Durchbruch zur Freiheit

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Wilhelm Reich

Berühmte Psychotherapeuten und ihre politischen Visionen. Was meinte Wilhelm Reich mit „proletarische Sexualpolitik“? Was hat Urvater Freud geritten, als er anlässlich des 1. Weltkriegs ausrief: „Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn“? Und was zum Teufel versteht C.G. Jung unter „arischer Psychotherapie“? Die politischen Ansichten berühmter Psychotherapeuten enthalten manch skurrile Stilblüte, aber auch Stoff zum Nachdenken. Therapeutische Ansätze und die dahinter stehende Weltanschauung sind stets auch Spiegel der Zeit, in der sie entstanden sind. Ein Überblick von Roland Rottenfußer.

Keine Abhandlung über Psychologie, die nicht bei Adam und Eva, sprich: bei Papa Sigmund Freud anfangen müsste. Wie politisch war der Begründer der Psychoanalyse? Des Meisters Biografie spricht von liberalen oder gar sozialistischen Neigung in seiner Jugend, die allerdings bald bürgerlichen, System stabilisierenden Tendenzen wichen. Sigmund Freud entdeckte zwar die anarchische Kraft der Libido, jedoch nur, um bald darauf ihre Zähmung als kulturschöpferischen Akt zu feiern. Für den heutigen Geschmack war der Freud der klassischen und späten Periode eher eine reaktionäre Figur, ein autoritärer Knochen bei der Organisation der von ihm begründeten „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“, oft stockkonservativ in der Sache. Vor dem Gründungskongress der Gesellschaft schrieb einer seiner Jünger, Sandor Ferenczi an Freud: „Die pychoanalytische Auffassung führt nicht zu demokratischer Gleichmacherei; es sollte vielmehr eine Elite geben nach Art der platonischen Herrschaft der Philosophen“. Freud antwortete auf diesen Brief, er habe bereits ähnliche Überlegungen angestellt. Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs ließ sich Freud zu patriotischer Begeisterung und dem Ausspruch hinreißen: „Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn.“

Noch wichtiger als solche eher privaten Ausrutscher sind allerdings die ideologischen Grundannahmen, die durch Gründervater Freud die Konzeption der Psychoanalyse selbst beeinflussten. „Die Psychoanalyse ist ein Werkzeug, welches dem ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll.“ Dieser scheinbar harmlose Satz aus dem Buch „Das Ich und das Es“ impliziert die Notwendigkeit, die Leidenschaft der Vernunft unterzuordnen. Aufklärerische Überbewertung der Vernunft und bürgerliche Prüderie erscheinen bei Freud in neuem wissenschaftlichem Gewand. Die kulturstiftende „Nichtbefriedigung der Triebwünsche“ wird von einem späteren Psychoanalytiker, Erich Fromm, sogar mit dem Horten von Kapital verglichen: „So wie der Reichtum das Produkt des Sparens ist, ist die Kultur das Produkt von Triebfrustration.“ (Fromm) Wettbewerb führt Freud auf den Wettkampf der Söhne untereinander und mit dem Vater um den Besitz der Mutter zurück. Ebenso naturgegeben erscheinen ihm der autoritäre Charakter und das Führerprinzip: „Es ist ein Stück der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen, dass sie in Führer und Abhängige zerfallen. Die letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich bedingungslos unterwerfen.“ Freud setzt seine Hoffnung daher nicht auf die Demokratie, sondern auf eine wohlwollende elitäre Aristokratie: „Der ideale Zustand wäre natürlich eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfen haben.“

Betrachtet man diese Ursprünge der Psychoanalyse, so wird deutlich, welche Revolution das Auftreten des Freud-Schülers Wilhelm Reich bedeutet haben muss. Reich nahm Freuds Libido-Theorie beim Wort, baute sie zu einer umfassenden Orgasmustheorie aus und erkannte die „orgastische Potenz“ als Keimzelle der psychosomatischen Gesundheit. Im Gegensatz zu Freud bewertete Reich Triebunterdrückung überwiegend als negativ und richtete seine therapeutischen Bestrebungen auf die Befreiung einer energetischen Urkraft, Orgon genannt, aus.

