»Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken« ist ein äußerst lesenswertes Arbeitsbuch zu einer aktuell wieder heftigst zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen ausgetragenen innerlinken Debatte. Ein E-Mail-Interview mit den Autor*innen Jens Kastner und Lea Susemichel. skug.at
Spätestens seit den Social-Media-Reenactments von vermeintlichen K-Gruppen-Diskussionen, wie und ob (linke) Minoritäten mit ihren (partikularistischen) Identitätspolitiken (Stichwort »Transgender-Toiletten«) am Aufstieg von Trump & Co eine Art »Mitschuld« hätten, erleben altbekannte Debatten in der Disziplin »Haupt- versus Nebenwiderspruch« in linken Kreisen ein ungeahntes Revival. Erweitert (bzw. je nach Standpunkt verkompliziert) durch Aspekte wie »Political Correctness«, »Queer-Feminismus«, »Intersektionalität«, »Critical Whiteness« oder »Cultural Appropriation« können sich daraus ebenso fruchtbare wie furchtbare Diskussionen entspinnen. In diesem oftmals überhaupt nicht mehr durchschaubaren, gelegentlich einem radikalsubjektivistischen (und verdächtig neoliberal klingenden) »Alle gegen alle«-Durcheinander (linker) Ich-AG-Befindlichkeiten anheimfallenden Diskurs-Wirrwarr ist es dann auch nicht wirklich einfach, einen Durchblick (bzw. Überblick) zu behalten.
Umso wichtiger sind daher Unternehmungen wie jene von Jens Kastner und Lea Susemichel, die mit ihrem Band »Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken« nicht nur genealogische Herkünfte von Begriffen und Theorien (sowie die schon immer damit verbundenen Kämpfe um Deutungen und Hegemonien) nachzeichnen, sondern auch zeigen, was davon immer noch hochaktuell ist und wo sich aktuelle Bruchlinien auftun, die entweder zu neuen kollektiven Zusammenschlüssen politischer Aktivist*innen führen können oder das alte Spiel der Spaltung linker Positionen mittels Social-Media-Kommunikationstools bis zum Exzess treiben können.
skug: Was war eigentlich der Anstoß bzw. Impuls, dieses Buch zu schreiben? Ein gewisses Unwohlsein und Unbehagen bezüglich linker Diskurse und Debattenführungen zum Thema »Identitätspolitiken« zieht sich ja auch durch das Buch.
Jens Kastner/Lea Susemichel: Ja, definitiv. Im Anschluss an die Wahl Trumps zum US-Präsidenten mehrten sich die Stimmen, die linke Identitätspolitiken für die Erfolge der Rechten in den USA und in Europa verantwortlich machten. Statt sich der Klassenfrage zu stellen, habe sich die Linke bloß mit den Anliegen von sexuellen und ethnischen Minderheiten beschäftigt und damit die vom Kapitalismus Gebeutelten verprellt, die die Rechten dann sozusagen nur noch aufzusammeln brauchten. Diese Stimmen gab es auch vorher schon, aber seit 2016 sind sie lauter und vielfältiger geworden. Vor allem ihnen wollten wir widersprechen.
Gleich zu Beginn schreibt ihr von einer bewussten »Entgegensetzung von kultureller Differenz und sozialer Ungleichheit«, gleichzeitig verweist ihr immer wieder darauf, »dass soziale Ungleichheit auch durch identitäre Politiken bekämpft wurde und wird«. Wieso funktioniert das immer wieder und welche Auswirkungen hat solch eine Entgegensetzung bzw. was ist unter einer »identitären Politik« gegen soziale Ungleichheit zu verstehen?
