Mitte August unternahm ich mich mit meiner Familie eine Reise nach Berlin. An einem sonnigen Morgen eilte ich mit meinem Sohn in der Trage in den nahe gelegenen Friedhof, um vor der riesigen Geräuschkulisse in eine Atmosphäre der Ruhe zu flüchten. In einem recht intensiven Moment überkam mich die Eingebung, dass mein nächstes Thema für Rubikon mit dem zu tun haben sollte, was mich gedanklich sehr beschäftigte und das ich in diesem Moment körperlich nah bei und mit mir trug. Auf meine Nachfrage zeigte die Redaktion Interesse an dem Thema: Wie wirken wir auf unsere Kinder und wie gelingt ein heilsames Gemeinsam über Generationen hinweg?
Schon zu Beginn signalisierte mir mein Unterbewusstsein, dass ich mich bei dieser Thematik übernehmen könnte. Ich ignorierte die Signale zwar zunächst, aber dennoch war mein Tatendrang für mehrere Wochen blockiert und in dieser Zeit schrieb ich kein einziges Wort.
Erst ungefähr einen Monat später begann ich, mein gesammeltes Wissen aufzuschreiben. Meine Gefährtin las den Text wie immer gegen, korrigierte Stellen und half mir mit Rückfragen.
Danach trat eine Wendung ein, sodass ich den geschriebenen Text über den Haufen warf.
Anlass war eine Äußerung von Jens Lehrich in den „Guten Nachrichten“ des Rubikon, die auf der Videoplattform YouTube hochgeladen werden. Jens Lehrich berichtet den Zuschauern, dass die Themen, für die sie sich bereits entschieden hatten, nicht mehr Teil dieser Sendung seien. Ein Buch, das ihm Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke gab, habe ihn zutiefst bewegt und er hätte aufgrund dessen die gesamte Agenda dieser „guten Nachrichten“ neu überdacht. Ich war irritiert. Was konnte so wichtig sein, dass die ursprüngliche Version durch eine neue ersetzt wurde? Tief in mir schlummerte eine Abneigung gegen diesen Richtungswechsel.
Jetzt, da ich den Grund meiner Enttäuschung kenne, bin ich „beiden Jens‘“ überaus dankbar. Dem einen, der diesen Einwand einbrachte, dem anderen, der ihn umsetzte. Aber weshalb?
Meine anfängliche und zeitweise anhaltende Ablehnung gründete darauf, dass ich meinen Artikel und mich in Lehrichs Äußerung wieder erkannte. Meine unterbewusste Intuition wurde für mich greifbar und ich begriff, dass auch mein Artikel nicht dem würdevollen Anspruch entsprach, den ich mir vorgenommen hatte. Mein Text enthielt zwar alle Erfahrungen, die sicher jeder junge Vater und einigermaßen weltliche Mensch so erlebt, doch er sprengte diesen Rahmen nicht. Zwar erwähnte ich ein Buch von Gerald Hüther und Herbert Renz-Polster zur naturbezogenen und der Resilienz fördernden Beziehung zu unseren Sprösslingen und setzte mich zudem mit einzelnen Verbesserungsvorschlägen von Alfie Kohn auseinander, der die rein positive Verstärkung bei Kindern hinterfragt.
Ich machte auch das Buch und Projekt „Artgerecht“ zum Thema, die beide vielen Menschen alternative Ideen in der Kleinkindererziehung liefern. Darüber hinaus schilderte ich Anekdoten aus dem Alltag, die das Thema Ernährung der Kinder oder die hierarchische Struktur unserer Familien beleuchteten. Die Pointe meines Artikels kam aber dann „stolpernd“ in einem letzten Absatz daher, in dem ich die Mutter, den Vater, die Großmutter, den Großvater und auch die noch werdenden Eltern sowie alle Leserinnen und Leser dazu ermutigte, an sich selbst alles das zu verbessern, was sie an ihren Kindern auszusetzen haben.
Ebenso wie die ursprünglichen „Guten Nachrichten“ verwarf ich meinen Text und begann eine neue Version.
Wer sind wir, dass wir zu wagen glauben, wir wüssten Bescheid? Wer sind wir, Kindern das Leben erklären zu wollen, die wir zu allen turbulenten Konflikten unserer Zeit beigetragen haben?
Wer sind wir, die ihren Nachfahren alles Wissenswerte beibringen möchten, das wir innerhalb eines ausbeuterischen Wertesystems erlernt haben?
Die Antworten liegen klar vor uns. Daher beschloss ich: Die Pointe meines ursprünglichen Artikels sollte nicht die letzte Passage eines besserwisserischen Abklopfens aller wunderbaren Erkenntnisse belesener Kindertherapeuten, Hirn- oder Traumaforscher sein. Ich wollte keinen Ermessensspielraum für jene lassen, die immer noch meinen, alles Zukunftsunverträgliche ginge ausschließlich von irgendwo „da oben“, also von elitären Kreisen aus. In diesem Geist werden wir bewusst oder unbewusst auch immer unsere Kinder für alles verantwortlich machen, was uns in der Er- und Beziehung mit ihnen entgleitet.