Nicht zufällig bedeutet der Wechsel von Freud zu Reich auch einen politischen. Die Väter der Psychotherapie hatten noch behauptet, die Analyse setze ein Mindestmaß an „Höhe der seelischen Organisation“ voraus, sie also de facto auf eine intellektuelle Elite beschränkt. Wilhelm Reich dagegen mischte sich unter das „einfache“ Volk und holte die Psychotherapie aus ihrem bürgerlichen Elite-Ghetto heraus. Reich gründete die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“, wo er die Probleme von Menschen aus dem Arbeitermilieu studierte und erforschte, welche Auswirkungen Libidostau und gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf den Gesundheitszustand hatten. Aufgrund dieser Erfahrungen kritisierte er Freuds Schriften als „Kulturanpassungslehre“ und beklagte „die Angst der Psychoanalytiker vor den sozialen Konsequenzen der Psychoanalyse“. Er forderte umfassende Maßnahmen zur „Neurosenprophylaxe“, die auch gesellschaftliche Reformen im Sinne von Marx implizierten.

„Freiheit definieren ist identisch mit Definition der sexuellen Gesundheit“, schrieb Reich. „Es gibt eine sexualphysiologische Verankerung der sozialen Unfreiheit im menschlichen Organismus.“ So lässt sich Reichs Unbehagen an herkömmlichen System stabilisierenden Therapieformen mit einem Satz Adornos zusammenfassen: „Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich anähnelt, wird er erst recht krank.“ Letzte Konsequenz seines politischen Engagements war 1931 die Gründung eines „Reichsverbands für Proletarische Sexualpolitik“ als Unterorganisation der KPD. Später überwarf sich der Psychotherapeut allerdings mit den politisch und sexuell zunehmend repressiv agierenden Parteiführern. Wilhelm Reich hatte schon lange eine eigenwillige Interpretation des Marxismus favorisiert: „Die Diktatur des Proletariats ist die Autorität, die hergestellt werden muss zur Abschaffung der Autorität“, worin ihm die in den Stalinismus abgleitende Sowjetmacht natürlich nicht folgen wollte.

Dem Faschismus hat sich Reich, der 1933 nach Wien und später nach Kopenhagen floh, stets vehement widersetzt. Er betrachtete ihn als „organisierten Ausdruck der durchschnittlichen menschlichen Charakterstruktur“. Reizvoll ist hier der Vergleich zu einem anderen Freud Schüler, Carl Gustav Jung. Jung der Schweizer war (und im Gegensatz zu Freud und Reich nicht Jude) hatte bei Hitlers Machtübernahme noch gegen einen „kompensatorischen Rückschlag zum Kollektivmenschen“ gewettert und zu Protokoll gegeben: „So genannte Führer sind unvermeidliche Symptome einer Massenbewegung. Die wahren Führer der Menschheit sind stets die, welche sich auf sich selbst besinnen und das Schwergewicht der Masse wenigstens um ihr eigenes Gewicht erleichtern, indem sie sich von der blinden Naturgesetzlichkeit der Masse bewusst ferngehalten haben.“

