Eine merkwürdige Geschichte
Kinder mit Eltern, die so alt sind, dass andere sie für deren Großeltern halten – in Zeiten, in denen es viele “spätberufene” Eltern gibt, weil Studium und Karriere Vorrang haben, ist dieses Szenario nicht selten. Autor Ludwig Schumann knüpft an eine solche Beobachtung an und erzählt eine “alternative Weihnachtsgeschichte”. Nicht nur Sarah, die Frau Abrahams, wurde nämlich im fortgeschrittenen Alter Mutter – auch bei den Großeltern Jesu, Anna und Joachim, dauerte es eine Weile, bis ihnen der Kinderwunsch erfüllt wurde. Von einem Engel wohlgemerkt. Besonders berührt an dieser Erzählung die Darstellung einer langjährigen, noch immer aber höchst liebevollen und treuen Ehe. Mögen Partner immer so miteinander umgehen. (Ludwig Schumann)
„Anna! Warum weinst du denn?“ Anna stampft mit dem Fuß auf. „Lass mich in Ruhe!“ Ihr Gesicht hat sie in die Wandecke gedreht. Aber ihr Schluchzen verrät, dass sie Zuwendung will. Als Beate Windsberger hinter sie tritt, ihr mit der rechten Hand sanft über den Kopf streicht und ihr dann beide Hände auf die Schulter legt, dreht sie sich um, birgt ihr Gesicht im Schoß ihrer Lehrerin und weint, als wollte sie den Klassenraum unter Wasser setzen. Dabei erschüttert das Schluchzen zwischendurch Annas Körper. Beate Windsberger spürt, wie sich der Ärger, die Wut, löst und aus den Augen gespült wird.
„Anna, meine Liebe, was ist denn passiert?“ Die Lehrerin konnte sich Annas Zustand überhaupt nicht erklären. Das Mädchen hatte heute morgen strahlend und ausgeruht das Klassenzimmer betreten. Beate Windsberger schaut auf die Uhr. Zehn Minuten haben sie noch. Dann kommen die Kinder aus der Hofpause.
„Erzählst du mir, was passiert ist?“ Anna schaut vor sich hin, schweigt. Ihre Lehrerin schweigt nun auch. „Thomas hat mich gefragt, warum mich meine Oma jeden Morgen zur Schule bringt. Ob ich überhaupt eine Mutter habe.“ Anna ist einen Moment still, ehe sie ihre Rede fortsetzt: „Wenn wir das nächste Mal über die Straße gehen, dann schubse ich den Thomas auf die Straße. Aber genau, wenn ein Auto kommt.“
„Anna, das wirst du schön bleiben lassen“, meint ihre Lehrerin. „Der Thomas weiß einfach nicht, dass deine Mama ein paar Jähre älter ist als seine. Ihr seid ja gerade erst einmal vier Wochen in der Schule. Da weiß man noch nicht soviel voneinander.“
Im Flur ist der ganz normale Wahnsinn zu hören, wenn eine Hofpause zu Ende geht. Die Klassentür wird aufgerissen. Kinder, Worte, Rufen, Schimpfen, alles purzelt durcheinander und verteilt sich auf die Plätze.
Beate Windsberger hat eine Idee. Gut, eigentlich ist sie die Deutsch- und nicht die Religionslehrerin an der Schule. „Gehören die Geschichten aus der Bibel, um den Koran, um Buddha und so weiter nicht auch in den Deutsch-Unterricht“, hat sie kürzlich, darauf angesprochen, gegengefragt. Sie erntete irritierte Blicke und peinliches Schweigen. Die Geschichte, die ihr eben in den Sinn kommt, stammt nicht aus der Bibel, vielmehr aus derem Umfeld.
„So, meine Lieben, ab jetzt habe ich das Wort und ihr hört fein zu. Du hast das auch gehört, Thomas? Ich möchte euch nämlich eine Geschichte erzählen. Und wenn einer erzählt, dann“, „hören die anderen zu“, ergänzt die Klasse den Satz ihrer Lehrerin. Er fällt, scheint es, nicht zum ersten Mal.
„Die Geschichte hat irgendwie auch mit Weihnachten zu tun. Ich habe euch von der Geburt des Jesuskindes schon erzählt.“ „Ja“, ruft Henry dazwischen, „und mein Vater hat gesagt, Sie sollen uns nicht solch einen Unsinn erzählen, der nicht wahr ist. Das ist verlorene Zeit.“ „Aha“, sagt die Windsberger, „Henry, was ist das denn, diese verlorene Zeit?“ „Das weiß ich nicht. Das hat mein Vater gesagt, und der muss das wissen.“ „In jeder Geschichte steckt eine Wahrheit“, sagt die Lehrerin, „das ist für jeden Menschen eine andere, insofern machen uns Geschichten immer reicher, weil jeder ein Stück dieser Wahrheit finden kann. Vorher aber muss man zuhören.
