„Es ist unmöglich, auf null zu kommen“

 In Gesundheit/Psyche, Politik (Ausland)

Interview Der Epidemiologe Anders Tegnell über Schwedens Sonderweg, Fehler bei der Pandemiebekämpfung und Hassmails. Machen die Schweden alles richtig? Oder alles falsch? Jedenfalls machen sie alles anders als die anderen. Verantwortlich für die umstrittene Corona-Bekämpfung ist Anders Tegnell.

 

Der Freitag: Herr Tegnell, in Schweden gab es zuletzt mehr als 6.000 Neuinfektionen täglich und zehn bis 20 Todesfälle. Sind Sie besorgt?

Anders Tegnell: Wir wollen die Zahl der Neuinfektionen auf jeden Fall senken. Es ist unmöglich, auf null zu kommen – außer vielleicht an Orten wie Neuseeland und Island. Die Belastung des schwedischen Gesundheitssystems ließ in den vergangenen Monaten stark nach. Aber wir sind auf einem Level, wo selbst kleine Abweichungen im Verhalten der Menschen die Fallzahlen schnell erhöhen können. Deshalb müssen wir mit den Zahlen nach unten.

Schweden hat einen umstrittenen Sonderweg gewählt. Schulen waren nie geschlossen, es gab keine Ausgangsbeschränkungen. Im Januar beschloss der Reichstag ein Gesetz, das mehr Restriktionen ermöglicht. Planen Sie jetzt doch einen Lockdown?

In gewisser Weise hatten wir immer eine Art Lockdown, wenn auch einen virtuellen. Die Schweden haben ihr Leben und ihr Verhalten sehr stark geändert. Das wurde im Ausland oft nicht registriert. Die Statistiken zeigen, dass etwa Reisen genauso stark zurückgingen wie in unseren Nachbarländern – zwischendurch sogar stärker. Sehr viele Schweden arbeiten zu Hause, in Restaurants gilt ein strenges Reglement …

… die Restaurants sind offen.

Ja, und unser regionales Contact Tracing fand nur sehr selten Infektionen, die auf Restaurantbesuche zurückgingen. Es ist uns offensichtlich gelungen, das Risiko in der Gastronomie stark zu senken. Man wird es nie auf null bringen, null Risiko ist bei dieser Krankheit nicht möglich. Wenn man Restaurants schließt, treffen sich die Menschen woanders. Viele Länder haben genau diese Erfahrungen gemacht: Die Restaurants wurden geschlossen, und die Infektionszahlen blieben trotzdem hoch.

Wird Schweden jetzt doch anfangen, Aktivitäten zu verbieten und öffentliche Orte zu sperren?

Das hängt von der Entwicklung ab. Zunächst werden wir die Leute wieder mehr darauf aufmerksam machen, dass sie den Empfehlungen folgen sollen. Ich halte es für gut, dass es ein Gesetz gibt, das präzise Einschränkungen erlaubt. Wir wollen nicht alles zusperren. Aber jetzt haben wir die Möglichkeit, Einkaufszentren, große Fitnesscenter oder andere Plätze zu schließen, wenn wir den Verdacht haben, dass es dort vermehrt zu Ansteckungen kommt. Wenn sich die Betreiber nicht an die Regeln halten, kann die Regierung diese Unternehmen schließen.

Warum jetzt?

Weil wir bisher immer gesehen haben, dass die Empfehlungen gut funktionierten. Im Dezember sanken die Zahlen schnell. Wenn sie jetzt trotz der Maßnahmensteigen, müssen wir mehr tun.

Angeblich stehen Sie persönlich unter Polizeischutz.

Das hängt davon ab, was Sie unter Polizeischutz verstehen. Die Polizei wurde über Drohungen gegen mich und ein paar andere Leute informiert. Wir halten sie auf dem Laufenden über das, was um uns herum passiert. Aber es ist nicht so, dass ich rund um die Uhr bewacht werde.

Lange stand eine große Mehrheit der Schweden hinter Ihrem Corona-Management. Ist die Stimmung jetzt explosiver?