1934 dann seine unselige Unterscheidung zwischen „jüdischer“ und „arischer Psychotherapie im deutschen „Zentralblatt für Psychotherapie“: „Der Jude als relativer Nomade hat nie und wird voraussichtlich auch nie eine eigene Kulturform schaffen, da alle seine Instinkte und Begabungen ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk zu ihrer Entfaltung voraussetzen. Die jüdische Rasse als Ganzes besitzt darum nach meiner Erfahrung ein Unbewusstes, das sich mit dem arischen nur bedingt vergleichen lässt (…) Das arische Unbewusste hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit.“ Der Fairness halber sollte aber gesagt werden, dass C.G. Jung seine damaligen „Ausrutscher“ später offenbar aufrichtig bereut hat und dass sich sein gewaltiges Werk selbstverständlich nicht in der Nähe zum Nationalsozialismus erschöpft. Wie in den Werken anderen großer Wegbereiter wie Wagner, Nietzsche oder Steiner gibt es hier Phänomene der „Schattenmanifestation“, die man kennen, aber nicht undifferenziert auf die Gesamtleistung der Betreffenden übertragen sollte.

Befruchtend wirkte sich Jungs Archetypenlehre (z.B. der Begriff des „Schattens“) und seine Offenheit für geistige Strömungen des Ostens eher für die in den 70er-Jahren einsetzende spirituelle Öffnung des Zeitgeistes aus. Wilhelm Reich Ansatz der therapeutisch und politisch brisanten „Energiebefreiung“ lebte dagegen überwiegend in den bioenergetischen Therapierichtungen von Alexander Lowen und John Pierrakos weiter. Eine auch körpertherapeutisch begründete antiautoritäre Haltung, die für die Epoche der 60er und 70er-Jahre charakteristisch ist, findet man in den Schriften Alexander Lowens: „Lust kommt aus dem freien Fließen der Kräfte innerhalb des Körpers oder zwischen ihm und seiner Umgebung. Macht entsteht, wenn Kraft aufgestaut und gesteuert wird. Damit ist der grundlegende Unterschied zwischen dem Lustmenschen und dem Machtmenschen umrissen. Macht lebt von Herrschaft.“ Da also, im Gegensatz zu den Ursprüngen der Psychoanalyse durch Freud nicht Affektkontrolle durch die Vernunftinstanz „Ich“, sondern „freies Strömen von Energien“ als höchster Wert erscheint, entbindet sich ein gesteigertes revolutionäres Potenzial der therapeutischen Szene, die von der 68er-Bewegung auch durchaus in dieser Weise aufgegriffen wurde. Gänzlich diskreditiert erscheint das „Überich“ als Instanz der verinnerlichten gesellschaftlichen Normen. Lowens Schriften zeichnen sich durch eine oft vieldeutige Sprache aus, die wahlweise politisch und therapeutisch interpretierbar ist.

Ein Abriss über die politischen Visionen berühmter Psychotherapeuten wäre aber unvollständig, ohne das Werk von Erich Fromm zu würdigen. Fromm gehörte nicht nur zu den Anregern der 68er-Bewegung, er hat auch in hervorragender Weise negative Tendenzen des Wirtschaftslebens analysiert, die sich heute eher verstärkt als abgeschwächt haben. In zahlreichen Veröffentlichungen geißelte Fromm die gesellschaftlichen Manifestationen von Nekrophilie (Liebe zu Totem), Sado-Masochismus (autoritärer Charakter) und Verdinglichung durch die Zwänge des Wirtschaftslebens („Marketingcharakter“). Immer argumentiert er gleichzeitig individualpsychologisch und höchst politisch, betrachtet die Gesellschaft quasi als erweiterte Seele, die einer umfassenden Heilung bedarf.

Als Nahtstelle zwischen gesellschaftlichem „Überich“ und den Selbstentfaltungsansprüchen des Einzelnen sieht Fromm die Familie: „Der im Wachstum begriffene Mensch wird gezwungen, die meisten seiner autonomen, echten Wünsche und Interessen und seinen eigenen Willen aufzugeben und einen Willen, Wünsche und Gefühle anzunehmen, die nicht aus ihm selbst kommen, sondern ihm durch die gesellschaftlichen Denk- und Gefühlsmuster aufgenötigt werden. Die Gesellschaft und die Familie als deren psychosoziale ‚Agentur’ haben ein schwieriges Problem zu lösen: Wie breche ich den Willen eines Menschen, ohne dass dieser es merkt?“ Statt einem dumpfen, triebhaften „Es“ (wie bei Freud) ist der Gegenspieler gesellschaftlicher Repressionsapparate die autonome Persönlichkeit – bei Fromm ein Wesen voll natürlicher Würde, der Kreativität und allem Lebendigen zugetan. „Unter Freiheit verstehe ich nicht Freiheit von allen Leitprinzipien, sondern Freiheit, der Struktur der menschlichen Existenz entsprechend zu wachsen.

