Die Verteidigung der Kultur
Für Gustav Regler war Kultur „Menschlichkeit und Aufklärung über die Schrecken des Krieges.“ Jürgen Meier, Autor des empfehlenswerten Buches „Wider die Kulturzerstörer“ ergänzt: „Wird die Menschlichkeit im Einzelnen durch besonders perfiden Antisemitismus und Rassismus zerstört, so kann von Kultur nicht mehr die Rede sein. Kultur wird hier vernichtet!“ Meier erzählt zur Erläuterung vom Ersten Internationalen Schriftstellerkongress 1935, der Kultur und ihre Zerstörung vor dem Hintergrund eines in einigen Ländern schon installierten Faschismus zu definieren versuchte. Die dort geführten Diskussionen sind auch für die Jetztzeit höchst relevant. Auszug aus „Wider die Kulturzerstörer“ von Jürgen Meier, erschienen im Verlag Papy Rossa, erhältlich im Sturm-und-Klang-Shop.
Kultur zwischen Anpassung und Verteidigung
»Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt,
und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten
von der Menschheit weg sein.«
(Bertolt Brecht, »Leben des Galilei«)
Der 21. Juni 1935 war ein wichtiger Tag! Hier wollten Tausende von Menschen in Paris im großen Saal der Mutualité die Kultur verteidigen. Da der Saal nur für 3.000 Teilnehmer Platz bot, übertrugen Lautsprecher die Reden des Ersten Internationalen Schriftstellerkongresses auf den Vorplatz. Die Veranstaltung begann um 21 Uhr. Tausende von Menschen kamen zur Pariser Saint Victor 24 – um die Möglichkeiten im Kampf gegen den Faschismus von den über 250 bekannten Schriftstellern aus 38 Ländern skizziert zu bekommen. Die Bedrohung der Kultur durch den deutschen Faschismus, vor dem viele nach Paris geflüchtet waren, hatte sie zusammengeführt.
Im Aufruf des Organisationskomitees hieß es: »Angesichts der Gefahren, die in einer Anzahl von Ländern die Kultur bedrohen, haben einige Schriftsteller die Initiative zur Einberufung eines Kongresses ergriffen, um die Mittel zu ihrer Verteidigung zu prüfen und zu diskutieren.« Die »Verteidigung der Kultur« war ihr erklärtes Ziel. Auch wenn es Anna Seghers und Heinrich Mann nicht gelang, ihr Ziel einer Volksfront gegen den Faschismus durchzusetzen – die Ansichten über die Ziele des Kampfes waren zu verschieden –, war diese Konferenz doch ein Anfang. Hier sprachen Schriftsteller in erster Linie nicht über Kunst, sondern über Kultur, die sie retten wollten. Sie wussten, wie wir sehen werden, was es zu verteidigen galt. Ihnen war bewusst, dass Kultur nicht mit Unmenschlichkeit, Militär, Konkurrenz oder Korruption in Einklang zu bringen war.
Heute ist der Begriff Kultur leider zur Belanglosigkeit verkommen. Er wird sogar zur Rechtfertigung krimineller Tätigkeiten benutzt. Theo Zwanziger[1], auf den Stimmenkauf zur Fußball-WM 2006 angesprochen, nannte die Zahlungen an den damaligen FIFA-Vizepräsidenten Jack Warner, einen »Minister für nationale Sicherheit« einer karibischen Insel, die den USA als Luftwaffenstützpunkt dient, Anpassung an »andere Kulturen«. Das seien »ganz andere Kulturen« in der Karibik, dort gehöre »auch das Geben und Nehmen durchaus zur Kultur im wahrsten Sinne des Wortes«, gab Zwanziger zu verstehen. Wer so weit gesunken ist und Kultur mit Korruption gleichsetzt, zeigt, wie kulturlos er und all diejenigen sind, die ihm nicht widersprachen. Was Kultur ist, muss heute erst wieder definiert werden, damit sie sich entfalten kann. Wenn Begriffe verwässert werden oder gar Umwertungen anheimfallen, lässt sich die Totalität der Wirklichkeit nicht begreifen. Schauen wir, wohin der Begriff Kultur unser Handeln weisen möchte und wie sich Ideologen häufig bemühen, das zu verhindern.
Erster Internationaler Schriftstellerkongress 1935
Werfen wir einen Blick auf die Debatte des Ersten Schriftstellerkongresses, deren Teilnehmer, vor dem Hintergrund der faschistischen Kriegsvorbereitungen, die »Vernichtung der Kultur« verhindern wollten. Wie haben die Redner 1935 die Kultur im Allgemeinen definiert? Ihre Aussagen sind eindeutig, sodass behauptet werden darf: Wer heute über Kultur spricht, sollte sich in der Kontinuität dieser Debatte sehen.
Die Mystifizierung des Begriffs Kultur spielte in der damaligen Debatte des Pariser Kongresses eine nicht unwichtige Rolle. Gustav Regler[2] berichtete dem Auditorium, dass der Sekretär des P.E.N.-Klubs, Hermon Ould, in einer Organisationssitzung vorgeschlagen habe, »man möchte den Namen unserer Organisation ›für die Verteidigung der Kultur‹ ändern, da die Nationalsozialisten behaupten könnten, sie hätten ebenfalls eine Kultur zu verteidigen. Dankbar für diesen Hinweis, glaube ich diesem Kongress und seiner so lebendigen Zuhörerschaft einige Beispiel der Nazikultur vorlegen zu dürfen. Ich spreche nicht davon, ob es Kultur ist, dass man den jüdischen Schulkindern die Gasmaske verweigert. Ich spreche auch nicht davon, dass man den Frauen heimlich in ihren Ministerien erschossener Staatsbeamter tagelang keine Nachricht zukommen lässt, um dann einen Überraschungserfolg zu erzielen, indem der Briefträger plötzlich vor der ahnungslosen Witwe steht und ihr die Asche des ohne Urteil erschossenen, gegen seine religiösen Auffassungen eingeäscherten Gatten in die Hand drückt … Hören Sie den nationalsozialistischen Gelehrten Werner von Borstel, der das Recht aller Deutschen auf Prügel dokumentiert, und sich auf den Vater Friedrichs des Zweiten beruft, der seine Untertanen ebenfalls körperlich gezüchtigt habe. … Hören Sie, was im Zeitalter der Giftgase vom deutschen Lehrer verlangt wird; keine erhöhte Alarmbereitschaft zum Schutz der Menschlichkeit, keine Aufklärung über die Schrecken des Krieges, keine Analyse der Geschichte: ›Der deutsche Lehrer muss sich an erster Stelle – als Soldat fühlen.‹ Und es verwundert auch Sie wohl nicht mehr, wenn Sie hören, mit welchem Satz ein Professor der Kunstgeschichte (!) an der technischen Hochschule Berlin sein Kolleg begann: ›Meine Herren, sie sind keine guten Deutschen, wenn Sie eine Kathedrale nicht in erster Linie als guten Beobachtungsstand für unsere Artillerie ansehen.‹ Nazikultur. Sie bekämpfen heißt die Kultur verteidigen«.
Gustav Regler zeigt an konkreten Beispielen aus Deutschland, mit welcher abscheulichen Besonderheit die Menschlichkeit und die Menschheit im Einzelnen zerstört und wie Menschen für die Vernichtung der Kultur manipuliert wurden. In seiner Allgemeinheit ist Kultur für Regler »Menschlichkeit und Aufklärung über die Schrecken des Krieges«. Wird die Menschlichkeit im Einzelnen durch besonders perfiden Antisemitismus und Rassismus zerstört, so kann von Kultur nicht mehr die Rede sein. Kultur wird hier vernichtet! Konsequent setzt Regler den Begriff »Nazikultur« als Negation dessen, was es wert ist Kultur genannt zu werden und macht deutlich, dass der Begriff Kultur nicht allein von Vorstellungen, Ideen, Konzepten der Menschen gespeist wird, die den Begriff in seiner Allgemeinheit belassen, um ihn im Sinne von Herrschaft und Beherrschung benutzen zu können, sondern dass das Leben, das Tun und die Handlungen der konkreten Menschen in ihrer Beziehung zum anderen Menschen und zur Natur entscheidend sind, ob etwas Kultur genannt werden sollte oder nicht.