Nicht wirklich. Ich würde sagen, es war im Frühling viel schlimmer. Es gibt einen Grund, warum die Medien jetzt verstärkt darüber berichten: Ein Forscher, der viel für uns machte, hat die Arbeit eingestellt, weil er so viele Drohungen und Hassmails bekam. Daraufhin meldeten sich andere Leute mit ähnlichen Erfahrungen. Wir haben dann die Polizei informiert. Aber im Vergleich zum Frühling sind die Drohungen weniger geworden.

Lassen sich die Mutationen, die derzeit grassieren, stoppen?

Das glaube ich nicht. Man kann diese Mutationen nicht stoppen, man kann höchstens die Ausbreitung ein wenig verlangsamen. Manchmal erledigt sich das Problem von selbst: Es gab eine norwegische Variante, die einfach wieder verschwand, das Gleiche passierte mit einer dänischen Variante. Die britische Mutation scheint sehr fit zu sein. Sie wird sich nicht mehr aufhalten lassen und wohl bald in ganz Europa dominieren. Über die südafrikanische Variante wissen wir noch wenig. Im Moment würde ich eher darauf setzen, dass die britische Variante gewinnt.

Erstaunlich ist ja, dass die Zahlen in Südafrika extrem gefallen sind, und zwar ohne strikten Lockdown. Könnte man daraus den Schluss ziehen, dass diese Mutation weniger gefährlich ist?

Das ist ein wichtiger Hinweis. Wir haben die gleiche Entwicklung in Großbritannien und Irland gesehen, auch in Dänemark, wo die britische Mutation stark ist. Überall sanken die Fallzahlen.

In diesen Ländern gab es allerdings teils massive Einschränkungen für die Bevölkerung.

Ja, aber Lockdowns gab es dort auch schon vorher. Und der Lockdown jetzt hatte den gleichen Effekt wie vor dem Auftreten der Mutationen. Das heißt, offenbar wirken dieselben Maßnahmen gegen die Varianten wie gegen das ursprüngliche Virus. Wirklich wichtig ist nur die Frage, ob eine Mutation auf die Impfung reagiert oder nicht. Ich bin nicht sicher, dass die Mutationen wirklich so viel ansteckender sind.

Sind wir zu hysterisch?

Vielleicht. Wir müssen dieses Virus bekämpfen, das ist keine Frage. Besonders jetzt, wo es Impfungen gibt, mit denen wir einen großen Teil der Menschen schützen können. Aber die Mutationen halte ich nicht für die entscheidende Frage.

Schon im Mai haben Sie von einer beginnenden Herdenimmunität gesprochen. Ein paar Monate später kam eine starke zweite Welle. Warum lagen Sie falsch?

Ich glaube, die meisten waren überrascht über das, was im Herbst passierte. Nicht darüber, dass es wieder losging, aber über die Wucht, mit der das geschah. Es war für mich auch eine Überraschung, dass es offenbar so lange dauert, bis sich in der Bevölkerung eine gewisse Immunität aufbaut.

Schweden ist es nicht gelungen, die Bewohner von Pflegeheimen vor Ansteckungen zu schützen. Tausende sind gestorben. Was ist falsch gelaufen?

Es ist offensichtlich sehr schwer, dieses Virus von solchen Institutionen fernzuhalten. Das gelang auch nicht in Ländern, die in den Heimen bessere Hygienekonzepte hatten als wir zu Beginn der Pandemie. Wir wissen, dass diese Heime in Schweden schon vor Covid eine Reihe von Problemen hatten. Leider konnten wir sie nicht rechtzeitig beheben.

Was würden Sie in den Heimen heute anders machen?

Wir hätten viel strikter testen müssen. Und vor allem zu Beginn hätten wir mehr kommunizieren müssen. Viele Heime haben zu langsam realisiert, was los war. Wir hätten das Personal auf Hygienemaßnahmen aufmerksam machen müssen, die Leute trainieren. Das hätte nicht alle Probleme verhindert, aber viele.

Wenn alles zu ist, dann erfährt man nicht, wo sich die Leute unter normalen Umständen angesteckt hätten – wo also das Risiko am größten ist. In Schweden war fast alles offen. Wissen Sie, wo sich die Menschen hauptsächlich anstecken?

Bis zu einem gewissen Grad wissen wir das. Es sind zwei wesentliche Bereiche: der Arbeitsplatz und private Zusammenkünfte beziehungsweise die eigene Familie.