Am Wirtschaftssystem seiner Zeit (dessen Eskalationsstufe das gegenwärtige ist) kritisiert Fromm eine „anale Fixierung“ auf das „Sparen und Horten von Geld und materiellen Dingen ebenso wie von Gefühlen, Gesten, Worten.“ In seinem Buch „Haben und Sein“ kritisiert er das Privateigentum als Ursache der allenthalben dominierenden Haben-Orientierung. „Der Besitz von Privateigentum erfordert Macht, um es vor jenen zu schützen, die es uns wegnehmen wollen, denn genau wie wir bekommen auch sie nicht genug. Der Wunsch, Privateigentum zu haben, erweckt den Wunsch in uns, Gewalt anzuwenden, um andere offen oder heimlich zu berauben.“ Erich Fromm war ein gemäßigter Marxist, der sich am humanistischen Gehalt der Frühschriften von Karl Marx orientierte. „Die Religion des Industriezeitalters ist mit echtem Christentum unvereinbar. Sie reduziert die Menschen zu Dienern der Wirtschaft und er Maschinen, die sie mit ihren eigenen Händen geschaffen haben. (…) Der Mensch wird zur Ware auf dem ‚Persönlichkeitsmarkt’. Das Bewertungsprinzip ist das selbe wie auf dem Warenmarkt, mit dem einzigen Unterschied, dass hier ‚Persönlichkeit’ und dort Waren feilgeboten werden.“

Bewusstseinserweiterung war der gemeinsame Nenner vieler therapeutischer Strömungen, die im Gefolge der so genannten 68er-Bewegung hoch kochten. Dabei schienen psychedelische Musik, Drogenkonsum, politische Agitation, sexuelle Befreiung und spirituelle Experimente wie die von Osho und Maharishi alle in dieselbe Richtung zu zielen: Konventionen, Regeln und traditionelle Autoritäten abzuschütteln wie ein lästiges Korsett und zum authentischen Selbstausdruck durchzubrechen. Schwitzende, schluchzende und vibrierende Seminarbesucher in Poona sind die Brüder und Schwestern der demonstrierenden Stundenten in Paris, Berlin oder Berkeley, so fremd sich beide Welten auch gewesen sein mögen.

Sozialisation war und ist immer Begrenzung unserer Handlungsoptionen. „68er-Therapien“ halfen, die Grenzen unserer Möglichkeiten immer weiter nach außen zu verschieben – über das uns von der Gesellschaft zugedachte Reservat der Wohlanständigkeit hinaus. Wenn Timothy Leary oder Stanislav Grof mit Drogen und „Holotropem Atmen“ experimentierten, taten sie etwas immens Politisches, denn Bewusstseinserweiterung bedeutet, sich auf einen Standpunkt außerhalb des Gewohnten stellen zu können und das scheinbar Normale aus einer umfassenderen Perspektive heraus hinterfragen zu können. Das ist subversiv, selbst wenn die so Therapierten (noch?) nicht zum Sturm auf Bastille oder Wall Street blasen. Werfen wir zum Vergleich einen Blick auf die Psychoszene von heute. Die Auswahl muss sich auf ein paar Schlaglichter beschränken, die allerdings nicht willkürlich gewählt sind und mir symptomatisch erscheinen für einen Wandel im Zeitgeist.