Also spannt die Ohren auf und fliegt durch die Zeit, etwa 2000 Jahre zurück. Im Morgenland, fernab von uns“, „wir wohnen im Abendland“, unterbricht Henry. „Im christlichen Abendland.“ „Naja“, meint Beate Windsberger, „wenn dem so ist, dann hör mal schön zu.“ Sie schmunzelt. „Die Dämmerung verwandelte die drückende Hitze des Tages in eine angenehme Wärme. Anna und Joachim ruhten auf dem Dach ihres Hauses, um den leichten Wind zu spüren, der an den Abenden manchmal durch die Judäischen Berge wehte. „Mir macht die Hitze allmählich zu schaffen“, sagte Anna. „Wir werden nicht jünger.“ Joachim antwortete nicht, nickte aber. „Joachim, mein Mann, den ich liebe, ich habe eine Frage, die mich länger schon bewegt.“ Joachim goss heißes Wasser auf die Minze. Er schaute überrascht auf seine Frau: „Sprich“, sagte er. Anna fasste sich ein Herz. Es fiel ihr nicht leicht, davon zu sprechen. „Joachim, mein lieber Mann, wir sind nun mehr als zwanzig Jahre beieinander. Wie ist es dir in dieser Zeit mit mir ergangen?“ Joachim setzte sich zu ihr. Es war seinem Gesicht anzusehen, dass er diese Frage nicht erwartet hatte. „Ich dachte, Du bist dabei gewesen“, brummte er schließlich. Er schien ungehalten. „Ich wollte dich mit dieser Frage nicht ärgern. Ich weiß, wie es mir ergangen ist. Ich liebe es, wenn Du nach Hause kommst. Ich freue mich, wenn ich ein Lächeln auf deinem Gesicht sehe. Ich bin beruhigt, wenn ich nachts die Geräusche deines Schlafes höre. Und ich bin froh, dass du bis heute nicht vergessen hast, mich zu berühren, obgleich meine Frühlingsjahre längst den Jordan hinuntergeschwommen sind.“ Joachim schüttelt den Kopf: „Weib, was treibt dich um? Ich komme nicht dahinter.“
Anna schaut leise vor sich hin. Nein, Jerusalem ist in der Nacht nicht leise. Ringsherum auf den Dächern brodelt das Leben. Verschiedentlich haben sich Nachbarn miteinander verabredet und feiern. „Leise ist es in Jerusalem nur, wenn die Pest in der Stadt grassiert oder der Feind vor den Toren steht“, hat Joachim mal einem Durchreisenden aus Babylon erklärt.
„Joachim, ich habe dir keinen Nachkommen schenken können, weder Sohn noch Tochter. Du bist trotzdem bei mir geblieben. Warum?“
„Ach, daher weht der Wind“, Joachim scheint erleichtert. Bei der Frage fühlt er sich auf sicherem Boden. „Meine Anna, wenn du mehr nicht wissen willst, dann ist die Frage schnell beantwortet: Es wird wohl so sein, weil ich mich bei dir geborgen und zu Hause fühle. Es gibt keine andere Frau, bei der ich auch nur die Vorstellung haben könnte, mir ihr statt mit dir leben zu wollen. Sicher habe auch ich bei einer jungen, schönen Frau manchmal den Gedanken, wie es wäre, auf diesem jungen Täubchen eine Wegstrecke zu fliegen und ihr das Gefieder ordentlich durcheinanderzubringen. Aber spätestens, wenn ich mir die Frage stelle, mit wem ich denn am anderen Morgen wieder aufwachen möchte, Anna, dann möchte ich da kein anderes Gesicht als das deine sehen. Diese warmen und klugen Augen, die manchmal prüfend auf mir ruhen. Ja, denk dir nur, ich merke das durchaus. Dein Lachen aus dem Inneren des Hauses. Glaub mir, es gäbe so viel aufzuzählen, dass ich nicht missen möchte. Wobei du recht hast, es ist mir an manchen Tagen bitter, dass ich niemanden habe, dem ich all das, was wir uns geschaffen haben, weitergeben kann, dem ich die Kunstfertigkeiten meines Berufes lehren dürfte. Früher haben wir oft den Herrn um seinen Segen und um ein Kind für uns gebeten. Aber nun sind wir über die Zeit. Obwohl, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich.“
„Was, mein Lieber, ist unwahrscheinlich?“