Welche Arten von Jobs sind am meisten betroffen?

Jede Art von Arbeitsplatz. Wir haben uns das genau angesehen und festgestellt, dass die Unterschiede zwischen einzelnen Branchen sehr klein sind. Ganz anders ist es nur bei Jobs, die man von zu Hause aus erledigen kann.

Wie sieht es an den Schulen aus?

Es gibt ein Infektionsgeschehen in Schulen, aber es geht hauptsächlich von den Lehrern aus, nicht von den Kindern. Allerdings sind auch Lehrer nicht häufiger betroffen als andere Berufsgruppen.

In Schweden herrscht nach wie vor keine Maskenpflicht. Es gibt nur die Empfehlung, in öffentlichen Verkehrsmitteln einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Glauben Sie immer noch, dass Masken sinnlos sind?

Nein, Masken können in bestimmten Situationen an bestimmten Orten extrem sinnvoll sein, wenn sie richtig eingesetzt werden. In Pflegeheimen und Krankenhäusern sind Masken zweifellos wichtig. Ich glaube nur nicht, dass Masken überall die Lösung sind. Es gibt viele Länder mit strikter Maskenpflicht, die trotzdem sehr hohe Infektionszahlen haben. Andere Maßnahmen sind wichtiger. Wir haben es in Schweden lange geschafft, die Verbreitung zu limitieren, indem wir die Menschen aufgerufen haben, Distanz zu halten. Erst jetzt sehen wir vermehrt, dass die Ratschläge nicht mehr so eingehalten werden.

Nach einem Jahr Pandemie haben es die Menschen einfach satt.

Ja, aber man kann auch die Masken satthaben. Wir hören Geschichten über das Maskentragen aus anderen Ländern, die nicht sehr ermutigend sind. Die Leute verwenden die Masken nicht richtig und tragen sie nicht so, wie sie sollten.

Wenn wir in ein paar Jahren zurückblicken: Werden wir feststellen, dass diese Pandemie ihren eigenen Rhythmus hatte und es oft nicht an den getroffenen Maßnahmen lag, ob ein Land schwer getroffen wurde oder etwas weniger schwer?

Es zeigt sich schon jetzt, dass zwischen politischen Maßnahmen und Infektionszahlen nicht immer eine Korrelation besteht. Manche Maßnahmen wirken, das ist klar. Es waren nicht alle sinnlos. Aber das Ergebnis hängt auch von vielen anderen Dingen ab: von der lokalen Lebensart, vom Wetter, von der Bereitschaft der Menschen, mitzumachen. Es wird auch im Rückblick schwer festzustellen sein, was am meisten gebracht hat.

Überall sehnen sich die Menschen nach ihrem alten Leben. Was sagen Sie den Schweden?

Wir sagen den Leuten, dass der Frühling noch schwierig wird und wir vielleicht mehr Maßnahmen setzen müssen, als wir das bisher getan haben. Wir hoffen, dass bis zum Sommer ein substanzieller Teil der Bürger geimpft sein wird. Außerdem wissen wir vom vergangenen Jahr, dass man im Sommer mit weniger Einschränkungen auskommen kann. Bis Herbst sollten so viele Menschen eine Impfung bekommen haben, dass es mit sehr viel weniger Maßnahmen funktionieren wird – aber wahrscheinlich nicht ganz ohne.

Und wann geht es ganz ohne?

Wir werden vielleicht auf Dauer aufpassen müssen – jedenfalls an Orten wie Pflegeheimen.

Zu Beginn der Pandemie vor einem Jahr stand Schweden mit seiner Corona-Politik weltweit fast allein da. Sehr viele Leute starben in dieser Zeit. Gab es nie einen Moment, in dem Sie dachten: Vielleicht liege ich total falsch?

Ich glaube, das hat sich jeder manchmal gefragt, der mit dieser Aufgabe betraut war. Jedes Land hatte Phasen, in denen alles danebenging und das Virus trotz aller Bemühungen außer Kontrolle geriet. Als Gesundheitsbehörde fragen wir uns ständig, was wir besser machen könnten. Etwas wird oft übersehen: Manche Maßnahmen nützen vielleicht gegen das Virus, sind aber sehr schädlich für andere Bereiche der Gesundheit.

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