Durch unangenehme Empfindungen hindurch zur Leichtigkeit des Seins

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Spiritualität

Picasso: “Guernica”, Auszug

Eckhart Tolles Konzept des Schmerzkörpers. Wer wünscht sich nicht ein Leben frei von Angst und Sorgen, mit einem zumeist angenehmen Grundgefühl von Freude und Gelassenheit? Laut dem Bestsellerautor ist das möglich, wenn man die auftauchenden unangenehmen Gefühle und Gedanken nicht zu überdecken versucht, sondern sich ihnen unmittelbaren zuwendet. Christian Salvesen hat sich in seinem Buch über Eckhart Tolle auch mit diesem Aspekt befasst.

Um die unangenehmen Emotionen wirklich zulassen zu können, darf ich sie nicht verdrängen, sondern muss bereit sein, sie zu spüren.

Laut Eckhart Tolle ist der Verstand genau das, was alles daran setzt, um diesen Moment, jetzt, durch Gedanken und Emotionen zu verdecken und die Aufmerksamkeit in die Vergangenheit und die Zukunft zu lenken. Denn nur so kann das Ego mit seiner Geschichte aufrechterhalten werden. Welche Emotionen haben mit meiner Vergangenheit zu tun? Was fällt mir da als erstes ein?

Es ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Manche leiden unter Schuldgefühlen, zum Beispiel weil sie bereits als Kind „schuld“ an einem Unglück oder Unfall waren – zumindest wurde ihnen das von Eltern oder Lehrern eingeredet. Andere sind voller Wut und Rachegedanken, fühlen sich seit eh und je ungerecht und schlecht behandelt. Etliche fühlen sich nicht wert, nicht gut genug für eine Aufgabe oder eine Beziehung. Vielleicht weil sie nie Anerkennung von den Eltern und den Lehrern bekamen, von Mitschülern und Kameraden gehänselt wurden oder weil sie in einer bestimmten peinlichen Situation nicht der Erwartung entsprachen.

Diese Erfahrungen sind in unserem Gesamtsystem von Körper-Geist-Seele gespeichert. So gesehen wirkt die Vergangenheit fort, zum Beispiel durch ein unangenehmes Gefühl im Bauch. In diesem Zusammenhang spricht Tolle von einem „Schmerzkörper“. Bei bestimmten äußeren Ereignissen wie etwa einer Bemerkung, die ich als spöttisch auf mich bezogen deute, wird das Gefühl der Kränkung aktiviert und meine Reaktion fällt viel heftiger aus als es der Situation angemessen ist. Es ist das Festhalten an negativen Erfahrungen, was uns unglücklich macht, obwohl es in diesem Moment keinen Grund dafür gibt.

Eckhart Tolle beschreibt den Schmerzkörper (in Anlehnung an Barry Long) als ein quasi eigenständiges, dämonisches Wesen:

„Der Schmerzkörper ist ein halb autonomes Energiesystem, das in den meisten Menschen anzutreffen ist, ein Gebilde, das aus Emotionen besteht. Er besitzt eine eigene primitive Intelligenz, ähnlich einem listigen Tier, und diese Intelligenz dient überwiegend dem Überleben. Wie alle Lebensformen muss er regelmäßig Nahrung – neue Energie – zu sich nehmen, und das, womit er sich versorgt, ist Energie, die seiner eigenen entspricht, also eine ähnliche Wellenlänge hat. Jede emotional schmerzliche Erfahrung kann dem Schmerzkörper als Nahrung dienen. Darum blüht er auch bei negativen Gedanken und dramatischen Beziehungsproblemen auf. (…) Für den Schmerzkörper ist Schmerz ein Genuss. Er verschlingt eifrig jeden negativen Gedanken. Die Stimme, die für gewöhnlich in deinem Kopf erklingt, ist inzwischen zur Stimme des Schmerzkörpers geworden. Dieser kontrolliert jetzt den inneren Dialog. Ein Teufelskreis ist entstanden zwischen dem Schmerzkörper und deinem Denken. Jeder Gedanke nährt den Schmerzkörper, und der Schmerzkörper seinerseits produziert neue düstere Gedanken. Irgendwann nach Stunden oder Tagen ist er satt und fällt wieder in seinen Schlaf zurück; er hinterlässt einen ausgelaugten Organismus.“

(Eckhart Tolle, Neue Erde, S. 97 f)

Auch typische, auf die Zukunft bezogene negative Emotionen, allen voran Angst, sind bedingt durch vergangene Erlebnisse. Neben der natürlichen Angst, die jedes Lebewesen in gefährlichen Situationen zum Schutz geradezu braucht gibt es eine Angst, die durch die Sorge um das falsche Selbst entsteht. Auch diese Angst kennt wohl jeder. Was könnten die anderen von mir denken, wenn ich öffentlich sage, was ich wirklich gesehen habe oder was ich tatsächlich getan habe? Oder: Was geschieht mit mir nach dem Tod des Körpers? Bin ich noch da oder ist es endgültig vorbei mit „mir“, diesem mir vertrauten Ich? Diese Angst ist für uns Menschen womöglich die wichtigste und größte Herausforderung.

Über diese Angst und Ängste, die jeder kennt, hinaus gibt es die Angststörung, unter der weltweit etwa 10 Prozent aller Menschen leiden und deswegen in therapeutischer Behandlung sind. Auf der Webseite der Akutklinik Urbachtal heißt es:

„Als Angststörungen bezeichnet man eine Gruppe psychischer Störungen, die ihre Gemeinsamkeit in einem übersteigerten Angstempfinden haben. Betroffene Menschen erleben ausgeprägte Angst und körperliche Angstsymptome, die i.d.R. so stark sind, dass sie das alltägliche Leben beeinträchtigen. In der Psychotherapie kommen Ressourcenarbeit sowie verhaltenstherapeutische und tiefenpsychologische Psychotherapieverfahren zur Anwendung. Körperorientierte Psychotherapie hat sich hier als besonders hilfreich erwiesen.

Symptome einer Angststörung können unter anderem Herzklopfen, Schwindel, Schweißausbruch, Mundtrockenheit, Beklemmungsgefühl, Brustschmerzen, auch Bewusstseinsstörungen, zum Beispiel das Gefühl, verrückt zu werden, das Gefühl, dass Dinge unwirklich sind oder man selbst „nicht richtig da“ ist. Dass man keine Kontrolle über die eigenen Gedanken hat, Angst zu sterben, allgemeines Vernichtungsgefühl. Jeder vierte Patient mit Angststörung klagt über chronische Schmerzen.“[1]

Zudem gibt es noch die hier nicht erfassten speziellen Ängste wie Platzangst, Höhenangst, Angst vor Spinnen etc. Die Angst gilt etlichen Psychologen und Philosophen als eine Art Grundempfindung der menschlichen Existenz. Die Frage ist: Was ist die Grundempfindung eines Menschen, der in Verbindung mit seiner wahren Natur lebt? Konkreter: Was ist meine Grundempfindung, jetzt? Und wenn es Angst oder Wut oder Trauer oder Neid ist, kann ich da hindurch gelangen – gleichsam wie durch einen dunklen Tunnel – bis zum Licht am anderen Ende?

