Ein Tumor, der seinen Wirt tötet

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Die Mehrheit der Menschen muss erkennen, dass die soziale Misere, vor allem die seit Jahren anhaltende kontinuierliche Senkung ihres Lebensstandards, aber auch der kulturelle Verfall und die zunehmende Unterwerfung der Gesellschaft unter autoritäre politische Strukturen ihre Ursachen im gegenwärtigen Finanzsystem hat. Auszug aus dem Buch „Wolff of Wall Street“, Promedia Verlag. Ernst Wolff

Fehleinschätzung: „Das Finanzsystem ist nur ein Teilbereich unserer Gesellschaft, den man nicht unbedingt verstehen muss.“

Die Fassade der parlamentarischen Demokratie hat es dem Finanzsektor ermöglicht, sich über Jahrhunderte hinweg weitgehend unkontrolliert zu entwickeln. Es sind aber noch zwei weitere Faktoren hinzugekommen, die ihm geholfen haben, beständig an Macht und Einfluss zu gewinnen: Zum einen hat die Bankenwelt im Laufe der Zeit eine eigene Fachsprache entwickelt, die Außenstehenden den Zugang erschwert und das Verständnis von Hintergründen und Zusammenhängen fast unmöglich macht. Zum anderen sind den meisten Menschen die Auswirkungen der Vorgänge im Finanzwesen auf das eigene Leben nicht bewusst.

Aus diesen Gründen nimmt das Finanzwesen in der Wahrnehmung der meisten Menschen bis heute einen eher untergeordneten Platz ein. Oft steht es auf einer Stufe mit anderen Teilbereichen der Gesellschaft wie dem Gesundheits- oder dem Ausbildungswesen, und in vielen Fällen erfährt es sogar noch weniger Aufmerksamkeit.

Diese Mischung aus Desinteresse und Unverständnis ist vom Finanzsektor im vergangenen halben Jahrhundert in historisch einmaliger Weise ausgenutzt worden und hat ihm dazu verholfen, von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt zur stärksten Macht zu werden, die es jemals auf unserem Planeten gegeben hat – mit der Folge, dass unser gesamtes Leben heute bis ins kleinste Detail von den Vorgängen an den Finanzmärkten geprägt und beeinflusst wird.

Wie sind die Finanzmärkte so mächtig geworden?

Das gegenwärtige Finanzsystem ist am Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden und spiegelt noch immer die damaligen Machtverhältnisse wider. Zentraler Dreh- und Angelpunkt des Systems ist der US-Dollar, der 1944 zur globalen Leitwährung erklärt wurde und Ende der 1940er Jahre einen historischen Siegeszug um die Welt antrat, der als „Nachkriegsboom“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

Größter Nutznießer dieses Wirtschaftsaufschwungs waren die amerikanischen und europäischen Banken, die die Wirtschaft mit Krediten versorgten und daran glänzend verdienten. Als der Boom in der Mitte der 1970er Jahre zu Ende ging, ging aber auch die Nachfrage nach Krediten zurück, so dass die Banken sich nach anderen Verdienstmöglichkeiten umzusehen begannen.

Auf Grund ihrer in den vorangegangenen Jahrzehnten gewonnenen finanziellen Macht drängten sie die Politik, die rechtlichen Vorschriften für den Bankensektor zu lockern und ihnen so neue Profitquellen zu eröffnen. Das Drängen hatte Erfolg und setzte einen Prozess in Gang, der heute als Deregulierung bekannt ist und das Gesicht der Weltwirtschaft von Grund auf verändert hat.

Einer der wichtigsten Meilensteine der Deregulierung war die Zulassung von Hedgefonds. Dabei handelt es sich um Vermögensverwaltungen einer ultrareichen Klientel, die wie Banken arbeiten dürfen, ihren gesetzlichen Vorschriften aber nicht unterliegen. Dieser Schritt war die größte Machterweiterung, die die Banken in ihrer über 500-jährigen Geschichte erlebt hatten, denn er ermöglichte es ihnen, eigene Hedgefonds zu gründen und fortan all die Geschäfte zu betreiben, die ihnen zuvor verboten waren.

Die Zugeständnisse an die Finanzindustrie gingen allerdings noch weiter. Im Zuge der Deregulierung wurden auch Aktienrückkäufe, die zuvor als unlauteres Instrument zur Kursmanipulation verboten waren, erlaubt. In den angelsächsischen Ländern wurde das Trennbankensystem abgeschafft, das nach dem Börsencrash von 1929 zum Schutz von Bankkunden eingeführt worden war. Rund um die Welt wurden immer neue Steueroasen geschaffen, Briefkastenfirmen zugelassen und Bilanzvorschriften gelockert.

