Die Welle im Ozean
Das Gehen auf dem Zen-Weg ist ein Beitrag zur Heilung des Einzelnen und der Welt. Wir erleben uns als Welle in ihrer werdenden und vergehenden spezifischen Form – und sind in unserer Tiefe doch Hervorbringungen des einen Ozeans. Dies nicht nur zu denken, sondern zu erfahren, ist Mystik. Zen ist ein bewährter Pfad, um das Ego mit seinen Spaltungstendenzen hinter sich zu lassen und etwas Umfassenderes und Vereinigendes zu entdecken: das Selbst. Gerhard Breidenstein hat in seinem Buch “Zen-Meditation – eine Hochgebirgstour” den spirituellen Weg mit einer Bergwanderung verglichen. Es gibt Wegweisungen, die Mühen des Aufstiegs, Gipfelerfahrungen und die Rückkehr ins “Tal” des Alltags. Sein Fazit: Spirituelle Praxis hat auch Auswirkungen auf der ethischen und gesellschaftlichen Ebene. Denn der Zerfall der Ego-Illusion lässt uns erkennen, dass alles zusammengehört. Gerhard Breidenstein
Als Zen-Schüler bekommt man immer wieder zu hören: ‚Dein Ich muss aufgelöst werden‘, ja ‚Dein Ich muss sterben!‘, vielleicht auch ‚Dein Ich gibt es gar nicht, es ist eine Illusion.‘ Da stellen sich bald die Fragen ‚Wer soll denn diesen Prozess betreiben? Das Ich kann sich doch nicht selbst umbringen!‘ Oder ‚Wer ist es denn, der dieses Geschehen beobachtet? Wer macht die aus der Illusion befreiende Erfahrung?‘ Und der Einwand liegt nahe, dass ich mich von meiner Kindheit an bis zu meinem Tod als einmalige und kontinuierliche Individualität erlebe.
Um diese Fragen zu klären, sprechen die meisten spirituellen Lehrer von zweilerlei Ichs. Aber leider gibt es dabei keinen einheitlichen Sprachgebrauch. Ich habe für mich die meiste Klarheit darin gefunden, dass ich das ‚kleine Ich‘, das illusionäre, oft lästige Ich EGO nenne. Das andere, ‚das große Ich‘ bezeichne ich mit SELBST, was von anderen Autoren auch als ‚das wahre Selbst‘, als ‚höheres Selbst‘ oder ‚das tiefe Selbst‘ angesprochen wird.
Dabei hilft mir – und anderen, denen ich es erklären will – das Bild von der Welle im Ozean. Trotz der Abermillionen Wellen auf einem Ozean ist doch jede Welle nach Länge, Breite, Höhe, Geschwindigkeit und Lebensdauer absolut einmalig, eben individuell. Und zugleich ist jede Welle unabtrennbar mit allen anderen Wellen und mit dem Ozean als ganzem verbunden, ja, sie besteht nur aus Ozean. Wenn wir nun für den Vergleich annehmen, eine Welle habe ein Bewusstsein, dann zeigt sich der Unterschied zwischen Ego und Selbst im Selbstverständnis einer solchen Welle. Ein moderner, im europäischen Kulturraum aufgewachsener Mensch gleicht einer Welle, die ihr Bewusstsein nur auf ihre Spitze richtet, dorthin, wo sie sich in hunderten von Spritzern als unübertrefflich einmalig erlebt, im Vergleich, sogar im Kampf mit den anderen Wellen und im Gegenüber zum Ozean.
Wenn nun diesem Menschen – z.B. auf dem Zen-Weg – das Bewusstsein in die Tiefe erweitert wird, wird er der Verbundenheit mit allen anderen Wellen und mit dem Ozean bewusst. Dann darf er oder sie sich immer noch als einmalige Individualität verstehen, aber nicht mehr als abgekapseltes Ego, sondern in seinem wahren Selbst, verbunden mit Allem. Dann ist die Illusion des Egos, das sich als isoliert und selbständig verstand, durchbrochen und der Wahrnehmung des ganzen Ozeans und aller Wellen, also der Realität gewichen. Diese Bewusstseins-Erweiterung kann durch eine ‚große Erleuchtung‘ oder – wie schon mehrfach betont – durch ein allmähliches Reifen geschehen. So oder so kann das Ego noch in Resten bestehen bleiben, aber es ist seiner absoluten Dominanz beraubt. Das frühere Ego wurde aufgelöst, es ist verstorben.
Bei dieser Unterscheidung von Ego und Selbst handelt es sich nicht bloß um spirituelle Spekulation, sondern um eine höchst alltagstaugliche Erkenntnishilfe. Das kann man (nach meinem Eindruck) am klarsten erkennen in den Büchern von Eckhart Tolle (siehe Anhang). Denn er ordnet dem Ego all jene Eigenschaften und Reaktionen zu, die uns alltäglich beschäftigen, treiben und plagen. Denn…
– das Ego ärgert sich über Situationen, andere Personen und sogar sich selbst;
– es ist leicht gekränkt oder eifersüchtig;
– das Ego will Recht haben, kämpft um seinen Einfluss oder grenzt sich ab;
– es braucht Beachtung, Anerkennung, Lob oder Trost, erwartet Gegenleistungen;
– es beurteilt ständig sich selbst und andere;
– das Ego beobachtet distanziert die Welt um sich, seine ‚Umwelt‘, will sie begreifen und kontrollieren;
– es identifiziert sich mit seinen Kindern und Enkeln, mit seinem Beruf oder Besitz;
– es hat Wünsche und Ansprüche, bewusste und unbewusste, und ist weitgehend abhängig von seinen Bedürfnissen und Trieben.