„Warum glauben Sie, dass 1 Prozent der Weltbevölkerung ungefähr 96 Prozent von allem vorhandenen Geld verdienen? Glauben Sie, dass das nur Zufall ist?“ Die Frage des US-Mentaltrainers Bob Proctor lässt aufhorchen. So mancher Leser würde an dieser Stelle Analysen der Zinsdynamik, mitfühlende Darstellungen des Elends in der Dritten Welt oder eine flammende Anklage gegen den immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich erwarten. Doch Bob Proctor ist kein Wirtschaftsanalytiker und noch weniger ein Aktivist für soziale Gerechtigkeit, er ist Positivdenker. Von besagtem 1 Prozent der Reichen sagt Proctor, sie hätten „etwas verstanden. Sie verstehen das Geheimnis.“ Und mit dem „Geheimnis“ ist nichts anderes gemeint als das unwandelbare geistige Gesetz der Anziehung. Jeder Mensch zieht dieser Theorie zufolge Ereignisse in sein Leben, mit denen er in Resonanz steht. Er kreiert sich seine Wirklichkeit mit Hilfe seiner Gedanken. „Wenn Sie sich selbst im Zustand des Überflusses vorstellen, dann werden Sie genau diesen Überfluss anziehen. Es funktioniert immer und bei jedem Menschen.“

Solche Theorien sind ein Politikum, ebenso wie die Aussage von Dr. Joseph Murphy: „Armut ist eine Krankheit des Geistes“. Millionen von „Kranken“ in der Sahelzone, den Favelas der brasilianischen Millionenstädte oder den menschenunwürdigen Müllhalden-Siedlungen am Stadtrand von Mexico City müssen sich als Negativdenker mit „Armutsbewusstsein“ verhöhnen lassen. Damit wird eine mental optimal trainierte Elite von Richtigdenkern auch wohlfeil aus seiner gesellschaftlichen Verantwortung entlassen, selbst wenn sie, wie Proktor zugibt, mit völlig unverhüllter Gier ein übermäßiges Stück vom Kuchen des gemeinschaftlichen Reichtums an sich raffen. Das Positive Denken wird so – kaum verhohlen – zum geistigen Überbau des herrschenden Wirtschaftsliberalismus, schön tönende Begleitmusik zum Chor der marktradikalen Gegner des Sozialstaats, die in soziale Not Geratenen statt Brot und Mitgefühl gern besserwisserisch Belehrungen über versäumte Eigenverantwortung zukommen lassen.

Ein Politikum ist auch Bert Hellingers wertkonservativer Ansatz und sein Satz „Anerkennen, was ist“. Die Annahme, es gäbe implizite Ordnungen und kollektive Strömungen, die in der Individualseele gleichsam ihren Abdruck hinterlassen, ist als Diagnose sicher richtig. Zweifelhaft ist lediglich die Aufforderung, wir müssten uns dem Zugriff archaischer Mächte auf unsere moderne Seelenwelt fügen, anstatt uns von ihnen zu emanzipieren. Die humanistische Psychologie eines Erich Fromm hätte nicht zugelassen, dass Menschen mit Körperorganen verglichen werden, die im großen Zusammenhang des „Organismus“ Gesellschaft zu funktionieren haben. Und schon gar keine Relativierung des Unrechts aus einer angemaßten spirituellen Vogelperspektive heraus, wie in diesem Satz Hellingers: „Wir müssen zugeben, dass auch das Böse in den Händen von größeren Mächten ist und in einem größeren Ganzen einen Sinn hat.“