Besonders wichtig war die Einführung immer neuer Finanzprodukte, insbesondere von Derivaten. Auch wenn diese historisch einmal zur Absicherung von Risiken erfunden worden sind, handelt es sich bei ihnen in ihrer heutigen Form zum weitaus überwiegenden Teil um nichts anderes als um Wetten, mit denen Investoren auf zukünftige Preise, Kurse oder Zinssätze setzen. Ihr Umfang ist im vergangenen Vierteljahrhundert exponentiell gewachsen und nimmt heute den mit Abstand größten Platz im gesamten globalen Finanzgefüge ein.

Folge dieser Maßnahmen war ein ungezügeltes Wachstum des Finanzsektors, das zur „Finanzialisierung“ der gesamten Weltwirtschaft führte. Geld, das vorher in Form von Investitionen in die industrielle Produktion geflossen war, wanderte in immer größerer Menge in den Finanzsektor. Während die Realwirtschaft zu verkümmern begann, nahm die Spekulation an den Finanzmärkten exponentiell zu und verwandelte sie in ein globales Casino, in dem mit den Wetteinsätzen auch die Risiken immer weiter anstiegen.

Mehrere Beinahe-Zusammenbrüche – mit immer schlimmeren Folgen

Das blieb nicht ohne Folgen. 1998 geriet das globale Finanzsystem zum ersten Mal an den Rand des Zusammenbruchs, weil sich ein amerikanischer Hedgefonds im internationalen Währungsgeschäft verspekuliert hatte. Damals tat sich eine Gruppe von Großbanken zusammen und rettete das System und damit sich selbst durch einen Feuerwehreinsatz, der etwa vier Milliarden Dollar kostete.

2007/08 kam es zum zweiten Beinahe-Zusammenbruch. Diesmal waren die Folgen erheblich schlimmer. Die Summen, um die es ging, waren so hoch, dass die Banken überfordert waren und die Regierungen eingreifen mussten. Da deren Haushalte aber auch nicht ausreichten, um das System dauerhaft zu stabilisieren, sprangen anschließend die Zentralbanken ein und hielten es künstlich am Leben, indem sie immer mehr Geld schufen und es zu immer niedrigeren Zinsen vergaben.

In der Eurokrise verschärften sich die Probleme noch einmal, denn nun mussten nicht nur Finanzinstitute, sondern ganze Staaten vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Den vorläufigen Höhepunkt bildete 2020 die Corona-Krise, in deren Verlauf die Weltwirtschaft zum ersten Mal in ihrer Geschichte zum Stillstand gebracht wurde – mit der Folge, dass der globale Schuldenstand astronomisch in die Höhe schoss und das System nur noch mittels einer nie dagewesenen Geldschwemme am Leben erhalten werden konnte.

Jede dieser Krisen hat den Prozess der Vermögens- und damit der Machtkonzentration weiter vorangetrieben und gleichzeitig ein neues, unüberwindbares Problem geschaffen: Die Mittel, die zur Rettung des Systems eingesetzt werden können, sind weitgehend ausgeschöpft. Da die Verantwortlichen in der nächsten Krise dennoch gezwungen sein werden zu reagieren, wird ihnen nichts anderes übrig bleiben als die Zinsen in den Negativbereich zu senken, noch mehr Geld zu mobilisieren, die Inflation anzuheizen und das System so noch stärker zu destabilisieren.

Damit aber ist die Welt an einem Wendepunkt angekommen, denn das System lässt sich auf Dauer nur noch durch solche Maßnahmen am Leben erhalten, die seine Grundlagen zerstören. Der Finanzsektor, der einmal aus der Realwirtschaft hervorgegangen ist, gleicht mittlerweile einem Tumor, der seinem Wirt nach und nach alle Lebenskraft entzieht und inzwischen ein Stadium erreicht hat, in dem nur noch seine radikale Entfernung helfen kann, den Wirt am Leben zu erhalten.

Diese Rettung aber erfordert die Bereitschaft des Wirtes, sich retten zu lassen und die wiederum setzt voraus, dass der Wirt erkennt, dass sein schlechter Zustand auf den Tumor zurückzuführen ist. Auf unsere Gesellschaft bezogen, bedeutet das: Die Mehrheit der Menschen muss erkennen, dass die soziale Misere, vor allem die seit Jahren anhaltende kontinuierliche Senkung ihres Lebensstandards, aber auch der kulturelle Verfall und die zunehmende Unterwerfung der Gesellschaft unter autoritäre politische Strukturen ihre Ursachen im gegenwärtigen Finanzsystem hat.

