Faszinierende Krimi-Saga

 In FEATURED, Kultur

Die Öresund-Brücke zwischen Kopenhagen und Malmö

Die schwedisch-dänische Serie „Die Brücke“ macht eine Frau mit Asperger-Sydrom zur Heldin und leuchtet in die dunklen Winkel der skandinavischen Gesellschaft. „Nordic Noir“ nennt man den Trend, der mit Kommissar Wallander und der Millenium-Trilogie Stieg Larssons seinen Anfang nahm. Mit dem vierteiligen Crime-Epos um die Öresund-Brücke zwischen Kopenhagen und Malmö ist ein weiterer Höhepunkt des Trends erreicht. Fast noch mehr als der fantasievoll inszenierte Serienmörder-Thrill bewegen die Schicksale der emotional lädierten Hauptfiguren, unter denen die Schwedin Saga Norén als geniale, aber in ihrem Sozialverhalten erheblich behinderte Ermittlerin herausragt. Woher rührt die Faszination auch deutscher Zuschauer für die unter der Oberfläche einer saturierten Industriegesellschaft lauernden Abgründe?  Roland Rottenfußer

Sofia Helin wirkt in echt wirklich nett. Die Darstellerin der schroff-ehrliche und emotional geradezu eingefroren wirkenden Kriminalkommissarin Saga Norén kann im Gegensatz zu ihrem Serien-Alter-Ego sogar manchmal lächeln. Das ist eben Schauspielkunst. Die Schwedin erzählt im Interview bei „The Andrew Marr Show“ im BBC, dass ihr Rolle auch körperlich anstrengend sei. Wenn sie in Sagas Identität schlüpfe, müsse sich ihren Körper quasi zusammenziehen, sich steif machen – nach Feierabend fühle sie sich, als ob sie sich auch körperlich ausdehne. Auch der im Gesicht wie festgefrorene strenge und missmutige Ausdruck will kultiviert sein. Klar, bei einer Figur mit Asperger-Syndrom müssen sich gewisse Merkmale wiederholen: die Schwierigkeit, sich auf tiefer gehende Beziehungen einzulassen, mangelndes Einfühlungsvermögen, komplett fehlende „Ironie-Kompetenz“, eine überkorrekte, rigide Einstellung.

Das führt in der Serie oft genug zu komischen Situationen, wenn Saga distanzlos fragt „Hatten Sie Sex?“ oder der Frau eines Ermordeten rücksichtslos bescheinigt, ihr Mann habe im Todeskampf wohl sehr gelitten. Die Vorstellung, in allen Lebenslagen auf derart brüske Art ehrlich zu agieren, hat – neben den befremdlichen Aspekten – auch etwas Anziehendes. Wir merken beim Zuschauen, wie oft wir selbst die Wahrheit verschleiern und schönfärben, wie oft wir aus Rücksicht darauf, was andere denken „könnten“, nicht ganz offen sind. Darüber hinaus ist die Frau, die sich grundsätzlich mit „Saga Norén, Kripo Malmö“ meldet, ein Genie der kriminalistischen Findigkeit. Diese isolierte Spezialbegabung, der eine auffällige Hilflosigkeit in anderen Lebensbereichen gegenüber steht, hat Saga mit dem von Dustin Hoffman gespielten „Rainman“ gemeinsam. Asperger ist quasi die Light-Version von Autismus. Oder: der Autist ist ein gesteigerter Asperger-Betroffener. Unlängst wurde bekannt, dass auch die 16-jährige Umweltaktivistin Greta Thunberg Asperger hat, was sich manchmal in einem an Saga Norén erinnernden „strengen“ Gesichtsausdruck manifestiert.

Die Spaßbremse und der Wonneproppen

Neben Helin als schwedischer Spaßbremse spielt Kim Bodnia –  unvergessen als umtriebiger bester Freund des Helden im Horror-Drama „Nightwatch“ – ihr dänisches Gegenbild Martin Rohde. Der chronische Fremdgänger und lebenspralle Schwerenöter versucht die Atmosphäre im Ermittlungsteam aufzulockern, indem er der völlig in sich zurückgezogenen Saga gleichsam Unterricht im „Menschsein“ erteilt. Höflich sein, Smalltalk machen, verletzende Mitteilungen vorsichtig vorbringen, traumatisierte Opfer nicht gleich mit einem Verhör überfallen und nicht jeden gleich fragen, wie oft er Sex hatte… Dieses „Schüler-Lehrer“-Verhältnis zwischen Rohde und Norén erinnert streckenweise an die Menschwerdung der ähnlich spröden Borg-Drohne „Seven of Nine“ in der Star Trek Serie „Voyager“. Auch Saga ist in gewisser Weise eine „Außerirdische“, die an das Erdenleben nur unzureichend angepasst ist. Aber ihre Kombinationsgabe als Kriminalistin ist derart überragend, dass ihre Vorgesetzten trotz permanenter Fettnäpfchen-Tritte nicht auf sie verzichten möchten.

Nach zwei Staffeln stieg Kim Bodnia auf eigenen Wunsch aus der Serie aus, weil er mit der Entwicklung seiner Figur nicht mehr zufrieden war. Aber erschreckenderweise auch, weil er sich als Jude in der Öresund-Region nicht mehr sicher fühlte. Folglich wurde Martin Rohde für Staffel 3 aus der Serie „herausgeschrieben“. Nachdem er den Mörder seines Sohnes tötete, liefert ihn die überkorrekte Saga der weltlichen Gerechtigkeit, also dem Gefängnis aus. Martin wird durch Thure Lindhardt als Henrik Sabroe ersetzt. Dieser, ebenfalls Däne, leidet an dem schweren Trauma, dass seine Frau und zwei Töchter unter ungeklärten Umständen verschwunden waren. Zwischen ihm und Saga entspinnt sich allmählich eine zarte Romanze. Wobei nicht die sexuellen Begegnungen überraschen – diese kommen bei Saga relativ schnell zustande –, sondern die Tatsache, dass bei der Schwedin ein auch emotionales Tauwetter einsetzt. Beide Protagonisten spüren, dass sie einander brauchen und machen sich gemeinsam auf die Suche nach Henriks verschwundenen Kindern. Saga kommt indes wegen angeblichen Mordes an ihrer Mutter ebenfalls in Konflikt mit dem Gesetz. Auch den psychodynamischen Ursachen ihres „Syndroms“ kommt der Zuschauer so nach und nach auf die Spur.