Ein Politikum ist letztlich auch die Entpolitisierung der Therapieszene nach Abflauen der 68er-Bewegung in Verlauf der 70er-Jahre. Verhaltenstherapie und Kurzzeittherapie etwa spiegeln, obwohl in ihrer Theorie keineswegs „neoliberal“ oder gar „rechts“, getreulich das herrschende Effizienzdenken in unserem Wirtschaftsleben wider. Eine gute Therapie bringt schnelle Besserung der Symptome bei minimalen Behandlungskosten. Im Extremfall wird nur Sofortreparatur im Hinblick auf die Wiederherstellung der Funktionstüchtigkeit des Einzelnen als „Produktionsfaktor“ angestrebt, was kaum bewusst in der Absicht des Therapeuten, wohl aber in der Logik des Systems liegt. Eine fortschreitenden Ökonomisierung der Seelenheilkunde also, die nicht die Kostenfrage betrifft, sondern auch den Therapieverlauf infiziert.

Daneben sind auch Tendenzen festzustellen, den Menschen mit Hilfe von Analogien aus der Computersprache auf ein maschinenhaft funktionierendes Wesen zu reduzieren. Das wird das „Gehirn umprogrammiert“, oder „Festplatten“ werden „gelöscht“ und „neu beschrieben“ usw. Neben Positivdenkern à la Erhard Freitag ist hier natürlich vor allem die Drei-Buchstaben-Methode „NLP“ (Neurolinguistisches Programmieren) gemeint, die schon in der Kreation ihres Fachkauderwelsch beinahe eine Karikatur des herrschenden Geistes in den 80er und 90er-Jahren zeichnet. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass man aus Furcht vor den durch Freud, Jung und andere aufgewirbelten Untiefen der Seele Zuflucht nimmt zum Sterilen, Mechanischen und Überschaubaren. Zuletzt hat natürlich, wie wir gesehen haben, jede Individualtherapie die Funktion, die Verantwortung für das eigene Lebensschicksal zu individualisieren. Durch den Gang zum Psychotherapeuten räumt der Patient implizit ein, dass das Problem bei ihm liegt, selbst wenn die Welt „draußen“ buchstäblich verrückt spielt und allenthalben Kollektivneurosen analer, nekrophiler und sadomasochistischer Natur sprießen.

Der Dreiklang von schamlos wirtschaftsliberalem Mentaltraining, von wertkonservativen, die Ordnung bejahenden Ansätzen und von modernistischen, an Effizienz orientierten Therapien hat die derzeitige Therapieszene derart im Griff, dass für grundsätzliche Systemkritik und Formen sprengende Emanzipationsbestrebungen wenig Raum bleibt. Selbst die Reichsche Richtung der Körpertherapie ist offenbar nicht mehr das, was sie mal war. So teilte mir vor Jahren ein moderner Vertreter der Bioenergetik im Interview mit, dass statt eruptiver energetischer „Hochladungsarbeit“ künftig die Kontrolle überschießender Energien im Vordergrund stehen sollte. Wer soll uns noch befreien von dem, was uns individuell und gesellschaftlich die Luft zum Atmen nimmt, wenn selbst die ehemaligen Befreier zahm geworden sind?

So lange keine gänzlich neue befreiende Schule in Sicht ist empfehle ich die Rückbesinnung auf die Altmeister wie Reich, Lowen, Grof oder Fromm. Wir müssen die humanistischen und emanzipatorischen, die körpertherapeutischen und transpersonellen Therapien von ihren eigenen Fehlern und Übertreibungen befreien, anstatt die Therapien selbst mit samt ihren schönen Errungenschaften zu entsorgen. Energien sind dazu da, frei zu fließen, aber überall geraten sie ins Stocken: in unserem auf Horten ausgelegten Geldsystem ebenso wie auf dem Arbeitsmarkt, wo viel Kreativität erstickt wird – und ebenso wie in unserer Fähigkeit, Liebe und gerechten Zorn auszudrücken. Wir müssen es wieder wagen, unseren Anspruch auf energetische und gesellschaftliche Selbstbestimmung anzumelden, anstatt vor einem Popanz in die Knie zu gehen, den Erich Fromm „Die Furcht vor der Freiheit“ nannte.

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