Eröffnung der Zukunft – Die Geschichtstheorie von Marx

 In FEATURED, Philosophie, Politik

Grafik: Benedikt Haid

Vielleicht sollte Marx eher als ein wissenschaftlicher Revolutionär begriffen werden, dem es gelang, die Notwendigkeit der Herausbildung eines weltbürgerlichen Bewusstseins zu erkennen. Er vertrat dabei einen höchst anspruchsvollen Begriff von Freiheit, der hochaktuell ist und nicht hinter dem Nebel eines Ego-Individualismus verborgen bleiben sollte. (3. Teil der Serie über Karl Marx, Erstveröffentlichung auf www.skug.at, Autor Friedrich Tomberg)

Meine Absicht ist, lediglich in einem größeren Kontext auf Marxens neue Methode hinzuweisen, dass er keineswegs nur dialektisch weitergedacht hat, sondern Dialektik in die Vorgehensweise der klassischen empirischen Naturwissenschaft hineingezogen hat und damit schon an der zweiten wissenschaftlichen Revolution beteiligt ist, die sich zurzeit vollzieht. Diese zweite wissenschaftliche Revolution kommt der bekannten ersten, die sich in und nach der Renaissance vollzog, zumindest gleich. Auch hier wieder handelt es sich um eine Revolution der Denkungsart und damit um einen die gesellschaftlichen Sphären durchziehenden Prozess des Übergangs zu einer anderen Gesellschaftsformation, die nun aber zum ersten Mal eine die ganze Menschheit umfassende sein wird. Sie ist in der den Kapitalismus noch einmal festigenden, im Prozess der Zivilisation an sich unerlässlichen Globalisierung zugleich schon zu einem tragenden Fundament gelangt, zu jenem Element des Neuen, das, wie Marx sich ausdrückt, im Schoße des Alten schon sich formiert hat und damit zu einer der wesentlichen Voraussetzungen für eine Überwindung des Kapitalismus gelangt ist (vgl. »MEW Marx-Engels-Werke«– 13, S. 8f).

Der objektive Prozess der »sozialen Revolution« ist nicht gescheitert. Keineswegs ist Marx also als Revolutionär gescheitert. Das scheint nur so, wenn man seine Hoffnungen, die er auf das revolutionäre Proletariat gesetzt hat, für seine Theorie nimmt, die sich im »Kapital« findet. Die »Kritik der politischen Ökonomie« ist aber nicht die Theorie von Marx, sondern deren Anwendung. Ihr Abriss findet sich im Vorwort zu jener Schrift zur politischen Ökonomie, die in »MEW« 13 abgedruckt ist. Da ist noch nicht einmal von Klassenkampf die Rede, auch nicht von einer revolutionären Partei, sondern es werden die Konstituentien jener geschichtlichen Evolution herausgearbeitet, die in Europa herrschende Klassen möglich gemacht haben, wie auch deren Beseitigung durch untere Klassen, die dann zur Herrschaft aufstiegen. Und das lange Zeit ohne eine Partei und mehr oder weniger revolutionäre Zielsetzungen. Wie das möglich ist, das hat Marx später durch die Forschungen von Darwin bestätigt gefunden. In seiner Zeit fand er aber eine Kraft vor, die imstande schien, den lang sich hinziehenden Umwandlungsprozess durch einen Donnerschlag abkürzen zu können. Der Kampf der Arbeiterklasse hat in Europa zu wichtigen Voraussetzungen für Sozialismus oder Kommunismus geführt, zu seinem Revolutionsziel ist er aber eben doch nicht gelangt.

Der fundamentale Gegensatz zwischen Herrschenden und Unterdrückten besteht immer noch, das revolutionäre internationale, aber jeweils national agierende Proletariat gibt es nicht mehr und wird es nie mehr geben. Der Gegensatz ist heute global und kann nur global ausgetragen werden. Allgemein wird er gesehen in der Spaltung von Supereichen hier und einem Milliardenheer von Armen dort. Aber man soll sich nichts vormachen: Von den in den einstigen Ländern der Dritten Welt Schmachtenden aus sind wir im Westen die Reichen. Bei uns gehören in dieser Sicht sogar unsere Ärmsten zur herrschenden Klasse innerhalb des Weltganzen. Weltrevolution wäre heute eine antiwestliche. Aber Revolution, wie man sie sich früher dachte, ist im Atomzeitalter ebenfalls ausgeschlossen. Niemand kann sie mehr machen. Und doch ist sie auf andere Weise als objektiver Prozess, als »soziale Revolution«, wie Marx das im Vorwort nennt, im Gange.

