Ein Sommermärchen
Kinder finden Tiere süß und sträuben sich normalerweise gegen die Vorstellung, dass man ihnen wegen eines Stücks Fleisch auf dem Teller ein Messer in den Hals rammt. Wenige Jahre später kann es passieren, dass der “gereifte” Mensch das Töten von Tieren als normal und notwendig verteidigt. Er hat sein Herz zugemacht, friert “drohendes” Mitgefühl einfach ein. Diesen Prozess der Sozialisation beschreibt V.C. Herz trefflich in seiner Kurzgeschichte um den Hasen Odette. Und er macht noch etwas anderes klar: Die Anzahl der von Menschen getöteten “Speisetiere” ist der helle Wahnsinn – und ein sehr dunkles Kapitel unserer Kultur.
Odette ist ein toller Hase. Den halben letzten Sommer habe ich mit ihr im Garten verbracht. Ich habe sie gestreichelt, mich um sie gekümmert, mit ihr gespielt. Odette ist auch eine liebevolle Mutter. Sie umsorgt ihre kleinen Hasenbabys liebevoll und beschützt sie. Wir beherrschen sogar ein paar Tricks – z.B. stupsen wir uns regelmäßig mit unseren Nasen an. Eigentlich ist Odette nicht sonderlich zutraulich. Sie ist normalerweise ein sehr schüchterner Hase. Aber mir gegenüber hat sie sich geöffnet. Mich liebt sie, mir vertraut sie. Häufig nehme ich Odette heimlich abends mit in mein Bett und kuschle mich mit ihr in den Schlaf. Odette und ich, wir sind Freunde!
Als ich an einem lauwarmen September-Nachmittag von der Schule heim komme, ist Odette nicht mehr in ihrem Stall. Sie ist auch nirgendwo auf der Wiese. Sie ist einfach weg. Ich suche verzweifelt nach ihr. Im Keller finde ich sie schließlich – kopfüber an der Wäscheleine baumelnd, darunter eine Blutlache. Daneben mein Vater mit einem blutverschmierten Messer in der Hand. Er hat meine Odette getötet – einfach so! Obwohl er genau wusste, dass sie meine Odette ist. Am Abend schiebt meine Mutter Odette in den Backofen. Sie scheint damit überhaupt kein Problem zu haben, obwohl sie genau weiß, dass sie da meine Odette isst. Ich soll mich nicht so anstellen, meint sie. Für mich ist in diesem Moment eine Welt zusammengebrochen. Ich habe mich geweigert, Odette zu essen – ganz im Gegensatz zu meiner Familie. Die haben am Tisch sogar noch Scherze darüber gemacht. Das hat Odette nicht verdient. Das hat sie einfach nicht verdient.
Spät abends, als meine Eltern schon im Bett sind, schleiche ich mich in die Küche. Ich sammle alle Knochen aus dem Mülleimer zusammen und packe sie in eine kleine Holzdose. Damit gehe ich in den Garten. Dort begrabe ich meine Odette unter dem Baum, bei dem wir immer gespielt haben. Schaufel für Schaufel hebe ich die Erde aus dem Boden. Ich muss dabei weinen. Ich vermisse Odette. Als ich nach dem Essen zu ihren Babys schaute, waren diese ganz verstört. Ihre Mutter ist schließlich weg und sie wird auch nie mehr zurückkommen.
Aus zwei Ästen baue ich ein Kreuz für Odettes letzte Ruhestätte. Ich halte, allein im Dunkeln, eine Trauerrede. Und ich lege eine Gedenkminute für meine Odette ein. Eine Gedenkminute, das ist das mindes-te, was dieses wundervolle Wesen verdient hat.
Wie viele Tiere werden heute noch gestorben sein? Dieser Gedanke kommt mir unwillkürlich während der Gedenkminute. Auch diese hätten bestimmt eine Gedenkminute verdient. Es waren sicher allesamt ganz wundervolle Wesen, auch wenn ich sie nicht kennen lernen durfte. Also beginne ich mit der nächsten Gedenkminute für einen unbekannten Hasen. Ich will für jedes einzelne Tier eine Gedenkminute halten. Dann denke ich nach, und die Realität holt mich ein. Ich kann schließlich gar nicht für jedes getötete Tier eine Gedenkminute einlegen. Allein zwischen 22:17 Uhr und 22:18 Uhr, also in der einen Gedenkminute, die ich für ein einzelnes Tier abgehalten habe, wurden in Deutschland 1.455 Tiere getötet4. Während ich also im Gedanken bei diesem einen Lebewesen war, blieben weitere 1.454 völlig unbeachtet. Eine Minute pro Tier funktioniert also nicht. Wie wäre es aber mit einer Gedenksekunde Für jedes Tier? Es grenzt schon an Hohn, ein ganzes Leben mit nur einer Sekunde zu würdigen. Und selbst wenn ich eine Gedenksekunde einlegen würde: schon während der ersten Sekunde, also z.B. von 22:19:17 Uhr bis 22:19:18 Uhr, würden in Deutschland schon 24 Tiere getötet werden. Für 23 dieser Tiere könnte ich also gar keine Gedenksekunde abhalten. Meine Zeit reicht einfach nicht aus.
Ich muss schneller werden. Ich beginne wahllos Namen aufzuzählen, in Windeseile. Aber ich schaffe es nicht, mehr als zwei Namen pro Sekunde auszusprechen. Ich komme nicht hinterher. Obwohl diese Tiere hier in Deutschland für nichts als einen Gaumenkitzel ihr Leben lassen mussten, kann ich ihrer nicht einmal in würdiger Form gedenken. Nicht einmal mit einer einzigen Sekunde. Es geht nicht, wir töten einfach viel zu schnell.
Bedrückt gehe ich wieder in mein Bett. Mein Herz wurde mir heute gebrochen – von meiner eigenen Familie. Nie wieder werde ich mich mit einem unserer Hasen anfreunden. Zu sehr schmerzt es, weiß ich doch jetzt, dass mein Vater auch mein nächstes Lieblingstier wieder töten würde. Das stimmt mich traurig. Es war so eine wundervolle Zeit mit Odette. Es ist jetzt 23 Uhr. Ich stelle meinen Wecker auf 7 Uhr. Mit dem Gedanken, dass bis zu dem Zeitpunkt, an dem mein Wecker morgen klingelt, weitere 698.632 Tiere in Deutschland tot sein werden, schlafe ich langsam ein.
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