»Ich behaupte folgendes«, sagte der französische Schriftsteller und Redakteur Eduard Dujardin (1861-1949), ein weiterer Redner des Kongresses: »Es gibt keine Kultur mehr; der bürgerlichen Gesellschaft ist sogar die Vorstellung davon, was man darunter zu verstehen hat, abhandengekommen. Das kulturelle Erbe? Man hat es verschleudert. Das bedeutet nicht, dass es gegenwärtig keine Menschen mit echter Kultur mehr gibt. Nach dem Zusammenbruch der antiken Zivilisation lebt die griechisch-römische Kultur weiter … Wissen, viel wissen bedeutet noch nicht, Kultur zu haben. Kultur haben heißt: bereit sein zur Aufnahme des dionysischen Schauspiels, als das sich der Mensch in Zeit und Raum präsentiert, der Mensch in seiner Ganzheit, mit Leib und Seele, der Mensch innerhalb der Natur. Kultur haben heißt: begreifen, dass die Menschen diesseits und jenseits der Pyrenäen trotz ihrer spezifischen Eigenschaften einander gleich sind, dass sie gestern anders waren als heute. Auch zwischen den spezifischen Besonderheiten des Menschen und ihren Variationen muss man unterscheiden können.« Dujardin macht deutlich, wie der Begriff in seiner Allgemeinheit nur dann sinnvoll definiert werden kann, wenn er die Dialektik von wirklich menschlichem, einzelnem und besonderem Leben zur Gattung umfasst. So gelingt ethische Handlung. »Sodann«, könnte der Konferenzteilnehmer Robert Musil (1880-1942) diesen Gedanken kommentiert haben, »darf wohl auch behauptet werden, dass Kultur immer übernational gewesen ist«.
Bertolt Brecht (1898-1956) analysierte, zum Schrecken einiger Konferenzteilnehmer, die die Bildung der Volksfront gefährdet sahen, sehr ausführlich die Hintergründe des Faschismus und dessen Kulturvernichtung. Er begann mit den Worten, er wolle »etwas über die Bekämpfung jener Mächte sagen, welche heute sich anschicken, die westliche Kultur in Blut und Schmutz zu ersticken, oder die Reste der Kultur, welche ein Jahrhundert der Ausbeutung uns übriggelassen hat … Als wir zum ersten Male berichteten, dass unsere Freunde geschlachtet wurden, gab es einen Schrei des Entsetzens und viele Hilfe. Da waren hundert geschlachtet. Aber als tausend geschlachtet waren und des Schlachtens kein Ende war, breitete sich Schweigen aus, und es gab nur mehr wenig Hilfe. So ist es. Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar. Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr. Ein Mensch wird geschlagen, und der zusieht, wird ohnmächtig. Das ist nur natürlich. Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt, dann ruft niemand mehr halt … Die Rohheit kommt nicht von der Rohheit, sondern von den Geschäften, die ohne sie nicht mehr gemacht werden können … Die Destruktion von Schlachtvieh und die Destruktion von Kultur haben als Ursache nicht barbarische Triebe. In beiden Fällen (es herrscht da eine enge Verwandtschaft) wird von nicht ohne Mühe erzeugten Gütern ein Teil vernichtet, weil er zur Last geworden ist. … Wir haben heute in den meisten Ländern der Erde gesellschaftliche Zustände, in denen die Verbrechen aller Art hoch prämiiert werden und die Tugenden viel kosten … Viele von uns Schriftstellern haben sie noch nicht verstanden, haben die Wurzel der Rohheit, die sie entsetzt, noch nicht entdeckt. Das hindert sie sehr im Kampf. Es besteht immerfort bei ihnen die Gefahr, dass sie die Grausamkeiten des Faschismus als unnötige Grausamkeiten betrachten. Sie halten an den Eigentumsverhältnissen fest, weil sie glauben, dass zu ihrer Verteidigung die Grausamkeiten des Faschismus nicht nötig sind. Aber zur Aufrechterhaltung der herrschenden Eigentumsverhältnisse sind diese Grausamkeiten nötig. Damit lügen die Faschisten nicht, damit sagen sie die Wahrheit.