In der Debatte erscheint es häufig so, als ginge es bei den Kämpfen von Frauen gegen patriarchale Strukturen oder bei den Kämpfen von rassialisierten Gruppen gegen ihre Unterdrückung und Diskriminierung gar nicht um soziale Ungleichheit. Es wird unterstellt, es handele sich »nur« um Bemühungen, Anerkennung für Lebensformen zu erlangen, die von der Norm abweichen. Dem ist entgegenzuhalten, dass in allen linken identitätspolitischen Bewegungen, vor allem den feministischen und Black-Liberation-Bewegungen, das identitäre Moment immer auch eines der Mobilisierung gegen die kollektive Zuschreibung, gegen die Diskriminierung als Gruppe und damit auch gegen strukturelle, also soziale Ungleichheit war. Und umgekehrt beinhalten beinahe alle Kämpfe gegen soziale Ungleichheit auch identitätspolitische Momente: Auch und gerade die Arbeiter*innenbewegungen brauchten die behauptete Ähnlichkeit ihrer Lebens-, Arbeits- und Unterdrückungssituation, um sich zur Durchsetzung ihrer Rechte formieren zu können!
Gerade nach dem Wahlsieg von Trump wurden viele Stimmen (von links über liberal bis hin zu konservativ und natürlich rechts) laut, die behaupten, dass (linke) anti-rassistische, anti-sexistische und anti-homophobe Bewegungen für den Sieg von Trump verantwortlich seien, weil dadurch (also z. B. durch die berühmt-berüchtigten Transgender-Toiletten etc.) die Sorgen, Ängste und Nöte der Working Class ignoriert bzw. nicht wahrgenommen wurden. Jetzt allein mal auf den deutschsprachigen Raum bezogen: Wie kann es sein, dass dabei die – wie ihr es formuliert – »Wahlmotive Rassismus, Sexismus und Homofeindlichkeit« einfach großteils ausgeblendet werden?
Auf der einen Seite stimmt es sicherlich, dass sich zumindest die Sozialdemokratie seit den späten 1990er-Jahren von den ökonomisch benachteiligten Menschen systematisch abgewandt und mit Privatisierungs- und Deregulierungspolitiken auch gegen sie agiert hat (Stichwort Hartz IV). Dadurch fühlten sich viele zurecht nicht mehr repräsentiert. Auf der anderen Seite darf aus dem Befund dieser Repräsentationslücke aber nicht geschlossen werden, dass viele ehemalige Wähler*innen sozialdemokratischer Parteien nicht auch andere politische Handlungsmotive hatten, als gegen soziale Ungleichheit zu protestieren. Homofeindliche, frauenverachtende und rassistische Denkmuster ziehen sich, wenn auch nicht gleichmäßig, durch alle gesellschaftlichen Milieus. Sie müssen als Motive unbedingt ernstgenommen und analysiert werden und dürfen nicht als bloße Begleiterscheinungen abgetan werden, wie das derzeit häufig geschieht. Durch das Erstarken der Ultrarechten erhalten diese Denk- und Einstellungsmuster nun eine neue Legitimität.
Wenn Trump die Frage nach der Geburtsurkunde von Obama stellt, dann zieht er doch die Identitätskarte und stellt gleichzeitig jene von Obama (als US-Amerikaner) in Frage?
Ja. Identitätspolitiken gibt es selbstverständlich nicht nur von links. Die Idee moderner Nationalstaatlichkeit schlechthin ist ja auch eine identitätspolitische Konstruktion, die von verschiedenen Richtungen immer wieder aufgerufen und neu gefüllt werden kann. Immer geht es um legitime Zugehörigkeiten, so auch im Falle von Obamas Geburtsort. Unser Argument ist ja, dass linke sich von rechter Identitätspolitik u. a. dadurch unterscheidet, dass sie eben nicht auf natürlichen Gegebenheiten (wie Geburt) beruht, sondern sich auf soziale und kulturelle Zuschreibungen bezieht und diese auch reflektiert.
Stuart Hall hat einmal gesagt: »Ich glaube nicht, dass die Marginalisierten sich bemerkbar machen könnten, ohne sich zunächst auf etwas zu gründen.« Hall versteht Identität hier durchaus als Art »Safe Space«, wie als etwas, durch das erst so was wie eine Gemeinschaft, eine Community bzw. Solidarität entstehen kann. Gleichzeitig sagt Hall jedoch, dass eine damit verbundene Politik den Eintritt »in die Welt der Widersprüche« bedeute. Also das Infragestellen von Essentialismen. Bei all dem stellt sich die Frage, wie es der Rechten gelungen ist, sich selbst als Marginalisierte darzustellen? »White Power« hat ja schon immer auf »Black Power« verwiesen (quasi »Wenn die das tun dürfen, dann wir auch«).