In jedem Fall kann die Transformation oder der Durchbruch immer nur jetzt geschehen, und nie über den Verstand bzw. das falsche Ich, das an seiner Geschichte und seinem Schmerz festhält. Ein bewusstes Wahrnehmen dessen was ist schließt das Empfinden unangenehmer Emotionen („Störungen“) ein, wenn sie da sind. Das bedeutet zum Beispiel in einer stillen Meditation eine innere Unruhe, einen verkrampften Bauch, kreisende Gedanken, das Empfinden von Langeweile, Unlust oder Ungeduld etc. „auszuhalten“, möglichst nicht zu analysieren oder zu beurteilen – oder eben das Sich-einmischen des Verstandes ebenfalls zu beobachten. Das erfordert eine innere Bereitschaft, man könnte auch sagen Disziplin, sich den eigenen Schattenseiten zu stellen. In gewisser Weise ist also eine „Dunkle Nacht der Seele“ zu durchleben.

Entscheidend ist die grundsätzliche Bereitschaft, so gut wie möglich den jeweiligen Augenblick mit allem, was er bringt wahrzunehmen, um – wie Eckhart sagt, nicht ständig mehr Zeit anzuhäufen.

„Je mehr du fähig bist, das Jetzt anzuerkennen und zu akzeptieren, desto freier bist du von Schmerz und Leiden –frei vom Ego-Verstand (…) Warum verleugnet der Verstand gewöhnlich das Jetzt und leistet ihm Widerstand? Er kann ohne Zeit, ohne Vergangenheit und Zukunft nicht funktionieren und in Kontrolle bleiben und nimmt deshalb das zeitlose Jetzt als bedrohlich wahr. Zeit und Verstand sind in Wahrheit untrennbar. (…) Wie hört man auf, Zeit zu erschaffen? Erkenne zutiefst, dass dein ganzes Leben sich im gegenwärtigen Moment abspielt. Stelle das Jetzt ins Zentrum deines Lebens. (…) Sage immer „Ja“ zum gegenwärtigen Moment.“ (Jetzt, S. 46f.)

Wenn ich bereit bin, den Schmerzkörper wahrzunehmen, löst er sich auf. Zum einen verliert er seine scheinbare Eigenständigkeit und Bedrohlichkeit, er erweist sich als das, was er im Grunde ist, nämlich als eine Illusion, eine Scheinentität. Zum anderen geschieht eine alchemistische Verwandlung von negativen Emotionen (entsprechend einem wertlosen Metall wie Blei) in positive Gefühle der Liebe und Freude (= Gold). Die vormals abgetrennte, gefangene Lebensenergie wird frei bzw. ins Ganze eingebunden.

Die gezielte Beobachtung innerer Vorgänge gilt in etlichen spirituellen Traditionen, besonders im Buddhismus als eines der wirksamsten Werkzeuge der Transformation. Es handelt sich nicht um einen Glaubenssatz oder eine metaphysische Aussage, sondern um ein jederzeit überprüfbares Erfahrungswissen. Ich spüre ein unangenehmes Gefühl im Magen, eine Angst, Nervosität, ein Unbehagen, das ich am liebsten sofort los sein möchte, etwa durch einen Drink, eine Tablette, eine Tafel Schokolade, irgendeine Ablenkung? Stop! Ich bleibe still bei und mit der unangenehmen Empfindung, lasse mich innerlich da hineinsinken, nehme alles genau wahr, ohne eine sofortige Verbesserung zu erwarten. Bin ich einmal durch den ganzen Prozess gegangen und habe am eigenen Leibe die Transformation erlebt, ist der Bann sehr wahrscheinlich gebrochen. Ich weiß jedenfalls, dass und wie es funktioniert.

Nun wird es immer leichter, in die feineren Ebenen der Empfindung zu spüren und schließlich das Mysterium zu erfahren, das Eckhart Tolle mit dem Begriff des „inneren Körpers“ beschreibt. Damit ist ein Grundgefühl von Leichtigkeit, Freude und Freiheit verbunden.

 

Auszüge aus Christian Salvesen: Eckhart Tolle – inneres Erwachen und ein Leben im Jetzt. Aquamarin 2017

 

[1] Quelle: https://www.akutklinik.de/indikationen/angststoerungen/?gclid=CMzCmJrc3M8CFSMW0wodO8kJQQ

 

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