Die Vertrauenswürdigkeit von Kunst und Religion

 In FEATURED, Kultur, Spiritualität

Grafik: Steve Mockensturm

“God is in the roses” sang Rosanne Cash, die Tochter der Country-Legende Johnny. Dennoch scheint sie zu zweifeln: an der Vertrauenswürdigkeit von Religion.  Zumindest verschaffen ihr Dogma und Ritus nicht mehr jene Verbindung zu Gott, die das Wesen von Religion ausmachen sollte. Aber findet sich Spiritualität ausschließlich auf harte Kirchenbänken und innerhalb der Denkumzäunungen der großen Glaubensbekenntnisse? Gibt es nicht andere Brücken, die für Zweifelnde leichter begehbar sind? Rosanne Cash fand sie in der Kunst, die sie als “glaubwürdigerer Ausdruck Gottes” versteht. Dies erscheint plausibel, denn schon im Wort “Inspiration” schwingt das Wort Geist mit. Bruder Thomas Quartier las Rosannes Autobiografie und knüpft an ein schlichtes künstlerisches Plakat (siehe links) tiefsinnige Betrachtungen an.  Thomas Quartier osb

Auf einem Kunstdruck begegnete mir online ein Zitat der amerikanischen Countrysängerin Rosanne Cash, das mich sehr berührt hat: “Kunst ist ein vertrauenswürdigerer Ausdruck von Gott als Religion”. Auf dem Druck ist eine Gruppe von vier Kindern am Strand zu sehen, die voller Verwunderung in den Himmel schauen. Das älteste Kind zeigt mit seinem Finger auf das Wunder, das sich da, unendlich weit weg und doch nah, vollzieht: eine Ballerina tanzt durch die Luft. Ist es ein religiöses Kunstwerk? Das liegt natürlich ganz daran, was man darunter versteht. Auf jeden Fall ist es – im Sinne des Zitats der Sängerin – “vertrauenswürdiger” als klassische religiöse Gottesbilder. Rosanne ist die älteste Tochter der Country-Legende Johnny Cash und in den USA beinahe genauso berühmt und erfolgreich. Sie hatte zahllose Hits und gewann verschiedene Grammys, den Oscar der Musikwelt. Vertrauenswürdigkeit ist ein bemerkenswertes Wort, wenn es um Kunst und Religion geht. Worauf können wir vertrauen, worauf uns verlassen und woraus unsere Inspiration schöpfen? Die beiden Bereiche waren in der Geschichte oft eng miteinander verbunden, liefen jedoch auch oft auseinander, da man einander nicht vertraute.

Der Argwohn Rosannes gegenüber der Religion rührt daher, dass die klassischen kirchlichen Formen in ihrem Leben nicht die verbindende Funktion erfüllen konnten, die die wörtliche Bedeutung von ‚Religion‘ impliziert: wieder mit dem Ursprung und miteinander zu verbinden (religare). Diese Funktion erfüllte die Kunst für sie. Das beschreibt sie in ihrer Autobiographie aus dem Jahr 2010: “Kunst ist in ihrem breitesten Sinne die Lebenslinie, an der ich mich in einer verwirrenden, ungerechten und manchmal menschenunwürdigen Welt festhalte. In meiner Kindheit bestanden die Priester und Nonnen darauf, dass die Religion es war, wo Gott residierte und wo ich Transzendenz suchen konnte, manchmal in einem schrillen und strafenden Ton. Viele Jahre hatte ich Angst, dass ich vielleicht die einzige sei, die sich irrte und nicht in der Lage war, meinen Weg im Bereich der Dogmen und Riten zu finden“. Diese Angst kennen viele, Rosanne ist nicht die einzige, sicher nicht in einer Welt, in der manche Kirche für viele an Vertrauen eingebüßt hat. Ihre Biographie trägt den Titel ‘Composed’. Das steht für eine friedvolle, ausgeglichene Lebenshaltung, die sie sich mit viel Mühe und Pein erworben hat. Hat die Religion für sie abgedankt? Es scheint so. Aber vielleicht müssen wir – genau wie die Ballerina in der Luft auf dem Kunstdruck – ein wenig spielerischer mit dem Wort umgehen.