Ein weltbürgerliches Bewusstsein

In Europa allerdings wird über die damit sich formierende Zukunft fast von der gesamten Politik und vorherrschend, wenn auch nicht ausschließlich, in den Medien ein giftiger Nebel ausgesprüht. Die liberale Politik in Europa sucht das Bewusstsein der Menschen auf einen jämmerlichen Ego-Individualismus zu reduzieren. Es ist schon viel, wenn es noch gelingt, den Blick auf ein gemeinsames Europa zu lenken. Das Weltganze, wenn es überhaupt zur Sprache gebracht wird, kommt bestenfalls als die Formierung von Großräumen in den Blick, unter denen das einst weltbeherrschende, auf dem Globus als winzig erscheinende Europa mindestens einen ebenbürtigen Platz im Mächtespiel beansprucht. Das ist eine Selbstblendung, mit der die Europäer mehr und mehr gegen die Wand laufen.

Einziger Ausweg: Durchstoß durch die Nebelwand hin auf eine sich bildende Weltgesellschaft, der es gelingen muss, die Menschheit zu einem einzigen vernunftfähigen Subjekt sich zu gestalten. Das allerding geschieht nicht in dem notwendigen Gang der Geschichte, den es nach wie vor gibt, sondern nur mit der Herausbildung eines Weltbürgerbewusstseins und dem ihm zugehörigen Gemeinsinn und einer geförderten gemeinsamen Praxis. Darauf bezogen gilt nach wie vor die Erkenntnis von Marx: Es bedarf einer tätigen Einwirkung auf den sich vollziehenden Prozess, die nur möglich ist mittels unverfälschter Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Wissenschaft wie durch die Herausbildung wirklichkeitsempfindlicher Sinne im Medium der Kunst.

Ein tieferes Marxverständnis

Die proletarische Revolution, zu deren Förderung Marx seine Kapitalanalyse betrieben hat, ist, von ihrer Zielstellung her gesehen, gescheitert. Über diese Praxis hinaus hat die auf die Geschichte sich berufende politische Theorie, die Marx zugeschrieben wird, ihre wissenschaftliche Legitimation verloren. Was soll uns da noch Marx? Gar nichts, falls es uns nicht gelingt, seine Theorie besser zu verstehen als er selbst. Wir müssen, gewissenmaßen auf seinen Schultern sitzend, angesichts einer fortgeschrittenen Realität versuchen, in höhere Sphären hineinzugreifen, indem wir uns zugleich tiefer in die Theorie versenken.

Das übliche Verständnis geht etwa so: Marx verstand sich als Hegelschüler, übernahm seine dialektische Methode, stülpte sie aber vom idealistischen Kopf auf materialistische Füße, stellte der Hegelschen Dialektik also nicht eine eigene entgegen, sondern hielt weiterhin oder sogar noch mehr am Muster der zeitgenössischen Naturwissenschaft fest, die seit ihrer Begründung durch Galilei und Newton als die Wissenschaft par excellence galt. Diese bewusst empirische Wissenschaft zeichnete, um es in einem Satz zu sagen, aus, dass sie entgegen der mittelalterlichen Theologie an die Stelle von Gott eine Natur von ebensolcher Absolutheit setzte, indem an die Stelle der göttlichen Allmacht eine ebenso unerbittliche Determination trat, die in der kosmologischen Gesamtsicht als eine allumfassende Gravitation sich äußerte. Bei Hegel entsprach dem ein geschichtlicher Prozess, der sein Ende in einer Verwirklichung haben sollte, die man als ein Gegenstück zum theologisch dargebotenen Himmel auffassen konnte. Der Marxismus der II. Internationale hat bekanntlich den Lauf der Geschichte analog als einen Determinismus verstanden, der in Kürze den Kommunismus, bewirkt allerdings durch politischen Kampf, als sein Ende erreichen würde. Marxisten haben sich von dieser Sicht möglichst zu distanzieren gesucht, aber dass wir auf einem wissenschaftlich belegbaren Weg zum Sozialismus oder Kommunismus uns befinden, das nimmt ihnen kaum einer noch ab und glauben die Nachfahren der II. Internationale in der Regel auch nicht. Und also auch hier: Marx passé?