Diejenigen unserer Freunde, welche über die Grausamkeiten des Faschismus ebenso entsetzt sind wie wir, aber die Eigentumsverhältnisse aufrechterhalten wollen oder gegen ihre Aufrechterhaltung sich gleichgültig verhalten, können den Kampf gegen die so sehr überhandnehmende Barbarei nicht kräftig und nicht lang genug führen, weil sie nicht die gesellschaftlichen Zustände angeben und herbeiführen helfen können, in denen die Barbarei überflüssig wäre. Jene aber, welche auf der Suche nach der Wurzel der Übel auf die Eigentumsverhältnisse gestoßen sind, sind tiefer und tiefer gestiegen, durch ein Inferno von tiefer und tiefer liegende Gräueln, bis sie dort angelangt sind, wo ein kleiner Teil der Menschheit seine gnadenlose Herrschaft verankert hat. Er hat sie verankert in jenem Eigentum des einzelnen, das zur Ausbeutung und Unterdrückung des Mitmenschen dient und das mit Klauen und Zähnen verteidigt wird, unter Preisgabe einer Kultur, welche sich zu seiner Verteidigung nicht mehr hergibt oder zu ihr nicht mehr geeignet ist, unter Preisgabe aller Gesetze menschlichen Zusammenlebens überhaupt, um welche die Menschheit so lang und mutig und verzweifelt gekämpft hat.«
Brecht zeigt in aller Deutlichkeit, dass der Faschismus nicht etwa ein Ausrutscher der spätbürgerlichen Gesellschaft ist, sondern dass die »Preisgabe einer Kultur, welche sich zu seiner Verteidigung nicht mehr hergibt oder zu ihr nicht mehr geeignet ist« auf dem Fundament des reaktionärsten Teils der Monopolbourgeoisie gedeihen konnte, die, getrieben von der Konkurrenz auf den Rohstoff- und Absatzmärkten, gedemütigt von einem Versailler Vertrag, konfrontiert mit einer starken, wenn auch gespaltenen Arbeiterbewegung, handeln musste, um sagen zu können »heute gehört und Deutschland und morgen die ganze Welt!« Die »Preisgabe aller Gesetze menschlichen Zusammenlebens überhaupt«, wie Brecht sagte, womit er die »Preisgabe einer Kultur« meinte, ist eine Konsequenz dieses Weges.