Als ich über Rosannes Erfahrung und ihre Suche nach Balance in der Kunst, in ihrem Fall Songs, nachdachte, ging mir ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf. Die Begriffe Kunst und Religion, die Rosanne verwendet, sind darin weniger weit voneinander entfernt, als es für sie der Fall zu sein scheint: Wenn Kunst der bindende Faktor im Leben ist, dann könnte – vielleicht müsste – man als Künstler auch vertrauenswürdige ‚Religion‘ ausüben. Denn Religion ist eigentlich all dasjenige, was verbindet und öffnet, nicht was trennt und verschließt. Das Zitat betrachtend dachte ich: Alle Formen von Religion, die kein vertrauenswürdiger Ausdruck von Gott sind, verfehlen ihr Ziel. Natürlich ist nicht jeder, der sich auf einer religiösen Suche befindet, ein Songwriter oder Maler. Aber vielleicht doch ein ‘religiöser Künstler’? Für mich als Mönch würde ich das durchaus so sagen. Man übt die Kunst der Gottessuche als religiöser Künstler aus. Die Arena dafür ist der performative Raum der religiösen – will sagen verbindenden – Lebenskunst. Kunst ist in der Tat vertrauenswürdig, denn sie ist Religion, wenn sie unserem Verlangen nach Gott Ausdruck verleiht, was immer man darunter verstehen mag. Nicht dass jeder Künstler auch ein Kirchgänger wäre, sicher nicht. Wohl aber ein Suchender, mit dem ich mich als Mönch verwandt fühle.

Durch diese Gedanken ermutigt habe ich mit dem Künstler Kontakt aufgenommen, der den Kunstdruck geschaffen hat: Steve Mockensturm. Er lebt in Toledo, Ohio, und ist Mitglied der Epicopal Church, wo er unter anderem Gefängnispastoral betreibt. Er erschuf das Kunstwerk auf Initiative von Rosanne. Sie suchte offensichtlich nach einer Visualisierung ihrer Vision durch jemanden, der durchaus religiös aktiv ist. Was ist das Resultat? Steve bringt Gott in der Form eines Kunstwerks zum Ausdruck – ein Tanz in der Luft. Ein faszinierendes und zugleich konfrontierendes Bild: das Gottesbild ist die Kunst selber, kein konkretes, personales Abbild. Ist das ein vertrauenswürdiger Ausdruck? Ich weiß es nicht, aber die spielerische Art des Ausdrucks hat auf jeden Fall mit meiner eigenen künstlerischen Religion zu tun.

Auf die Frage nach seiner Inspiration für diese ungewöhnliche Form sagt Steve: “Ich habe versucht, das Wunder illustrativ zum Ausdruck zu bringen. Wir selber sind die Kinder am Strand, und es gibt ein Mysterium, eine Überraschung. Etwas, das wir im Kopf nicht fassen können. Darum unterbrechen wir, womit wir beschäftigt waren, schauen nach oben und denken: Wow!” Diese Verwunderung ist für ihn die Quelle jedes vertrauenswürdigen Ausdrucks von Gott, aber sie verliert im Leben schnell ihre Unschuld. Dann verliert auch die Religion ihre spielerische Art und verschleiert unseren Blick anstatt ihn zu öffnen. In der Kunst können wir sie immer wieder neu entdecken: “Das Wunder der Kunst ist etwas, das wir alle besitzen, aber vielleicht verlieren, wenn wir älter werden. Genauso ringen Religionen darum, das Wunder ohne eine dogmatische Haltung zum Ausdruck zu bringen”. Echte Kunst öffnet unsere Augen wieder für das Wunder.