Ein großer Unterschied ist natürlich, dass die Ultrarechten sich zwar als Opfer generieren, aber in Wirklichkeit keine sind. Weiße männliche Arbeiter werden ausgebeutet und mögen es schwer haben, sie werden aber nicht kollektiv als weiße männliche Arbeiter unterdrückt und wegen ihres besonderen kulturellen und sozialen Status mehr ausgebeutet als andere. Und auf der Ebene der Repräsentation ist die FPÖ ja ein Paradebeispiel: seit Jahrzehnten Teil des politischen Establishments, geriert sie sich als Stimme gegen das Establishment. Die Frage ist tatsächlich, wie es gelungen ist, also warum der Diskurs überhaupt funktioniert, obwohl er so grundlegend den Fakten widerspricht.
Spätestens seit Trump (aber auch schon unter Obama) war klar, dass eine »Post-Rascist Society« ebenso ein Phantasma bleiben muss wie eine »post-identitäre« Gesellschaft. Von Rimbaud kennen wir den Spruch »Ich ist ein Anderer« (der später dann ja auch in der Psychoanalyse zwischen Freud und Lacan herumspukt). Wenn »Identität« erst durch ein »Other« entsteht, gibt es dann eigentlich Unterschiede zwischen linken und rechten Identitätskonzepten?
Auch im psychologischen Diskurs etwa bei George Herbert Mead wird schon darauf hingewiesen, dass das Andere eine Konstitutionsbedingung für die eigene Identität ist und dass das auch gut ist, weil wir eines Außenblicks bedürfen und eine Distanz zu uns selbst – als Individuum und als Gruppe – brauchen. Aber gleichzeitig ist es natürlich auch immer ein brutaler Ausschluss. Linke Identitätspolitiken sind sich dieser Grenzziehungen und auch der Problematiken, die damit verbunden sind – also der ausgrenzenden Effekte – in der Regel bewusst. Linker Identitätspolitik geht es darum, gegen Ausschlüsse vorzugehen und möglichst breite Partizipation zu erkämpfen. Rechter Identitätspolitik geht es hingegen darum, privilegierte Positionen zu verteidigen. Dabei werden die Grenzen zwischen Gruppen als unveränderlich und stabil behauptet.
Im Kapitel zu »Postcolonial und Cultural Studies« erwähnt ihr den von Gayatri Chakravorty Spivak 1985 geprägten Begriff des »strategischen Essentialismus«. Der war für viele Debatten der 1990er sehr prägend. Jedoch scheint dieses Konzept fast überhaupt nicht mehr aktuell zu sein. Ist dieses Konzept vielleicht auch durch all die neoliberalen Authentizitätsdiskurse (vor denen ja auch die Linke nicht gefeit ist) sozusagen abhandengekommen oder hat es sich einfach in der Praxis als nicht wirklich funktional erwiesen?
Das Konzept ist trotz seiner großen Mängel funktional und sogar alternativlos. Linke Identitätspolitik befindet sich immer in dem grundlegenden Dilemma, etwas zum Ausgangspunkt emanzipatorischer Politik nehmen zu müssen, das zugleich die Grundlage der eigenen Diskriminierung ist: die eigene Identität, die ja nicht selbstgewählt ist, sondern gewaltvoll verliehen wurde. Linke Identitätspolitik vollzieht deshalb immer den sehr wackeligen Balanceakt zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität, eben weil sie sich – anders als rechte Identitätspolitik – immer bewusst sein muss, dass der Bezug auf Identität ein strategischer und kein »natürlicher/authentischer« ist.
Bleiben wir noch etwas im Retro-Land … Ihr erwähnt ja auch die 1998 gegründete Initiative Kanak Attak, die sich selbst so beschreibt: »Ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab, wie sie sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen«. Auch hier scheint es, dass die Ablehnung »jeglicher Form von Identitätspolitiken« nicht wirklich gefruchtet hat. Viel eher sind doch die Formen von »Identitätspolitiken« noch verschärft worden (bis hin zu Gleichsetzungen von Religionen und ethnischen Herkünften).