Heinrich Mann (1871-1950), der in der Absicht die Volksfront aller Antifaschisten nicht zu gefährden, fand auf dem Kongress zwar moderatere Töne, stimmte in der Analyse aber sicher Brecht zu, wenn er sagte: »Wenn die Unterdrücker ihrerseits großtun, als verteidigten sie irgendetwas, dann wüsste man gern, was. Die westliche Zivilisation? Sie pfeifen drauf und führen sie fälschlich im Munde. Anstandslos opfern sie das Denken, wenn es ihre Interessen bedroht oder ihnen persönlich lästig wird. Schon sind sie da, mit Verbrennungen, Ausbürgerungen und den anderen Mitteln, die der Höhe ihres Geistes entsprechen. Seit einiger Zeit sinkt das Niveau der Mächtigen der Erde. Stellenweise reicht es nur noch bis zur moralischen Unterwelt. So etwas vergreift sich an Religion, Wissenschaft, Gesellschaftslehre, unterschiedslos an allem, was sie nichts angeht. Verstehen kein Wort davon. Losgelassener Zerstörungstrieb, sonst haben sie nichts.« Mit anderen Worten, die Faschisten haben keine Kultur! Sie zerstören die westliche Zivilisation! (Heinrich Mann gebraucht den Begriff Zivilisation als Synonym für Kultur, wie es im 19. Jahrhundert üblich war.) Deshalb forderte André Breton die Versammelten auf, »die Aktivität der Interpretation der Welt weiterhin mit der Aktivität der Veränderung der Welt« zu verbinden. »Wir meinen, dass es Sache des Dichters, des Künstlers ist, das Problem Mensch in all seinen Formen zu vertiefen … ›Die Welt verändern‹ sagte Marx; ›das Leben ändern‹ sagte Rimbaud. Diese beiden Losungen sind uns nur eine.«
Verändern wollten sie die Welt, in der faschistische Unterdrücker den Krieg planten. Der Faschismus war der Beginn einer brutalen »Vernichtung der Kultur«, die Adorno später als »Kulturbarbarei« bezeichnete. Die Schriftsteller und viele Künstler der damaligen Zeit wussten: Die Kultur braucht Frieden und Kunst kann nur schaffen, wer Kultur fordert und zeigt, wer oder was Kultur vernichtet. Deshalb ist der Kampf gegen Krieg, Ausbeutung und Abbau demokratischer Rechte stets ein Kampf für die Kultur. Er beginnt mit einem lauten »Nein!« Aber ein »Nein« allein genügt nicht, um Kultur im Allgemeinen, Einzelnen und Besonderen zu schaffen. Dazu ist zunächst eine positive Definition der Kultur im Allgemeinen notwendig. Auch wenn Brecht auf die Hintergründe des Faschismus in seiner Rede hinwies, eine positive Definition der Kultur lieferte er nicht.
[1] Von 2006 bis 2012 Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, Mitglied der CDU; aus: Sportreportage, ZDF, 6.3.2016
[2] Gustav Regler, am 25. Mai 1898 in Merzig geboren, ist nicht nur der berühmteste Sohn der Stadt, sondern auch der bedeutendste saarländische Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und sind in fast 50 Ausgaben in aller Welt erschienen. 1960 verlieh man ihm als ersten Schriftsteller den Kunstpreis des Saarlandes.
Jürgen Meier:
Wider die Kulturzerstörer
Verlag PapyRossa
231 Seiten, 18,- €
Er, der den Diktator und Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic nicht verurteilte und, wie ich gelesen habe, eine Grabrede hielt, der wird für seine Erzählkunst geehrt!?
Hier wird Kultur – wie oben beschrieben – herabgewürdigt!
ganz so einfach würde ich da nicht urteilen. Da hat die westliche Wert Gemeinschaft wohl auch wieder gelogen bis die Balken sich Bogen…
Gern mal bei Peds-Ansichten oder anderen nachlesen…
Nicht zu vorschnell urteilen, sonst leidet auch die Kultur und ein falsches Narrativ verbreitet sich.
Lassen wir es so stehen!