Erneut kommt mir ein merkwürdiger Gedanke, aber dieses Mal umgekehrt: Wenn Kunst das Wunder zum Ausdruck bringen will, dann dient vertrauenswürdige Kunst immer der ‚Religion‘ in uns – in ihrer wörtlichen Bedeutung. Jeder Künstler ist dann doch ein bisschen ‘religiös’, ‘verbindend‘, oder? Ich frage es Steve. Er ist sofort einverstanden: “Kunst und das Erschaffen von Kunst sind für mich religiöse Erfahrungen. Wenn ich Kunst betrachte, dann ist das für mich genauso, als wenn ich einem mystischen Vortrag lausche. Wenn ich Kunst erschaffe, ist das Liturgie”. Diese Aussagen sprechen mir aus der Seele. Dennoch bleibt das Problem, wie er das Zitat von Rosanne, dass Kunst ein vertrauenswürdigerer Ausdruck von Gott sei als Religion, mit seiner eigen ‚religiösen‘ Haltung unter einen Hut bringen kann. Steve ist religiös, so sagt er, ohne dabei ein ausdrückliches Gottesbild zu benötigen: “Was ein solches Gottesbild betrifft, das ist für mich unmöglich. Gott kann nie in einer Form zum Ausdruck gebracht werden. Wenn ich ein Kunstwerk erschaffe, kann ich Gott spüren und vielleicht einen kleinen Schimmer einfangen“.

Die schöpferische Kraft der Kunst ist für Steve ein Lebenselixier, das ihn näher zu Gott bringt: “Ein Ausdruck von Gott war für mich immer nur über die Sinne möglich. Wir müssen schauen, hören, fühlen, riechen sonst können wir Gott nie wirklich suchen“. Diesen Gedanken äußert übrigens auch Rosanne in ihrem Buch, wenn es um die Musik geht: “Wir alle brauchen Musik und Kunst, so wie wir Blut und Sauerstoff brauchen. Wenn populäre Kultur ausbeuterisch, betäubend und aggressiv wird, brauchen wir die Wahrheit eines schön gesungenen Songs”. Das ist Rosannes Ausdruck von Gott. Er ist auf jeden Fall vertrauenswürdiger als die Marktmechanismen des Pop und Machtmechanismen der Religion. Für Steve als praktizierender Christ geht diese Vertrauenswürdigkeit noch weiter. Er vergleicht das Erschaffen eines Kunstwerks mit der Schöpfung Gottes: “Wenn ich die Bibel mit künstlerischen Augen betrachte, erinnert mich das daran, dass wir selber von einem kreativen Schöpfer erschaffen wurden”. Der Künstler stellt also in seinem eigenen Schöpfungsakt Gott dar. Das kann nicht anders als vertrauenswürdig sein, denn man folgt seiner Verwunderung, genau wie die Kinder am Strand.

Für einen Mönch ist das tröstlich, und für jeden anderen Gottessucher auch. Denn auch als Mönch und als Suchender ist man kreativ, ob man nun malt und singt oder nicht. Man bringt zum Ausdruck, was man in der Luft sieht, vom Chorgestühl aus, der Werkstatt oder von wo auch immer. Wie man das macht? Durch seine je eigene Lebensform und Lebenskunst. Dafür lässt man den religiösen Drang fallen, zu konkreten, artikulierten Bildern zu kommen. Man entdeckt den Tanz, das Lied, das überraschende Kunstwerk des eigenen Lebens immer wieder aufs Neue. Die Vertrauenswürdigkeit wahrer Kunst und wahrer Religion ist nämlich ein und dieselbe: die Kreativität – das größte Wunder, das wir alle besitzen. Daran müssen wir regelmäßig erinnert werden. Dass Steve mir aus Ohio eines der wenigen Exemplare des Kunstdrucks schickte, war für mich nach unserem Dialog so ein Wunder. Das Kunstwerk hängt inzwischen auf meiner Zelle, über meinem Bett. Wenn ich es betrachte, denke ich an all die ‘religiösen‘ Künstler und die ‘künstlerischen’ Mönche, denen ich begegnen durfte und auch in Zukunft hoffentlich begegnen werde. Und ich zweifle nicht mehr an ihrer Vertrauenswürdigkeit – ich genieße das Wunder.

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