widerständigen Eigenschaften auszulöschen und die „leere Festplatte“ seines Geistes mit einem neuen Programm zu beschreiben – mit den aus Sicht der Staatsmacht erwünschten Eigenschaften. Dieses Prinzip – Zerstörung und Wiederaufbau – findet selten so radikal statt wie in Guantanamo, aber es findet sanft und schleichend statt in Form von Manipulation und ziemlich brutal in der militärischen Ausbildung, der noch immer sehr viele junge Männer unterworfen werden.

Prinzip Militär

Militär und Militärausbildung sind das dunkle Geheimnis aller Völker – ein Geheimnis, das eigentlich gar keines ist, das nur verdrängt oder aufgrund lückenhafter Information ignoriert wird. Etwas, das im Grunde jeder Menschenrechtserklärung, jeden Sonntagsreden-Pathos von Freiheit und Menschwürde Lügen straft. Denn eine Verfassung, die Ausnahmen von der Menschenwürde zulässt, wenn es der „nationalen Sicherheit“ nützt, hat sich bereits von Naturrechts-Gedanken verabschiedet und öffnet ein Einfallstor für weitere Einschränkungen der Bürgerrechte. So demokratisch ein Staat auch konstituiert sein mag – hat man das Pech, in die Gewalt des Militärs zu kommen, befindet man sich in einer Diktatur. In den Kasernen und auf den Übungsplätzen der Armeen werden Menschen gedemütigt, gebrochen, zu Werkzeugen gemacht, dazu manipuliert, wie Automaten Tätigkeiten zu verrichten, gegen die sich ein intakter Charakter zu Recht sträuben würde. Es geschieht überall, mitten unter uns, Tag für Tag, und die meisten dulden es, weil sie das Gerede der Politiker von „nationaler Sicherheit“ glauben. Oder weil sie nicht genauer hinsehen wollen. Was schon jetzt mitten unter uns mit Soldaten geschieht, würde sie – wenn man das soldatische Prinzip weiter treibt – befähigen, an Massakern mitzuwirken. Welches Interesse haben Staaten daran, Anstalten zu schaffen, die intakte Persönlichkeiten in gebrochene verwandeln?

Wer einmal gebrochen wurde, weil ihm der Preis des Widerstands zu hoch erschien (meist Gefängnis, also noch mehr Demütigung), der trägt lebenslänglich eine latente Scham mit sich herum. Die Scham, sich selbst als feige und unterwürfig erlebt zu haben, wo der natürliche Stolz offenen Widerstand geboten hätte. Um diese Scham, diesen Zwiespalt auszuhalten, kommt es oft zu einer ungesunden Identifikation mit den Tätern – analog zu dem Verhalten, das man bei Opfern von Entführung oder Missbrauch festgestellt hat. Die Täter werden als Vaterfiguren idealisiert, zu denen man mitten im Leiden Zuflucht nehmen kann, obwohl gerade sie dieses Leid verursacht haben. Gerade Kinder – und zu kindlicher Vaterhörigkeit regredierte Staatsbürger – reden sich gern ein, dass sie selbst härteste Strafen „verdient“ hätten und dass der grausame Bestrafer es im Grunde gut meine.

Ich vermute, dass es bei Soldaten zu einer ähnlichen Dynamik kommt. Wenn die Seele den Zwiespalt nicht aushält, wenn sich ein Mensch nicht als Feigling erleben möchte, der Weg zum (psychisch gesünderen) Widerstand aber durch barbarische Strafandrohung versperrt scheint, dann bleibt die Regression ins Kindliche als letzter Ausweg. Das Opfer versucht dann, die Anweisungen des Täters scheinbar freiwillig besonders eifrig und brav zu erfüllen. Nicht jeder wurde natürlich massiv missbraucht und nicht jeder war Soldat – vor allem Frauen nicht. Aber die Dynamik der unterdrückten Empörung, des gebrochenen gesunden Stolzes, der falschen Identifikation mit den Peinigern, betrifft die Gesellschaft als Ganzes. Die meisten von uns sind – zumindest Opfer eines finanziellen Missbrauchs oder des Missbrauchs durch Manipulation. Und sehr viele spüren das zumindest unterschwellig. Die Duldungsstarre der Völker beruht vielleicht vielfach auf dem lähmenden Schock, der entsteht, wenn man mit negativen, eigentlich unfassbaren Informationen über „seinen“ Staat überflutet wird – also jenen „Vater Staat“, denen doch achten möchte und von dem man sich Schutz und Orientierung erhofft.

Hilflosigkeit eingestehen und trotzdem widerstehen

Was hilft, ist da vielleicht zunächst, sich die Dynamik klar zu machen. Sich einzugestehen, dass man nicht den Mut hatte, sich zu wehren, weil die Mächtigen den Preis des Widerstands bewusst immer so hoch schrauben, dass nur wenige die Kraft dazu haben, aufzubegehren. Es ist der Satz, mit dem im Film „Good Will Hunting“ der Psychologe (Robin Williams) seinen psychisch auffälligen jungen Patienten (Matt Damon) heilt: „Du kannst nichts dafür. Die anderen sind die Schweine“. Dieser Satz mag plump klingen und ist in einer Zeit, in der Politiker, Wirtschaftslenker und Mentaltrainer einhellig nach mehr Eigenverantwortung rufen, sicher nicht populär. Nichtsdestoweniger kann so ein Satz wahr sein, kann jemand wirklich unschuldig zum Opfer geworden sein oder wenigstens überwiegend ohne eigenes Verschulden etwas Schwerwiegendes erlitten haben. Der Appell an die Eigenverantwortung hat in diesem Zusammenhang ja auch die Funktion einer billigen Selbstentlastung des militärisch-ökonomisch-politischen Machtkomplexes.

Der gewaltlose Kampf um mehr Menschlichkeit aber muss immer auch ein Kampf gegen das Militär und seine Denkstrukturen sein. Es mag schwer, gar unmöglich erscheinen, das Militär vom Angesicht der Erde zu verbannen – aber ohne die Hoffnung darauf oder das Bemühen darum wäre es oft schwer, die Welt so zu ertragen wie sie ist.

 

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