Der Artikel des Rubikon-Herausgebers Jens Wernicke zum Thema Umwelt und Natur hat mehr mit unseren pädagogischen Soft Skills zu tun als unzählige „Sonnenschein“-Ratgeber aus der Buchhandlung. Er zeigt uns auf, dass wir aufgrund der Meinungsüberschneidungen von konträren Lagern nicht pauschal über naturgegebene Gesetzmäßigkeiten urteilen sollten. Das gilt für alle Bereiche unseres Lebens.
Als Mann darf ich — im Urvertrauen zur Mutter Erde — nicht vergessen, auch noch zu erwähnen, dass wir anfangen sollten, die Mütterlichkeit auf der Erde und damit auch in uns wiederzubeleben.
Unsere reine Männlichkeit schuf die heutige, autoritäre Art im Umgang mit Kindern. In unseren Beziehungen zu Kindern sollten wir uns dessen stets bewusst sein. Genau genommen darf ich in unserer heutigen, monosexuellen Welt ebenfalls nicht vergessen, auch die „vermännlichten“ Frauen zu ermahnen.
Denn sie sind als Erziehungsberechtigte für Kinder eine ebensolche Bürde wie die Urgewalt der Aggression, also die Männlichkeit selbst. Was daraus seit Jahrhunderten folgte und noch immer besteht, ist der Staat im Staate.
Ich möchte mich hiermit nicht gegen eine friedliche „Politea“ aussprechen. Unser Grundgesetz ist Indiz genug dafür, zu welchen hoffnungsvollen Utopien wir fähig sind. Doch ich halte es im Wesen eines Staates mit dem amerikanischen, transzendentalen Autor Henry D. Thoreau, der schrieb:
„Die Regierung ist die beste, die am wenigsten regiert, und ich möchte, dass dies schneller und systematischer umgesetzt wird. Wenn dies schließlich geschehen ist, so glaube auch ich, ist die Regierung die beste, die überhaupt nicht regiert. Und wenn die Menschen darauf vorbereitet sind, wird das die Art von Regierung sein, die sie dann haben werden.“
In einer Hütte, draußen in der nordamerikanischen Natur, erkannte Thoreau vieles auf der Welt sehr klar. Seine Sätze sind auch ein Hinweis darauf, wie wir unseren Kindern das Wesen der Elternschaft, der Kindheit, des Lebens und der Gesellschaft mit allem, was damit in Verbindung steht, vor allem der Liebe, nahe bringen sollten.
Aus meiner Sicht führt ein Weg heraus aus allen Kriegen in und um uns herum: Wenn wir in unseren persönlichen Schaffensphasen unsere Art zu denken überdenken und unsere Art uns selbst zu behandeln neu verhandeln. Nur dann ebnen wir auch unseren Nachkommen den Weg zum Frieden. Leider haben wir es aber mit unserer Lebensweise in weniger als einem Jahrhundert geschafft, dass wir beim Begriff Trümmerfrauen nicht mehr an die heldenhaften Mütter und Witwen denken, die nach dem Zweiten Weltkrieg Stein für Stein alles wiederaufbauten.
Stattdessen kommen uns die jungen Mädchen in den Sinn, die auf modernen Litfaßsäulen das Gesicht der neuen Wehrmacht verkörpern und im Ausland alles wieder „abbauen“. Welcher Vater, welche Mutter kann ohne zu erzürnen an dem unschuldigen Gesicht der Rekrutin Leah vorbeilaufen, die nicht nur ihr Gesicht einer immer aggressiver werdenden Autorität zur Verfügung stellt? Warum entfacht die Perversität dieser Surrealität keine Debatte? Liegt es an der immensen Macht der Meinungsmaschine großer, anonymer, finanzstarker, menschenverachtender, umweltzerstörender, traumatisierender Werbefirmen?
Die positive Aussicht für uns und unserer Kinder liegt darin, dass wir es als Kompliment ihres wachen Verstandes und ihrer Emotionen deuten sollten, wenn sie mit uns anecken.
Wir, die Menschen, die seit den 1968er Jahren mit so vielen Ideen gescheitert sind, sollten wieder zu Schülerinnen und Schülern werden. Unsere Kinder kommen in eine Welt, die wir gestaltet haben. Wir wissen, was alles schlecht ist, sie noch nicht. Und vieles, von dem wir glauben, es sei gut, werden unsere Kinder möglicherweise anders deuten. Darauf sollten wir stets vorbereitet sein und uns wirklich fragen, ob sie uns nicht einen richtigen Weg weisen.
Wir dürfen dabei nicht vergessen, je authentischer und ehrlicher die Bindung zu unseren Kindern ist und sie diese tagtäglich erleben, desto eher kommen sie womöglich in dieser und einer zukünftigen Welt zurecht. Dort warten dann Lehrerinnen oder Lehrer auf sie.
Schließlich müssen wir viele neue Pfade betreten im Verhältnis zu den Kleinsten. Es ist nahezu unmöglich, alles richtig zu machen. Deshalb bleibt nur das Gefühl, das uns am Ende stets zuversichtlich stimmen sollte, dass wir nicht nur mit unserem Verstand, sondern auch aus unserem Herzen heraus agiert haben.
Zum Schluss möchte ich ein Gedicht des libanesisch-amerikanischen Poeten und Philosophen Khalil Gibran zitieren, der dem Thema auf andere Weise und in seiner Art unglaublich kraftvoll gerecht wird:
„Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht
des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts
noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Laßt eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.