Faschismus 2.0

 In FEATURED, Politik

Der Neofaschismus blüht — und niemand macht es zum Thema. Seit mehr als einem Jahr ist im US-Außenministerium der Posten des Sonderbeauftragten für die Überwachung und Bekämpfung von Antisemitismus unbesetzt. Gleichzeitig findet der weltweite Zuwachs von Neonazismus kaum ein angemessenes mediales Echo. Wie gefährlich und besorgniserregend diese Ignoranz gegenüber faschistischen Tendenzen ist, zeigt Hannah Rosenthal anhand eines Artikels der New York Times über ethnisch motivierte Pogrome in der Ukraine. In diesem Beitrag werden nationalistische Gangs, die offen den Nazi-Gruß zeigen, gefährlich verharmlost. Die laxe Reaktion von Medien und Regierungen auf wachsenden Antisemitismus, die in dem Artikel sichtbar wird, ist typisch für unsere Zeit. (Hannah Rosenthal)

 

Als ehemalige Sonderbeauftragte des amerikanischen Außenministeriums für die Überwachung und Bekämpfung von Antisemitismus bin ich nach wie vor besorgt, dass dieses Amt in den letzten 18 Monaten (der Artikel stammt vom 6. August; Anmerkung der Übersetzerin) unbesetzt geblieben ist. Die Abwesenheit eines Sonderbeauftragten macht es umso notwendiger, dass die Medien ihre Rolle bei der Beleuchtung von Ausbrüchen von Gewalt und Antisemitismus wahrnehmen. Aus diesem Grund war ich äußerst alarmiert zu sehen, dass die New York Times in einem kürzlich erschienenen Artikel über die Ukraine eine Neonazi-Gang verharmlost und beschönigt.

Am 20. April dieses Jahres veranstaltete eine Organisation mit dem Namen C14 – die gemäß Radio Free Europe und anderen Medienkanälen Mitglieder hat, die offen Neonazi-Ansichten bekunden – ein entsetzliches Anti-Roma-Pogrom in Kiew. Während der folgenden zwei Monate wüteten vier weitere Pogrome in der Ukraine, darunter eines, bei dem ein Mann brutal getötet und vier andere verletzt wurden. Der Ausbruch von ethnisch motiviertem Hass wurde von der UNO in der Ukraine, vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., und in einem gemeinsamen Brief von Human Rights Watch, Amnesty International, Front Line Defenders und Freedom House verurteilt. All diese Organisationen verliehen ihrer tiefen Besorgnis sowohl über die Straffreiheit der rechtsextremen Banden als auch über die laxe Reaktion der Regierung Ausdruck.

Am 21. Juli entschied sich die New York Times endlich, über die Situation zu berichten, wobei sie sich vornehmlich auf das erste Pogrom vom 20. April konzentrierte, welches C14 stolz gefilmt hatte.

Entmenschlichende Stereotypen

Der Artikel beginnt mit der Darstellung der Pogrome als „Er-hat-gesagt-sie-hat-gesagt“-Zänkerei zwischen C14 und den Roma:

„Die Roma, die in planengedeckten Lagern und verlassenen Gebäuden in und um die ukrainische Hauptstadt Kiewleben, sagen, sie verdienen ihr Geld auf harmlose Weise, indem sie wilde Blumen pflücken und diese als Sträuße an Verliebte auf den Straßen der Stadt verkaufen.

Doch Mitglieder ukrainischer nationalistischer Gruppen sagen, dass die Roma vielmehr Taschendiebstahl betreiben, Metallschrott klauen, die Stadt durch ihre Anwesenheit beschmutzen und beim Betteln oftmals Lumpen oder Altkleider tragen.“

Von Beginn an werden Angriffe durch Neonazis auf eine ethnische Gruppe als eine Auseinandersetzung dargestellt, in der beide Seiten Recht haben könnten. Dadurch fördert der Artikel entmenschlichende Stereotypen, die die Roma als Plage porträtieren – „die Stadt durch ihre Anwesenheit beschmutzen“ –, als berechtigte Beschwerden. Diese abscheulichen Ausdrücke sind noch nicht einmal als Zitat gekennzeichnet: Sie werden einfach so in der Berichterstattung verwendet, was ihnen noch mehr Legitimität verleiht.

Schönreden einer Neonazi-Gang

Die New York Times fährt in ihrem Artikel fort, indem sie Yevhen Karas, dem Anführer von C14, erstaunlich viel Raum gibt, seine Bande schönzureden. Sie merkt an, dass C14 sich selbst als „Gruppe mit einem Bildungsanspruch“ versteht, „die Vorträge und Seminare organisiert“. Auch lässt sie Karas beteuern, „dass die Vorfälle keine fremdenfeindlichen Angriffe waren.“ Karas hat zudem das letzte Wort: „Wenn die Menschen Gerechtigkeit suchen“, verkündet er am Ende des Artikels, „dann kommen sie zu uns.“

Die New York Times bezeichnet tödliche, ethnisch motivierte Pogrome als „Vorfälle“ und „Interventionen“. Der Hass, der hinter den Attacken steckt, wird als „Spannungen wegen der Roma“ beschrieben, als wären die Roma in irgendeiner Weise verantwortlich für diese mehrdeutigen „Spannungen“. Dagegen beschreibt der Artikel die Neonazi-Natur von C14 höchstens ansatzweise, indem er die Organisation als „nationalistisch“ bezeichnet und vage darauf verweist, dass manche Gruppen in der Ukraine „hässliche Ideologien verfechten“ könnten.

In Wahrheit haben westliche Medien seit langem eingeräumt, dass Mitglieder von C14 Neonazi-Ansichten vertreten. Die Los Angeles Times erklärte, der Name der Gruppe sei eine Anspielung auf den berüchtigten 14-Wörter-Leitspruch zu weißer Vorherrschaft. Außerdem veröffentlichte die BBC im Jahr 2014 ein kurzes Video, in dem Karas, ein Hakenkreuz und Neonazi-Symbole zu sehen sind. In diesem Video, das klar betitelt ist als „Neonazi-Bedrohung in der neuen Ukraine“, spricht Karas von seiner Sorge hinsichtlich einer jüdischen Kontrolle über die Ukraine.

Ironischerweise ist der Artikel der New York Times mit einem Foto versehen, auf dem C14-Mitglieder beim Zeigen des Nazi-Grußes zu sehen sind.

Laxe Reaktionen

Letztes Jahr hat der Großteil Amerikas, darunter die Redaktionsleitung der New York Times, Donald Trumps Bemerkung über die „Schuld auf beiden Seiten“ im Zuge der tödlichen Demonstration weißer Rassisten in Charlottesville, Virginia, verurteilt. Es ist schwer vorstellbar, dass westliche Zeitungen einen Artikel über Richard Spencer oder David Duke veröffentlichen würden, in dem man diesen Männern großzügigen Freiraum gibt, ihre abscheulichen Ideologien zu beschönigen, in dem man ethnisch motivierte Angriffe zu „Vorfällen“ und „Interventionen“ abschwächt. Oder in dem man schändliche Stereotypisierungen als berechtigten Aspekt des Diskurses darstellt. Es ist erschütternd, solche schwerwiegenden Fehler in einem Artikel über ukrainische Neonazis zu finden, von dem man annehmen darf, dass er Lektorat und Faktenüberprüfung durchlaufen hat.

Doch der bedauerlichste Umstand dieses Ukraine-Artikels ist, dass er die laxen Standards offenbart, mit denen die westlichen Medien die verstörende Realität in diesem Land behandeln.

Verstörende Realität

Während meiner Amtszeit als Sonderbeauftragte für die Überwachung und Bekämpfung von Antisemitismus habe ich den wachsenden Eifer der Neonazis in der Ukraine aus erster Hand mitbekommen. Während eines Besuchs in Kiew wurde mir mitgeteilt, dass die Ukraine soeben die Ermittlungen zu einer Beschwerde abgeschlossen habe, nach der Juden ukrainische Kinder entführen würden, um deren Organe zu verkaufen. Das nenne ich eine moderne Ritualmordlegende.

Das Treffen schloss mit den Ergebnissen der Untersuchung: 30.000 ukrainische Kinder wurden nicht vermisst. Ich sagte, die Unterredung sei zu Ende und die Untersuchung der Vorfälle absurd und lächerlich. Danach sprach ich den Außenminister auf die Angelegenheit an. Dieser teilte mir mit, dass dies nicht lächerlich sei, dass Juden so etwas in der Vergangenheit getan hätten und wieder tun könnten. Erneut verließ ich die Besprechung.

Während der letzten drei Jahre hat sich der rechtsextreme Trend in der Ukraine zugespitzt. Die Regierung hat Nazi-Kollaborateure, die sich während des Zweiten Weltkriegs des Abschlachtens von Juden schuldig gemacht haben, zu Friedenskämpfern erklärt; Paraden für diese Gruppen sind ein gewöhnlicher Anblick in der Ukraine. Oft werden diese Aufmärsche von krassem Antisemitismus begleitet: Im Januar 2017 wurden bei einem Fackelumzug in Kiew „Juden raus“-Rufe skandiert. Laut Radio Free Europe zeigten Teilnehmer einer Demonstration von 20.000 Menschen den Nazi-Gruß. Diesen April hat der für europäische Angelegenheiten zuständige Direktor der Anti-Defamation League ein Video getwittert, das Nazi-Grüße bei einem Marsch von hunderten Menschen zur Erinnerung an eine Einheit der Waffen-SS zeigt.

Sowohl das U.S. Holocaust Memorial Museum und der Jüdische Weltkongress als auch der Staat Israel haben von der Zunahme von Antisemitismus in der Ukraine im vergangenen Jahr berichtet. Und während der Ministerpräsident des Landes Jude ist, ist der stellvertretende Innenminister Vadym Troyan seit langem immer wieder ins Milieu der Neonazi-Gangs involviert. Noch im Jahr 2014 waren jüdische Gruppen, darunter führende jüdische ukrainische Politiker, entsetzt über die Idee, dass Troyan Polizeichef in Kiew werden könnte; heute ist er einer der mächtigsten Männer des Landes. Der Washington Post zufolge hat eine weitere extrem mächtige Figur, der Parlamentssprecher Andriy Parubiy, mehr als zehn Jahre lang die offenkundig neonazistische Sozial-Nationale Partei der Ukraine geführt. Parubiy steht nicht mehr in offizieller Verbindung zu Neonazi-Organisationen, doch seine dunkle Vergangenheit ist höchst besorgniserregend, besonders in einem Land, in dem Gangs wie C14 – laut Human Rights Watch, Amnesty International und den Vereinten Nationen – straffrei agieren können.

Augen auf

Es ist ebenfalls wichtig, daran zu erinnern, dass sich die rechtsextremen Gruppen nicht auf Roma-Hass und Antisemitismus beschränken; Gangs wie C14 und andere sind verantwortlich für homophobe und sexistische Gewalt – ein Trend, der Menschenrechtsorganisationen zufolge besorgniserregend zunimmt. Indem sie das Wesen dieser Gruppen herunterspielen, bringen Artikel wie der in der New York Times auch diese anderen gefährdeten Bevölkerungsgruppen in Gefahr.

Nicht nur sollten alle Menschen guten Willens die Zunahme von Neonazis, mit Nazi-Grüßen und allem Drum und Dran, auf das Schärfste verurteilen. Auch unsere Regierung muss das Amt für die Überwachung und Bekämpfung von Antisemitismus wieder besetzen, das ich dankenswerterweise ausfüllen durfte. Ohne einen Verantwortlichen für die Überwachung von weltweitem Antisemitismus wird dieser weiterhin verharmlost und gar ignoriert werden.

Und obwohl die westlichen Medien den Rechtsextremen in den Nachbarstaaten Ungarn und Polen reichlich Aufmerksamkeit zollen, wird über die Situation in der Ukraine oft nur ungenügend berichtet.

Die enorme Unterstützung – darunter auch tödliche Unterstützung – der USA gegenüber Kiew macht es umso unerlässlicher, dass westliche Medien eine solide und kritische Berichterstattung über die Ukraine sowie äußerste Besorgnis für deren besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen bieten.


Hannah Rosenthal ist Präsidentin und Geschäftsführerin der Milwaukee Jewish Federation. Von 2009 bis 2012 war sie Sonderbeauftragte des amerikanischen Außenministeriums für die Überwachung und Bekämpfung von Antisemitismus.

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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