Peter Handke
„Die Geschichte des Dragoljub Milanović“,
Verlag „Jung und Jung“
ISBN 978-3-902497-93-2
€9,00 SFR 13.50
Handke erzählt die Geschichte des Dragoljub Milanović, einem ehemaligen Generaldirektor der Radio-Televizija Srbije (RTS), der seit 1989 Sekretär des serbischen Landesverbandes des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens war. Er wurde als einziger dafür verurteilt, dass NATO Bomben auf das Territorium eines souveränen Staates fielen. In der Nacht des 23. April 1999 wurde Milanović Sender von diesen Bomben zerstört. „`Der Sender war ein Symbol, ein stärkeres Symbol als Slobodan Milosevic`“, sagt Milanović – „`Ein Symbol wofür?`- `Daß ein anderer Weg möglich war` – `Was für ein anderer?` – `Ein eigener, nicht westlich, nicht östlich`“. (S. 28) Diesen eigenen Weg der Menschen des ehemaligen Jugoslawien sollten die Bomben imperialistischer Herrschaftspläne verhindern. Da die Zerstörung des Senders auch 16 Mitarbeiter von Milanović tötete, wurde er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Statt das Gebäude zu räumen, so das Gericht, habe er bewusst mit dem Leben der Mitarbeiter gespielt, um auf diese Weise die NATO als Täter brandmarken zu können. Eine unglaubliche, aber wahre Geschichte, die Peter Handke so erzählt, dass dem Leser immer wieder Zweifel kommen, ob es sich hier wirklich um eine wahre Geschichte handelt oder ob sich der Autor, den viele in seinen Elfenbeinturm zurück wünschen, dieses ganze Zeug nur ausgedacht hat und Zeile für Zeile „an einem Morgen dem leeren Schneckenhaus, an einem Abend einer Nähmaschine, an wieder einem Tag dem weißen Fetzen einer Birkenrinde“ vorträgt, weil diese Geschichte keiner der „`führenden westlichen Intellektuellen`“ hören will. Aber sie ist wahr, diese Geschichte. Es ist wahr, das Daniel Cohn Bendit und Joschka Fischer, zwei ehemalige Straßenkämpfer der 68er, mit glühender Zunge die NATO Bomben bejubelten. Handke erinnert mit dieser Geschichte des D.M. nicht nur an den völkerrechtlichen Bruch des Grundgesetzes, in dem es heißt, von deutschem Boden solle kein Krieg mehr ausgehen. Er beschreibt auch einen neuen Zynismus des Völkermordes, den der damalige Außenminister Fischer, mit seinem Auschwitz Vergleich, bei der Rechtfertigung der Bombardierung jugoslawischer Städte, mit eingeleitet hat und der mit der Begründung des Urteils gegen Milanović einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr. Die Ruine des Senders, so Handke, „war eine Ruine, wie es sie vor diesem speziellen Krieg – der nicht ‚Krieg‘ heißen durfte, obwohl die Sieger sich ‚Sieger‘ nannten- noch nirgends gegeben hatte: eine sozusagen postmoderne Ruine, außen heil, oder hui, und innen hin wie nur etwas, Ruine auf klassisch, wenn nicht klassischer noch als klassisch.“ (S. 20/21). Die imperialistischen Kriege, mitgeführt und unterstützt von verschiedenen Bundesregierungen, sind seit 1999 klassischer, postmoderner, raffinierter, intellektueller geworden. Dank Fischer, Bendit und Co. Die Begriffe werden auf den Kopf gestellt. Die „Knopfdrückerchefs“ der Bomben hocken nicht mehr in dreckigen Schützengräben, sondern im „Hotel `Zum Schwarzen Frieden`“ (21). Sie geben sich als Schutzengel ethnischer Minderheiten, schützen mit feuchttraurigen Augen die Menschenrechte und nennen ihre Tötungen nicht mehr Völkermord sondern Kollateralschäden.
„Für die Zielplanung, d. h. die Auswahl des Zieles und die Wahl des Angriffsverfahrens,“ so die Bundesregierung 1999, „ … wendete die NATO ein komplexes Verfahren an, in das alle verfügbaren Informationen über das Ziel selber, über mögliche Kollateralziele sowie über die Wirkungsweise der verschiedenen, zur Bekämpfung in Frage kommenden Waffenarten einfloss.“ (Deutscher Bundestag, Drucksache 14/1788, Seite 4). Deutschland beteiligte sich wieder an einem Krieg in Europa, für den die Zerschlagung Jugoslawiens die Voraussetzung war. Ermöglicht wurde diese Zerschlagung durch die Politik Genschers und Kohls, die, gegen den Rest Europas und der USA, Kroatien und Slowenien als selbständige Staaten anerkannt hatten. Angeblich, was nie bewiesen werden konnte, wurde dieser postmodern humanitäre Krieg begonnen, um die Serben daran zu hindern, ihre, nie nachgewiesenen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Kosovo fortzusetzen. „Gerechtigkeit für Serbien!“ forderte schon 1996 der österreichische Dichter Peter Handke. Er wurde dafür beschimpft, bekämpft und belächelt. Wie aktuell Handkes „Geschichte“ heute ist, machte das Referendum am 14.2.2012 im Kosovo deutlich. Die Referendumsfrage lautete: „Akzeptieren Sie die Institutionen der sogenannten Republik Kosovo?“ An nahezu 100 Prozent Nein-Stimmen wird nach der Abstimmung nicht mehr gezweifelt. Dies ist eine Niederlage für die EU und die USA. „Die 87 Staaten, die bisher das Kosovo völkerrechtlich anerkannt haben, wollen im Gegensatz dazu die serbische Minderheit in den vor vier Jahren von Serbien abgefallenen Staat Kosovo integrieren.“ (dpa) Das bedeutet erneute postmodern imperialistische Kriegsgefahr. Denn es geht um Ölfelder in Aserbaidschan, Kasachstan und Turkmenistan. Es geht um die Frage: Wie bringt man die Energieschätze störungsfrei aus diesen Ölfeldern auf die WeItmärkte, wenn die Serben weiterhin so störrisch bleiben?