„Ich wollte eigentlich nicht darüber sprechen, Anna. Aber wenn du darauf bestehst: Ich hatte kürzlich in der Judäischen Wüste eine Erscheinung. Während ich lief und der Durst unsäglich wurde, weil mein Wasserbeutel durch eine Unachtsamkeit ausgelaufen war, stand plötzlich ein Engel vor mir. Er sah aus wie jeder andere Mensch auch. Er sprach mich an: ‚Gott’, sagte er, ‚wird Euch ein Kind schenken.’ Dann verschwand er. Ich hatte gerade an diesen, meinen Wunsch, gedacht. Deshalb hielt ich ihn für ein Trugbild, das mir der Durst vorgaukelte. Ich wollte nach Hause, bevor ich in der Trockenheit meine Seele aushauchte.“
„Joachim, am selben Tage überraschte mich dieser Engel in der Küche, als ich das Huhn auf den Herd schob. Er sagte Ähnliches. Ich war nur sprachlos, weil da plötzlich dieser fremde Herr in der Küche stand und ich betete, dass jetzt um Gotteswillen nicht mein Nachbar bei uns nach dem Rechten sehen will. Wie hätte ich den fremden Herrn erklären sollen? Ich war völlig von den Socken. Deshalb habe ich dir auch nicht davon erzählt.“
Die beiden lehnen sich im Sitzen aneinander. Es ist einer dieser Abende, das weiß sie, an denen sie beieinander liegen werden. Sie wird seine Wärme spüren, seine Behutsamkeit und er wird ihre Ermunterung brauchen: „Joachim, ich bin kein Lamm. Ich will Deine Kraft spüren.“
Der Engel hatte recht. Maria nannten sie ihr Gottesgeschenk. „Joachim, andere Leute in unserem Alter sind Großeltern. Wir sind grau und haben für ein Kleinkind zu sorgen. Die Leute werden über uns lachen.“ Joachim zeigte ihr einen Vogel: „Manch einer wird uns beneiden, meine Anna.“ „Dein Wort in Gottes Ohr. Ich habe eher Angst davor, mich mit dem Kind zu zeigen.“ Nun war Joachim aber ernsthaft böse: „Dich hat wohl der Gottseibeiuns. Jahrzehnte dauerte es, bevor wir dieses Licht unseres Alters bei uns haben durften und du jammerst, als hätte man dir das Haus abgebrannt.“
In der Tempelschule gab es etliche, die Maria hänselten, weil sie so alte Eltern hatte. „Mein Vater“, sagte sie, „erzählt, dass ihn Gott mit mir ausgezeichnet hat. Er sagt, ich bin sein Gottesgeschenk. Meine Mutter bestätigt das. Wisst ihr, es ist schön, wenn sie das erzählt, weil dann ihre Augen leuchten. Das macht sie jung, nein, das macht beide jung und es macht sie beide auf eine geheimnisvolle Weise sehr schön. Und ich bin der Grund dafür. Ätsch, ihr Blöden!“
„Frau Windsberger, ist das die Maria, welche die Mutter von dem Jesus ist?“ „So ein Quatsch“, redet Henry in die erwartungsvolle Stille, „wie soll jemand die Mutter von jemand sein, den es nicht gab.“ „Ach Henry“, meint seine Lehrerin, „das ist doch überhaupt nicht wichtig. Es ist eine wunderschöne Geschichte. Du kannst doch Weihnachten nicht nur wegen der Kerzen am Baum feiern.“ Anna sitzt nachdenklich auf ihrem Platz.
Drei Tage später klopft es an der Tür des Klassenzimmers.
„Es ist Unterricht“, ruft Beate Windsberger in Richtung Tür. Die Tür wird trotzdem geöffnet. Ein Herr im Nadelstreifenanzug mit Notenkrawatte betritt den Raum, übergibt ihr einen Brief. „Den müssen Sie quittieren. Sofort“, verlangt er. Die Windsberger ist verwirrt über die Frechheit des Eindringlings. „Sie quittieren lediglich den Erhalt des Schreibens“, setzt er hinzu.
„Sie wurden von Herrn Fixeder beim Schulamt angezeigt, dass sie statt ihren Unterricht der Vorschrift nach zu geben den Kindern unrealistische Geschichten erzählen. Als das Schulamt nicht reagierte, hat er mich mit der Klage beauftragt. Die können Sie in meinem Schreiben nachlesen. Das ist ja unglaublich, was mir der Herr Fixeder erzählt hat, was er von seinem Sohn Henry erfahren musste. Unglaublich. Wir sehen uns vor Gericht wieder, meine Dame.“