Dieses Verständnis von Ego geht also weit über das hinaus, was wir ‚Egoismus‘ nennen. Es ist der Inbegriff des ganz normalen abgekapselten Ichs. Den Bewusstseinszustand dieser in sich selbst gefangenen Individualität nenne ich EGO.
Auch der Gegenbegriff, das Selbst, ist nicht bloß ein abstraktes, totes Konstrukt. Es ist immer schon da, nur ist es meist verdeckt vom aufgeblähten, lauten Ego. Aber es lebt:
– es hat Empfindungen wie Dankbarkeit, Schönheit, Glück, Freude;
– es kann bedingungslos und unbegrenzt lieben;
– das Selbst ist das achtsame, präsente, das solidarische, das empathische Ich;
– es ist der Beobachter in der Meditation, das nach Befreiung sich sehnende Ich, das Erleuchtungen erfährt.
Den Bewusstseinszustand der egofreien Individualität nenne ich SELBST.
Dies so verstandene Selbst entspricht in vielem dem, was in vielen Religionen und Philosophien ‚Seele‘ genannt wird. Ob und wie es dann, wenn der Mensch stirbt, wenn die Welle in den Ozean zurücksinkt, erhalten bleibt für eine Auferstehung oder eine neue Inkarnation – das muss wohl Geheimnis bleiben. Auf dem Zen-Weg spielen diese Fragen keine Rolle, denn da geht es immer und nur um das Hier und Jetzt.
Und es ist dieses Selbst, welches das Ego wahrnehmen kann und so schon sich von ihm distanziert. Es kann das Ego mit Geduld, Humor und Liebe anschauen und so sich aus seiner Herrschaft lösen. Hierin liegt die Bedeutung der Ego-Auflösung für das alltägliche Leben: sobald ich aus der Sicht des Selbst meine Ego-Regung (z.B. Ärger, ein Urteil usw.) als solche erkenne, kann ich sie ohne moralische Anstrengung loslassen, sie schmilzt in der Sonne der gereiften Selbst-Erkenntnis.
Eine ‚große Erleuchtung‘ ermöglicht diesen Aufbruch des Bewusstseins vom Ego zum Selbst und zum Ozean plötzlich und unvergänglich. Aber diese Befreiung ist – wie gesagt – auch als allmählicher Prozess zu erfahren.
Das alles ist ein Bild, aber nicht das Abbild ‚der Wahrheit‘. Hier möchte ich noch einmal meinen Lehrer zitieren: „Klar, man muss über Zen auch reden, aber dabei sich bewusst bleiben, dass aus Worten, Bildern, Begriffen keine Dogmatik werden darf, und dass alle Unterscheidungen (z.B. Ich – Nicht-Ich, Tod – Leben) in einer entscheidenden Erfahrung sich auflösen.“ Das gilt natürlich auch für das Folgende, ein weiteres Hauptthema auf der Zen-Wanderung.
Eine Erleuchtungs-Erfahrung wird dort, wo sie ausnahmsweise beschrieben wird, als All-Eins-Erfahrung charakterisiert (und zwar in erstaunlicher Übereinstimmung, unabhängig vom kulturellen oder religiösen Kontext). Alle Unterscheidungen – wie Ich und die Anderen, Ich und der Baum, Vergangenheit und Gegenwart, Materie und Geist, Welt und Gott – zerfallen und werden ungültig, trotz ihrer sonstigen Allmacht und Allgegenwart. Diese Unterscheidungen sind das Kennzeichen eines dualen Denkens, also eines zweipoligen Weltbildes (wie es ebenfalls in den unterschiedlichsten Kulturräumen entstanden ist und heute global dominiert). Eine Non-Dualität, also eine Wahrnehmung der Einheit alles Seienden, wird zunächst sprachlos, aber eindeutig erfahren und erst nachträglich in kommunizierbare Begriffe gebracht. Dabei entstehen die meisten Unterscheidungen wieder. Sie bleiben für unser alltägliches Leben praktisch und für unsere sprachliche Verständigung nützlich. Aber der oder die Erfahrene weiß fortan, dass sie nicht ‚der Realität‘ entsprechen. Denn für diese gilt die Allverbundenheit aller Phänomene im Ganzen, wie sie übrigens auch von nachdenklichen Naturwissenschaftlern (z.B. in der Atomphysik, der Astrophysik, der Ökologie und Biologie oder der Meteorologie) wahrgenommen wird.
Der eine Aspekt der Essenz des Zen-Weges hängt mit dem anderen in Wechselwirkung zusammen. Denn die Überwindung des dualen Denkens trägt zur Auflösung des Egos bei, wie der Zerfall der Ego-Illusion die Wahrnehmung der Non-Dualität ermöglicht. Beides ist kennzeichnend für eine mystische Spiritualität, die mir auf dem Zen-Weg wichtig wurde. Und beides hat nicht nur eine philosophische, theologische oder psychologische Bedeutung, sondern durchaus auch ethische Konsequenzen. Denn beides macht den individuellen Menschen wahrhaft liebesfähig und lässt ihn selbst-verständlich global denken und handeln, d.h. solidarisch, ökologisch, nachhaltig. Die heute noch tief gespaltene Menschheit wird eine werden oder keine mehr sein. Eben deshalb ist das Gehen auf dem Zen-Weg ein Beitrag zur Heilung des Einzelnen und der Welt.
Gerhard Breidenstein:
Zen-Meditation – eine Hochgebirgstour.
Erfahrungen eines Schülers der Zen-Meditation.
tao.de in J. Kamphausen Verlag
122 Seiten, € 14,99