Erst wer wirklich hier ist, kann sich entfalten

 In Spiritualität
Alles nur Schattenboxen?

Alles nur Schattenboxen?

“Innerlichkeit” ist ja unter vielen politischen Kämpfern verpönt. Aber kann Arbeit im Außen sinnvoll geleistet werden, wenn wir die Arbeit in Inneren verweigern? Wohin gehen wir (auch politsch), wenn wir nicht einmal bei uns selbst angekommen sind? Und wer setzt sich eigenlich für Gerechtigkeit und Umweltschutz ein, wenn der Aktivist nicht einmal weiß, wer er ist? Andererseits führen auch spirituelle Wege oft hierhin und dorthin, streben hochtrabende Ziele wie Erleuchtung an, ohne dass der Suchende zuerst in der Realität angekommen wäre. (Wolf Schneider)

Unter Coaches und Beratern heißt es: Du muss einen Menschen dort abholen, wo er ist! Stimmt. Aber sind Berater und Beratener selbst schon dort, so dass der eine den anderen abholen kann? Dazu fällt mir die Geschichte von den beiden Männern ein, die über einen See rudern, und ausgerechnet der Nichtschwimmer der beiden fällt ins Wasser. »Hilfe, Hilfe!«, ruft er. Sein Freund greift nach ihm, bekommt aber nur seine Jacke zu fassen. »Hilfe, Hilfe!« Wieder packt sein Freund zu; diesmal bekommt er ihn an den Haaren zu fassen, aber die erweisen sich als Perücke. »Hilfe, Hilfe!« Ein drittes Mal greift er nach dem Ertrinkenden, aber diesmal hat er eine Armprothese in der Hand, und erwidert: »Wenn du willst, dass ich dir helfe, muss du mir schon was Echtes von dir geben!«

Orientierungskrisen
Wir müssen erst einmal da ankommen, wo wir wirklich sind, sonst kann uns niemand helfen, vor allem wir selbst uns nicht. Wir müssen in der Realität landen, im richtigen Leben. Wir müssen aufwachen aus dem Schlummer all der Illusionen, die wir über die Welt und uns selbst haben. Manchen passiert das in einer Orientierungskrise wie der Midlife-Crisis, manchen nie. Auch wer dabei nicht gleich nach der Erleuchtung greifen will, dem Olymp menschlicher Entwicklung, der Erledigung aller Illusionen über die Welt und sich selbst – das Anbohren der eigenen Lebenslüge wäre schon mal ein guter Anfang.

Weltkultur in Trance
Das gilt übrigens auch für unsere Weltkultur als Ganzes, die gerade darauf aus ist, ihre endlichen Ressourcen zu verbrauchen und den Biotop zu vernichten, der sie trägt. Sie ist noch nicht bei sich angekommen, in der Realität. Sie ist wie ein Heroin-Süchtiger, der glaubt, er könne sich den Stoff ewig weiter spritzen. Es ging doch bisher alles gut, wir sind doch noch jedes Mal wieder high geworden mit unserem gewohnten Ressourcenverbrauch.
Ein Ankommen bei sich selbst würde bedeuten, die Biodiversität zu schützen, ebenso die Urwälder und die Meere, und in naher Zukunft nur noch erneuerbare Energien zu verbrauchen. Außerdem die Weltbevölkerung nicht mehr anwachsen zu lassen und innerhalb des globalen Dorfs die Ressourcen besser zu verteilen. Sonst werden die Gleichgewichte kippen, die uns am Leben erhalten, und schon vorher, wenn wir auf diesen Punkt zusteuern, werden Verteilungskämpfe es auch für uns, die wir noch in einem privilegierten Teil der Welt leben, sehr ungemütlich machen.

Schattenkämpfe
Deshalb ist es so wichtig, dass immer mehr Menschen bei sich selbst ankommen, und dass sie dieses Aufwachen oder Ankommen im traumfreien, illusionslosen Zustand gegenwärtiger Präsenz nicht mit Visionslosigkeit verwechseln. Es ist sogar so, dass wir erst dann imstande sind, realisierbare Visionen zu verwirklichen, wenn wir bei uns selbst angekommen sind und einander nicht mehr bei Schattenkämpfen mit unserer Umgebung aufreiben. Es ist ja nicht nur jeder private Konflikt eine Arena, wo nach außen projizierte innere Dämonen gegeneinander antreten, sondern das gilt auch für alle politischen Konflikte. Da werden Feinbilder projiziert, Minderheiten verfolgt und irrationale Ängste geschürt, weil die Akteure noch nicht bei sich selbst angekommen sind.

Erst landen, dann jubeln
Dort anzukommen, wo wir eigentlich schon sind, kann eine lange Reise sein. Die Zeitschrift connection hat es sich zur Angewohnheit gemacht, auf die Beschönigung dieser Reise zu verzichten. Wellness-Spiritualität gewohnte Leser mag das überraschen. Wir meinen jedoch, dass Lebensfreude und Gesundheit sich erst dann nachhaltig gut entwickeln, wenn man auf Illusionen verzichtet und erstmal bei sich selbst ankommt.
Nach den geplatzten Träumen, auf dem Boden der Tatsachen und der bewusst gestalteten Fiktionen kann sich das Leben so richtig gut entfalten und genossen werden. Deshalb empfehle ich: erst landen, dann jubeln!

Wolf Schneider, Jg. 1952. Autor, Redakteur, Kursleiter. Studium der Naturwissenschaften und Philosophie (1971–75) in München. 1975-77 in Asien. 1985 Gründung der Zeitschrift connection. Seit 2007 Theaterspiel & Kabarett. Kontakt: schneider@connection.de
ARTIKEL aus connection7-8/2015 mit dem Schwerpunktthema: Ankommen im richtigen Leben

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen