Familiengeschichte und Zeitgeschichte: ein meisterhaftes Buch von Wolfgang Bittner

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Zu seinem neuen Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“. Der Göttinger Autor Wolfgang Bittner, Jahrgang 1941, unregelmäßig auch Mitarbeiter bei uns auf HdS, bekannt geworden in den letzten Jahren vor allem mit seinem Sachbuch „Die Eroberung Europas durch die USA“ (erschienen 2017 im Westend-Verlag), hat ein neues Buch vorgelegt, einen Roman, der seinerseits das Zeug für einen Bestseller hat. Ein bemerkenswert kluges und informiert-informierendes Buch und zugleich ein anrührend menschennah geschriebenes Buch (ohne jede Sentimentalitäten, das nebenbei!).  Holdger Platta

In seinem Erzählwerk „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ erzählt Wolfgang Bittner – so vermute ich jedenfalls – vor allem eigene Familiengeschichte nach, beginnend im Kriegsjahr 1943, beginnend im oberschlesischen Gleiwitz, und landet schließlich, nach angstvoll-dramatischer Flucht in den Westen, irgendwo im Emsland, unweit der Nordseeküste, mitten in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland, mitten in jener Zeit, die sehr bald das Lobeswort der „Wirtschaftswunderjahre“ verpaßt bekam.

Worin besteht nun die große aufklärerische Klugheit dieses Buches, worin die bewegende Menschennähe, die für dieses Buch kennzeichnend ist?

Nun, ich denke, vor allem in zweierlei:

Einerseits wird für uns die Geschichte einer oberschlesischen Familie nacherzählt, geschildert vor allem aus der Perspektive des Kleinsten in dieser Familie, der über weite Strecken des Romans lediglich als das „Kind“, später als der „Junge“ bezeichnet“ wird. Und aus dieser Erzählperspektive erleben wir deutsche Geschichte ganz von unten mit, die immer bedrohlicher werdenden Kriegsjahre bis zum Tag der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Und da wird schonungslos und rückhaltlos mitgeteilt, dass es auch in dieser Familie die Hitleranhänger und Kriegsoptimisten gab, die gläubigen Nazis, die bis zum Ende an den Einsatz einer neuen deutschen „Wunderwaffe“ glaubten. Und da wird ebenso deutlich berichtet, dass es in dieser Familie die Antinazis gab, die Skeptiker und Kritiker des faschistischen Regimes – und das vorlaut-lärmende Nazi-Gewäsch der einen und die Vorsicht und Angst der anderen, die sich lieber dreimal umsahen, ehe sie irgendetwas äußerten, das als Nazismuskritik oder – ein Wort dieser Zeit – als „Defätismus“ hätte ausgelegt werden können.

Meisterhaft versteht es Bittner, diese Atmosphäre der Ängste und Hoffnungen zu beschwören, dieses Nichtverstehen des Naziregimes und das allmähliche Begreifen, dass dieses Deutschland – allerspätestens seit der Niederlage von Stalingrad im Februar 1943 – unaufhaltsam zusteuerte auf den sogenannten „Zusammenbruch“, auf das Ende des barbarischen Hitler-Regimes. Bittner nimmt uns dann mit auf die Flucht dieser Familie in den Westen, auf dem Dach eines Güterzuges, um in fast letzter Minute dem neuen Regime der Sowjetrussen zu entkommen. Raub und Plünderungen, Tod und Vergewaltigung machen dabei auch vor dieser Familie nicht Halt, bevor ihnen die Flucht in den Westen gelingt.

Was im übrigen aufs deutlichste zeigt: Schönschreiberei dessen, was während der letzten Kriegsmonate (und danach) den Deutschen auch von den östlichen Siegern angetan wurde, ist Bittners Sache nicht – ebensowenig, wie deutschen Rückgabeforderungen nach den „verlorenen Ostgebieten“ das Wort zu reden. Er, der gebürtige Oberschlesier Wolfgang Bittner, verrennt sich an keiner Stelle seines Romans in Revisionismuspolemik oder zugleich ins Verleugnen dessen, was vorher deutsche Wehrmacht und deutsche SS-Truppen den Juden, Polen und Russen im Osten angetan hatten. Bittners Humanität – oder besser: die Humanität dieses Romans – kennt derlei selbstgerechte Vereinseitigungen nicht – eine große Tugend dieser langen Erzählung. Und was die Nachkriegsjahre betrifft, die sogenannte „Aufbauphase“ nach der Neugründung eines westlichen Deutschlands, unter der Regie der Westmächte, wird mit ebenderselben Präzision und Gerechtigkeit erzählt wie die Zeiten davor. Konkret:

Auch diese Familie stößt im Westen, bei den lieben Mitdeutschen diesseits der sogenannten „Zonengrenze“, auf Eiseskälte und Fremdenfeindlichkeit. Als „Polacken“ gelten urplötzlich – und für viele Jahre – auch die Geflüchteten. Auch diese Familie wird mit all dem konfrontiert, was der bundesdeutsche Historiker Andreas Kossert in seinem Sachbuch „Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“ vor einigen Jahren, im Jahr 2008, den bundesdeutschen Leserinnen und Lesern in seiner akribischen Studie über die brutalen Reaktionen der Westdeutschen gegenüber den unliebsamen Mitdeutschen aus dem Osten mitzuteilen hatte: Deutschland war für die Geflüchteten sehr oft Feindesland!

Und was die ersten Aufbaujahre im Westen betrifft, die Zeit nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949, so blendet Wolfgang Bittner auch für diesen Zeitraum die negativen Begleitumstände dieser Wiederaufbauphase nicht aus. Womit ich auch bei der zweiten Dimension dieses Buches bin:

Neben all der anrührend-bewegenden Privatgeschichte einiger Menschen im Zeitraum 1943 bis in die erste Phase der Fünfziger Jahre hinein, neben all dieser Geschichte von unten und ganz vom Privaten her, ist dieses Buch zugleich auch Report deutscher Geschehnisse, der die sogenannt-große Geschichte, die Geschichte “ganz oben” nicht ausspart. Es ist immens, was Bittner zu dieser Dimension von deutscher Geschichte für seinen Roman recherchiert und in seinen Roman eingebaut hat. Dass die sogenannte „Entnazifizierung“ Westdeutschlands zu großen Teilen auch Renazifizierung Deutschlands gewesen ist, dass alte Größen des Dritten Reichs – im Zeichen des westlichen Antikommunismus – alsbald auch wieder hohe und allerhöchste Posten zu besetzen vermochten in dieser neuen westlichen Bundesrepublik, diese Wahrheit erspart uns Bittner ebenso wenig wie den Blick auf die Unrechtstaten des Dritten Reichs und der siegreichen Eroberer im niedergerungenen Nazideutschland. Ich meine deshalb: in dieser ungeteilten Humanität und mit dieser Mehrdimensionalität stellt Bittners Buch einen Ausnahmefall dar, was Romane betrifft, die über diese Zeit geschrieben worden sind – und zum Teil Weltrenommee erlangten!

Manchmal könnte man sich bei der Lektüre des Bittnerbuchs an Walter Kempowskis „Deutsche Chronik“ erinnert fühlen, an „Tadellöser & Wolff“ zum Beispiel, so sehr ist dieser Roman auch Anekdoten- und Familiengeschichte – erzählt aus der Perspektive einer Familie. Aber wo Kempowski mit alle seinen – gekonnten! – Witzeleien wieder und wieder steckenbleibt in dieser kleinkarierten Wiederbeschwörung deutscher Geschichte, geht Bittner weit über derlei Begrenzungen hinaus. Aus seinem Roman erfahren wir auch von Globke und Konsorten. Und wo Günter Grass in der „Blechtrommel“ hochvirtuos die Geschichte seiner Danziger Familie nacherzählt hat – zum Beispiel in seinem Kapitel „Glaube, Hoffnung, Liebe“, komponiert wie eine Fuge –, ohne wirklich die Geschichte Deutschlands insgesamt mitzuerzählen, da wendet sich Bittner wieder und wieder auch dieser übergreifenden Dimension deutscher Geschichte in den Vierziger und Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu. Mit einem Wort:

Die große Kraft dieses Werks, die Stärke dieses Buches besteht gerade darin, über alles Kleine und Kaputte das Große und Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist diese Mehrdimensionalität – man könnte auch sagen: diese Doppelerzählung –, die Bittners Roman einen besonderen Rang zu sichern vermag. Es ist diese Verknüpfung von Menschennähe und sogenannt-großer Geschichte, die man als Alleinstellungsmerkmal seines Romans bezeichnen kann. Ich jedenfalls kenne kein anderes Werk, das derart gekonnt das eine mit dem anderen zu verbinden verstand. Und es passt zum Charakter dieses Buches, das zugleich ein beeindruckend leises, behutsames und zartes Romanwerk ist, dass Wolfgang Bittner, der oberschlesische Autor, ganz am Ende des Buches aus der Schlusssequenz eines anderen berühmten oberschlesischen Autors zitiert – ohne, im Wortsinn „Angabe“ dieses Zitats!

Wolfgang Bittner beendet seinen Roman mit der folgenden – fast möchte man sagen: ironisch-utopischen – Sequenz (es geht um den „Jungen“, den es mal wieder in die Wälder verschlägt):

„Ein sonniger Tag. Er läuft den hellen Sandweg entlang durch die grünen Felder und in den schattigen Wald hinein. Unter den Füßen der federnde Nadelboden, der den Schritt beflügelt, von überall her Vogelgezwitscher, das Gurren der Tauben und Keckern der Eichhelhäher. Das Herz ist leicht, der Kopf so frei, und die Gedanken fliegen voraus. Kein Mensch weit und breit, keine Befehle, keine Schikanen, keine Angst. Er gehört sich, ist frei und unabhängig. Um ihn der herrliche, der duftende, blühende Wald. Und alles, alles ist gut.“

Und „alles, alles ist gut“? – Nun, es war der oberschlesische Autor Joseph von Eichendorff, der seinen „Taugenichts“ fast wortgleich enden lässt (und man darf vermuten: mit ähnlichem Beiklang von Utopie und Ironie); es geht um das Liebespaar, das sich endlich gefunden hat und gemeinsam „Knackmandeln“ verzehrt:

„Sie lächelte still und sah mich vergnügt und freundlich an, und von ferne schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloss durch die stille Nacht über den Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf – und es war alles, alles gut!“

Für mich hat Wolfgang Bittner mit diesem Roman ein meisterhaftes Buch vorgelegt, das wahrlich keinerlei Vergleiche zu scheuen braucht! Chapeau!

 

Wolfgang Bittner:  Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen, Roman, Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019, 352 Seiten, 21,90 Euro.

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