Seit der Eröffnung des Main-Donau-Kanals 1992 können Schiffe von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer fahren. „Auf dem Balkan verriegelt Serbien die Transitwege der Donau und zum griechischen Hafen Saloniki. Die USA und ihre europäischen Verbündeten haben mehrere Versuche unternommen, diesen Riegel friedlich zu sprengen. 1992 wurde ein kalifornischer Industrieller serbischer Abstammung namens Milan Panic als Premier Rest-Jugoslawiens nach Belgrad katapultiert. … 1996 lancierten die USA die `Southeast European Cooperative Initiative (Seci)“ (FR, 27.4.99). Das Ziel von „Seci“ war die Integration aller Donauanrainer unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Selbst Weltbankkredite konnten Serbien nicht erweichen – Serbien wurde von der „Seci“ ausgeschlossen. Also, so die Logik jener, die Dragoljub Milanovic im Gefängnis halten, sollten Bomben die Starrköpfigkeit der Serben in Bewegung bringen. Doch trotz der Bomben sendete Milanovic Fernsehsender damals Bilder, die „in Farben, und was für welchen, ein unzerstörtes Serbien/Bundesjugoslawien, vorwiegend die Natur, die ländliche, und von den Städten die Sehenswürdigkeiten, zu denen auch die Industriebauten gehörten; und wenn Leute auftraten, so tanzten sie, den ewigen balkanesischen Rundtanz, oder sie sangen, einzeln oder im Chor…Wenn das nicht Desinformation war, was dann? Wenn solch eine Anstalt kein Kriegsziel war, was dann? Ein Volk, welches da dargestellt wurde als ein ganz besonderes, einmaliges, unvergleichliches, nach all den Bombennächten den Tag feierndes: War das nicht eine eindeutige Aufforderung zu Vertreibung und Mord sämtlicher anderen Völker?“ Handkes Zynismus ist die Reaktion auf einen postmodernen Zynismus, der die Wahrheit auf den Kopf stellt. Ob Handkes Zynismus allerdings dazu anregt, dass die Stimmen der europäischen Intellektuellen mit lauter Stimme gegen weitere völkerrechtswidrige Bombardierungen protestieren, sei dahin gestellt. Handke jedenfalls hätte den nächsten Friedensnobelpreis verdient, damit er auch dieses Geld, wie schon das Preisgeld für den „Berliner Heinrich-Heine-Preis“ (50 000€), an ein serbisches Dorf im Kosovo weiterleiten kann.
Bitte umfangreich recherchieren!
Noch zum Abschluss: Ich verurteile jede kriegerische, todbringende, gewalttätige – auch in der Tonalität eines Peter Handke -Auseinandersetzung, und eine 50.000 € Spende wäscht kein Gewissen rein!
Und wenn hier der Begriff „Narrativ“- Erzählkunst- bemüht wird, dann füge ich hinzu: „Die Sprache ist das Haus des Seins“, Martin Heidegger.