Kanak Attack hat damals schon sehr aufmerksam auf die Gefahr reagiert, dass kollektive Identitäten in neoliberale Diversity-Programme integriert werden. Denn Differenzen und Devianzen sind selbstverständlich an sich keine Garanten für antikapitalistische Haltungen. Wir sehen auch einen Trend, mit Identitätspolitiken die eigene Position zu verabsolutieren, sich »identitär« abzuschotten und Identitätspolitik als Immunisierungsstrategie gegen Kritik zu instrumentalisieren. Anstatt an die identitätspolitischen Kämpfe für rechtliche und soziale Gleichheit anzuknüpfen, wird kollektive Identität nicht selten als noch spezifischere Singularität gefeiert. Das scheint uns durchaus problematisch – nicht zuletzt deshalb, weil es auch solidarische Praxis eher verhindert statt ermöglicht.
Aktuelle identitätspolitische Debatten ereignen sich oft in einem extrem aufgeladenen Klima zwischen Trigger Warnings, Micro Aggressions, dem Vorwurf »kultureller Aneignung« und eines intersektionistischen Queer-Feminismus, wo scheinbar »alle gegen alle« posten. Verglichen damit erscheinen selbst Dispute in Sachen Haupt-/Nebenwidersprüche wie Kindergeburtstage. Aber liegen die Probleme hierbei vielleicht gar nicht so an den jeweiligen politischen Theorieansätzen, sondern eher an deren praktischer Umsetzung durch eine Art Political Correctness, die sich vor allem in Form von Ich-AGs in identitären Egoblasen manifestiert?
Dass eine Logik der Ich-AG auch in die identitätspolitische Mobilisierung eingreift oder sich ihrer bedient, ist eine Konjunktur neoliberaler Vergesellschaftung, die sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist. Deshalb lassen sich identitätspolitische Ansätze wohl nicht grundsätzlich von der Tendenz freisprechen, auch Abgrenzungen zu fördern. Und natürlich werden auch in linken Milieus blöde, eitle Distinktionskämpfe geführt. Angesichts der vielen emanzipatorischen Aspekte in der Geschichte linker Identitätspolitiken muss aber betont werden, dass es sich dabei tatsächlich nur um Auswüchse handelt. Denn unterm Strich und auf lange Sicht hat der »Streit um Differenz« die Linke weitergebracht und besser gemacht. Denn es geht bei diesem Streit beileibe nicht nur um Triggerwarnungen und Mikroaggressionen, sondern um Gerechtigkeit. Also darum, dass Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten (auch in den eigenen Reihen!) überwunden werden – um den Kern des linken Projekts also.
Im April/Mai gab es ja eine diesbezüglich fast exemplarische Debatte, als sich die Stand-up-Comedian und Influencerin Enissa Amani auf Instagram gegen die »Spiegel Online«-Journalistin Anja Rützel wehrte, weil sie sich durch den Begriff »Komikerin« (statt »Comedian«) quasi diskriminiert gefühlt hat. Was zur Folge hatte, dass nun Rützels Kritik als rassistisch angeprangert wurde, weil Amani ja eine »Woman of Colour« sei. Wird hier nicht die »Race«-Karte zu einfach gezogen? Weil wie soll ich dann z. B. als weißer Cis-Mann einen queeren House-Track von einem afro-amerikanischen Act rezensieren können, der mir nicht gefällt?
Berechtigte Kritik muss natürlich immer möglich sein, im besten Fall ist es aber eine solidarische Kritik. Es war ja eine Errungenschaft gerade des Antirassismus, durchzusetzen, dass Haltung wichtiger ist als Herkunft oder Hautfarbe. Den queeren Track eines afro-amerikanischen Acts kannst du als Cis-Mann also kritisieren, wenn du gute Gründe für deine Kritik vorbringen kannst. Gleichzeitig aber solltest du dir auch bewusst sein, dass deine Position auch bestimmte Privilegien mit sich bringt, die mit aller Wahrscheinlichkeit auch dein Kunsturteil prägen. Einerseits geht es tatsächlich manchmal einfach nur um Identität und nicht um Inhalte, andererseits machen es sich viele aber zu einfach, wenn sie sagen, zieh nicht so schnell die »Race«-Karte. Die neutrale Ausgangsposition für Kritik ist in der Tat eine moderne (weiße männliche …) Fiktion.