Wir stehen also vor einer historischen Herausforderung, denn diejenigen, die das gegenwärtige System beherrschen, haben in der Vergangenheit deutlich gezeigt, dass sie nicht bereit sind, ihren Machtanspruch freiwillig aufzugeben. Natürlich werden sie bei der Verteidigung ihrer Privilegien auch bereit sein, Gewalt anzuwenden. Der größte Trumpf aber, den sie in der Hand halten, ist nicht materieller, sondern ideeller Natur: Es handelt sich um die Unwissenheit der breiten Masse, wenn es um die Funktions- weise des Systems geht.

So lange diese Unwissenheit bestehen bleibt, wird die Menschheit sich aus der Sackgasse, in der sie sich gegenwärtig befindet, nicht befreien können. Die wichtigste Voraussetzung für die Errichtung eines wirklich demokratischen und von der Allgemeinheit getragenen Finanzsystems besteht deshalb darin, diese Unwissenheit zu beseitigen.

 

 

Ernst Wolff:

Wolff of Wall Street

Promedia Verlag

192 Seiten, € 19,90

Anzeigen von 4 Kommentaren
  • Amin Ahmed
    Antworten
    Lieber Herr Wolff,

    vielen Dank für diesen Beitrag. Als Muslim habe ich folgende Frage für Sie, falls Sie die Zeit finden sollten, diese zu beantworten. Im Islam sind zum Beispiel Zinsen verboten. Welche Vor- und Nachteile würden Sie in einem Finanzsystem sehen, in dem Zinsen (also mehr zurückverlangen als verliehen wurde) komplett verboten sind und in denen Investor und Entrepreneur sich das Risiko in einer Geschäftsidee teilen? Ihre Meinung würde mich da sehr interessieren.

  • Piranha
    Antworten
    Ich weiß seit langem, dass Zinsen und erst Recht der Zinseszins im Islam verboten sind. Und gäbe es eine Bank in meiner Nähe, wäre ich längst gewechselt, auch wenn ich keine Muslima bin. Das spielt nämlich keine Rolle.

    Was mir jedoch nicht ganz klar ist: mal angenommen ich hätte einen gewissen Betrag und würde diesen der Bank geben, denn Geschäfte machen ist natürlich auch Muslimen erlaubt. Wie aber würden sie mich an ihren Gewinnen beteiligen durch diese Geschäfte?

    Also: die Meinung von Herrn Wolff würde auch mich interessieren.

    Vielen Dank vorab.

  • Werner
    Antworten
    Es geht um die Vermeidung leistungsloser Einkommen, so genannter Renten. Die entstehen durch die Kapitalisierung von Eigentum. Diese Form der stetigen Transferleistungen werden von Wohlhabenden gerne übersehen.

    Wird das konsequent gemacht, dann gibt es keine Gewinne auf Eigentum mehr, auch weil Geld keinen inherenten Wert mehr hat. Deshalb machen Zinsen, aber z.B. auch Provisionen keinen Sinn mehr. Sie werden ersetzt durch eine Bewertung des realen Auswands z.B. in Form von leistungsbezogenen Honoraren.

    Kurzum, jeder muss für seine Daseinsfristung Arbeit leisten. Soziale Transferleistungen mit transparenten Regelwerken machen das Ganze dann erstmals menschenwürdig.

  • Karola
    Antworten
    Also ich würde mal sagen: das Problem ist wie bei den Ostereierverstecken: meistens finden die Erwachsenen ‚ihre Eier‘ nicht wieder.. So denke ich auch, dass selbst Bankwisser oft keinen Plan mehr haben, die Kontrolleure nicht und Politik sowieso nicht! Und genau das ist viel schlimmer als das ’nicht-durchsteigen-der-breiten-Masse‘!!  (Gerade die Skandale der letzten Jahrzehnte haben das gezeigt! Die blickens nicht! Weder die Schnösel noch die Kontrolleure!)

    Aber wer auf System21 guckt sieht: das ist über all so und m.E. Absicht! Denn nur so können die Kriminellen in Nadelstreifen wo nur geht abzocken!

     

    Allerdings: um endlich wieder aus der asozialen, undemokratischen und unsolidarischen, kurz hoch kriminellen und schädlichen Ecke  ins gute Fahrwasser zu kommen MUSS sich die breite Masse informieren, denn nur so kann sie Politik, Bürokratie,Wissenschaft und Bankmanagment treiben!

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