Auf dem Weg in ein Reich der Freiheit

Merkwürdig aber ist, dass Marx den Kommunismus nicht als ein dialektisches Ende, sondern als die jetzt stattfindende Bewegung definierte und dass die Beschreibung des angestrebten Ziels, wie es am überzeugendsten in einer kurzen Notiz fast beiläufig im dritten Band von »Das Kapital« gegeben wird, den Ausdruck Kommunismus gar nicht verwendet. Sondern die Rede ist da von einem Reich der Freiheit, auf das hin wir auf gutem Wege seien. Verwirrend ist da, dass von Freiheit in einem doppelten Sinne die Rede ist: Die höhere Freiheit, wenn wir sie einmal so nennen wollen, wäre zu verstehen als »menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck dient« oder anders ausgedrückt: als Ermöglichung einer Verwirklichung der menschlichen Natur in all ihrer Vielfalt. Das ist aber gar nicht denkbar ohne gleichzeitiges Wirken des »vergesellschafteten Menschen« in der das Leben überhaupt nur möglich machenden materiellen Produktion. Hier ist auch eine Art fundierende Freiheit möglich, die in einer gemeinschaftlichen rationalen Regelung der notwendigen Arbeit besteht. Als Grundbedingung für all dies nennt Marx die »Verkürzung des Arbeitstages«.

Es wäre auszuführen, dass unsere Zivilisation in der Tat auf dem Wege dorthin ist, freilich innerhalb des alten Produktionsverhältnisses, des Kapitalismus, der in der Tat sein höchstes und letztes Stadium erreicht hat und immer dysfunktionaler wird, aber auch bei Entwicklung der Elemente des Neuen, mit der eine Sprengkraft sich aufbaut, die sich in dem Maße auswirken wird, wie sie von Menschen vernünftig eingesetzt wird. Der einst erhoffte revolutionäre totale Umschlag wird sich darunter nicht befinden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre das Roboterphänomen zu beurteilen, wie auch die zunehmende Vernetzung in einer werdenden Weltgesellschaft und dergleichen mehr.

Das Ausbrüten einer neuen, weltumspannenden Gesellschaftsformation

Vorläufiges Resümee: Aus dem »Kapital« (gerade auch aus Band III) lassen sich bedeutende Partien herausziehen, die unter unseren neuen Verhältnissen ganz aktuell sind. Aber ohne die im Vorwort von »MEW« 13 umrissene ganze Theorie, die Marx selbst als eine Geschichtstheorie bezeichnet, ist keine wissenschaftlich haltbare Sicht in eine Zukunft zu gewinnen, die den Blick freigibt auf Wege, die aus dem raubkapitalistischen Desaster herauszuführen vermögen. Alles in allem könnte sich daraus etwa die folgende Aussage ergeben: Die Selbstzerstörung unserer Zivilisation lässt sich längerfristig, aber jetzt schon beginnend, nur durch eine zu einem gemeinschaftlich handelnden Subjekt vereinigte Menschheit aufhalten und durch eine aufbauende Tätigkeit ersetzen. Die ist objektiv schon auf dem Wege zu der von Marx besagten Konsequenz, von der nicht gesagt werden kann, ob und wann sie sich insgesamt verwirklicht. Für uns heute reicht es schon, wenn wir in globalem Zusammenwirken die eine, sozusagen niedere Freiheit zu erreichen suchen, indem wir uns unter den ebenfalls in Band III formulierten Grundsatz stellen, dass die Menschen nicht Eigentümer der Erde sind. Sondern sie sind, so heißt es wörtlich, »nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen« (S. 784).

Noch einen Satz aus Marxens »Leitfaden« für, wie er betonte, alle seine Studien, den ich für den heute wichtigsten halte und den ich daher kommentieren will: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind« (S. 9), was für uns – und zwar in Erweiterung – heißt: nicht revolutionieren, sondern ausbrüten, und zwar in allen Dimensionen, der ökonomischen, wissenschaftlichen und nicht zuletzt: der der Kunst.

Marx passé? Nein, er war noch nie so aktuell, und zwar weit mehr, als man bisher gemeinhin begriffen hat.

Dieser Beitrag ist ebenso wie jene von Helmut Dahmer und Reinhold Sturm Teil der Veranstaltung »marx200.0«, die in der Galerie MAG³ am Vorabend und Abend von Marx’ 200. Geburtstag, also am 4.Mai und 5. Mai 2018, stattfinden wird. Neben den Vorträgen der Autoren werden die Schauspielerin Gabriela Schmoll und der Medienwissenschaftler Chris Zintzen bedeutende Texte des Jubilars verlesen.

Link: https://www.nammkhah.at/Mag3/

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