Wir sind hier ja auch im (Minen-)Feld »kulturelle Aneignung« (»Cultural Appropriation«). Im deutschen Sprachraum wurde diese Debatte 2016 durch einen Artikel von Yengameh Yaghoobifarah im »Missy Magazin« angestoßen, wo über das »Fusion«-Festival als »Karneval der Kulturlosen« geschrieben wurde, weil sich dort »weiße Menschen« in »stereotypen rassistischen Kostümen« (das reicht von Kimonos, über Saris bis hin zu Dreads) gleichsam (ihnen) fremde Kultur(en) aneignen würden. Es geht also auch um einen (immer noch existierenden, unterstellten) kolonialistischen Blick auf »das Fremde«, aber auch um die Frage, wer darf sich z. B. überhaupt Dreads wachsen lassen? So berechtigt solche Kritik ist (und nicht zuletzt ist die Popkultur wie auch die »World Music« voll von Aneignungen und Enteignungen), aber wird hier nicht übersehen, dass es bei alldem neben den Aspekten »Aneignung«/»Ausbeutung« auch noch den Aspekt »Anerkennung« geben kann? Oder dass sich hier eben auch der Wunsch nach einem (durchaus Deleuzschen) Anders-werden-Wollen jenseits fixer Identitäten und Essentialismen manifestiert, der auch nichts wegnehmen will? Ihr schreibt dazu ja u. a. auch »Das Weißsein lässt sich nicht abstreifen, aber es lässt sich eine Haltung gegen Privilegien und Profit entwickeln.«
Manche Vertreter*innen der Kritik an kultureller Aneignung tendieren durchaus dazu, »Kultur« eindimensional und ahistorisch zu begreifen. Kulturelle Aneignung ist ein Problem, weil Menschen von den Errungenschaften Marginalisierter profitieren. Das Problem wird aber nicht dadurch gelöst, dass gesagt wird, diese oder jene Ausdrucksform stehe nur Menschen mit diesem oder jenem »kulturellen« Hintergrund zu. Eine solche Position ist essenzialistisch und gefährlich nah am rechten Konzept des Ethnopluralismus, der ja ebenfalls gegen eine »Vermischung« kultureller Einflüsse auftritt. Doch diese kulturelle Reinheit gab und gibt es nicht nur nicht, sie ist zudem bekanntlich ein ideologisch brandgefährliches Konstrukt. Unserer Ansicht nach müsste man zwischen »kultureller Aneignung«, die durchaus auch solidarisch und anerkennend sein kann und die überdies unumgängliche Realität ist, und »kultureller Ausbeutung« unterscheiden. Denn die gibt es natürlich auch, wenn z. B. große Modelabels kulturelles Erbe kapitalisieren, was selbstverständlich skandalisiert werden muss.
Beim Durchlesen des Buchs stellt sich öfters die Frage, wo, wann, warum und ob bei diesem und jenem Theoriefeld quasi mal falsch abgebogen worden ist. Nicht umsonst widmet ihr euch ja auch aktuellen Formen des »Queer-Feminismus«, die von einigen Ansätzen, wie wir sie etwa bei Judith Butler finden (z. B. dass sich »Identitätszeichen« vor allem durch »dauerhafte Unklarheit« auszeichnen sollen) schon recht weit entfernt sind. Dabei ist es ja u. a. zu jener paradoxen Situation gekommen, dass die »explosionsartige und euphorische Vervielfältigung von Identitätskategorien« (die – zumindest in meinen Augen – immer auch etwas Campes, Parodistisches, Überaffirmatives und per se Subversives, Identitätsauslöschendes hatten) eher nicht dazu geführt hat, dass Grenzen »aufgelöst« (oder spielerisch dekonstruiert) werden, sondern – wie ihr auch schreibt – diese Grenzen »im Gegenteil immer enger« geworden sind. Damit ist doch auch verbunden (oder trifft als Effekt dessen auf), was ihr »Individualisierung von Diskriminierung« nennt und was wiederum dem neoliberalen Narrativ radikaler Individualisierung (verkauft als Freiheit, Selbstoptimierung, Eigenverantwortung) sehr nahe kommt.
Zunächst einmal ist es uns wichtig, klarzustellen, dass die grundsätzliche Stoßrichtung des Buches darauf abzielt, zu zeigen, dass keinesfalls alles an linken Identitätspolitiken oder queer-feministischer Politik zu verwerfen ist, nur weil es in manchen Szenen einzelne problematische Entwicklungen oder neoliberale Vereinnahmungen gibt. Allerdings lässt sich in queeren Szenen tatsächlich das paradoxe Phänomen beobachten, dass es dort trotz der queeren Theorietradition mit ihrer Dekonstruktion von Identität zu einer Überaffirmation von Identität kommt. So gibt es beispielsweise dutzende verschiedene Selbstbezeichnungen für Menschen, die sich jenseits binärer Geschlechtskategorien verorten, sich aber dennoch rigide voneinander abgrenzen. Selbstverständlich ist es legitim, dass Menschen auch nach einer sprachlichen Selbstrepräsentation suchen, die ihnen – buchstäblich – gerecht wird. Und selbstverständlich ist es legitim und wichtig, gegen jede einzelne Marginalisierungserfahrung vorzugehen. Aber mit der Herausbildung immer feinerer Differenzkategorien und einer immer größer werdenden Sensibilität für intersektionale Verflechtungen werden auch die individuellen Marginalisierungserfahrungen immer singulärer. Und da Singularität eben das Gegenstück kollektiver Identität ist, wird so politische Organisierung erschwert. Deshalb plädieren wir in unserem Buch so stark für ein Konzept radikaler Solidarität, die gerade auf diesen Differenzen basiert. Denn radikale Solidarität setzt voraus, dass es gerade nicht geteilte – ökonomische, kulturelle, politische – Grundlagen gibt und dass dieses Trennende temporär überwunden werden kann. Sie besteht nicht in erster Linie in der Parteinahme für die Gleichen und Ähnlichen, sondern darin, sich mit Menschen zu solidarisieren, mit denen man gerade nicht die Fabrik und das Milieu, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teilt.
Euer Buch hat ja nicht umsonst den Untertitel »Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken«. D. h, es geht auch konkret um Fragen der Theoriebildung wie den damit verbundenen Praxen (die ihrerseits wieder zu neuen Theorien führen können). Besteht ein Problem bei alldem vielleicht nicht auch darin, dass zu wenig darauf geachtet wird, wann gewisse Theorien entstanden sind? Anders gefragt: Bedeutet es nicht einen Unterschied, ob wir es mit Theorien zu tun haben, die (noch) unter Disziplinarregimen entwickelt worden sind und nicht (schon) unter Kontrollregimen? Wo also gleichsam die Übersetzungsmöglichkeiten mitgedacht werden müssten, speziell auch was Kategorien wie »Class« betrifft.
Selbstverständlich haben Theorieansätze ihre Entstehungs- und Wirkungskontexte. Und selbstverständlich sollte Klasse für emanzipatorisch gesinnte Menschen eine analytisch bedeutende Kategorie sein, schließlich leben wir in kapitalistisch organisierten Gesellschaften. Aber Klasse kann nun längst nicht mehr – und auch nicht wieder – die einzige Kategorie sein, wenn Herrschaft und Ungleichheit verstanden werden sollen. Das gilt für alle Phasen, die du ansprichst.
Danke für das Interview.
Jens Kastner (*1970), Dr. phil., ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt in Wien. Er ist Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (u. a. »Bildpunkt«) über zeitgenössische Kunst, soziale Bewegungen und Kulturtheorien. Er hat zwei Kinder.
Lea Susemichel (*1976) studierte Philosophie und Gender Studies in Wien. Als Journalistin, Lehrbeauftragte und Vortragende arbeitet sie zu den Themen feministische Theorie & Bewegung und feministische Medienarbeit. Seit 2006 ist sie leitende Redakteurin der »an.schläge«. Sie hat zwei Kinder.
Link: https://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/identitaetspolitiken-detail
Die Rechten stellen ihre eigene Potenz, Stärke und Schönheit zur Schau und wollen die vernichten, die ihre “Ganzheit”, ihre “Vollkommenheit” angreifen.