Die Toten vom Öresund

Gemeinsam lösten die insgesamt drei Heldinnen und Helden der Serie zwischen 2011 und 2018 vier komplexe Kriminalfälle. Stets geht es um Serienmorde, die entweder direkt an der Öresund-Brücke zwischen Dänemark und Schweden stattfinden oder bei denen Spuren in beide skandinavische Länder führen. Das Motiv der Länder übergreifenden Ermittlungen wurde später in der deutsch-österreichischen Serie „Die Toten vom Bodensee“ übernommen. Nora Waldstätten agiert hier als österreichische Saga Norén ähnlich starr und verstört, und auch ihr wird ein schwerer Trauma-Hintergrund verpasst. Die Vorbildfunktion der (wesentlich stärkeren) „Brücke“ ist offensichtlich. Bei dieser fällt die Vorliebe für Serienmorde mit einem übergreifenden „Handlungsbogen“ auf. Man spürt, wie die Gehirne der Drehbuchautoren um Hans Rosenfeldt auf Hochtouren arbeiteten, um immer neue „Twists“ zu ersinnen. Schließlich musste plausibel gemacht werden, warum die Ermittler jeweils 10 Folgen für recht spektakuläre Serienmordfälle brauchten. Dafür musste gleich mehreren Verdächtigen Motive für mindestens sechs Morde angedichtet werden. Die Drehbücher lösen diese Mindfuck-Aufgabe jedoch glänzend und sorgen beim Zuschauer für geradezu fiebrige Hochspannung.

Ein besonderes Merkmal der Dramaturgie in „Bron/Broen“ (so die Originaltitel auf Schwedisch und Dänisch) sind auch die vielen Nebenhandlungen, die anfangs in der Luft der hängen zu scheinen und mit Haupthandlung gar nichts zu tun zu haben scheinen. Erst nach und nach enthüllt sich deren Verbindung zu den Kriminalfällen. Auf diese Weise liefern die vier Staffeln ein facettenreiches Bild der schwedischen und dänischen Gesellschaft anhand vieler packender Einzelschicksale. Zudem enthält die Serie eine Reihe von – für deutsche Zuschauer vielleicht nicht ganz nachvollziehbare – Insidergags über die Mentalitätsunterschiede zwischen Schweden und Dänen. Vereinfacht gesagt, gelten erstere als etwas etepetete, zurückhaltend und korrekt, letztere als freundliche, aber eher schlicht gestrickte Kumpeltypen.

Die „schwarze“ nordische Seele

Sofia Helin äußert sich im Interview aber auch zu den sozialpsychologischen Hintergründen des „Nordic Noir“-Trends. Der Begriff, der für düstere Krimis à la Henning Mankell gebräuchlich ist, lehnt sich an den „Film noir“ des US-Kinos der 50er-Jahre an (typischer Vertreter wäre etwa „Die Spur des Falken“ mit Humphrey Bogart). Andrew Marr: „Ihr habt diese sehr erfolgreichen, gut organisierten, glücklichen, sozialdemokratischen Gesellschaften. Und trotzdem produziert ihr diese dunklen, furchterregenden Dramen.  Helin: „Darüber habe ich auch viel nachgedacht. Wir haben diese große Tradition, über dysfunktionale Familien zu erzählen, seit Bergman u.a. Tatsächlich haben wir in großer Sicherheit gelebt im Norden, wir mussten uns um die Gesellschaft kümmern. Ich glaube, wir trauten uns deshalb, dunkle Dinge zu fantasieren.“

Das Grauen also scheint in Skandinavien nicht trotz, sondern gerade wegen der glatten Oberfläche eines funktionierenden demokratischen Sozialstaats präsent zu sein. Es repräsentiert sozusagen die Manifestation des Schattens, der gerade dort groß wird, wo viel Licht zu sein scheint. In Stieg Larssons „Verblendung“, dem mehrfach verfilmten Bestseller-Roman, wird die Kollaboration schwedischer Nazis (!) mit den deutschen aufgedeckt. Die schwer traumatisierte Grufti-Lady Lisbeth Salander ist schon visuell das extreme Gegenbild zum Klischee der „unkomplizierten“, blonden und fröhlichen Schwedin. In „Schändung“ (einem Roman des dänischen Autors Jussi Adler-Olsen) geht es um die Gruppenvergewaltigung eines Mädchens durch Heranwachsende der Oberschicht. Sektenwahn, Obdachlosigkeit, Perversion, Missbrauch und blutige Rache scheinen zwischen Nord-Schleswig und Nordkap ohnehin auf der Tagesordnung.

Die Wiederkehr des Verdrängten

Eine gewisse Melancholie mag in den Ländern der langen Winter nahe dem Polarkreis wohl angelegt sein. Depressions- und Selbstmordneigungen der Skandinavier sind verbürgt. Vielleicht ist etwas derartiges in der Kollektivseele angelegt: grüblerisch wie Hamlet, die Traurigkeit geradezu genussvoll auskostend wie in „Solveigs Lied“ von Edvard Grieg. Aber eine Häufung abstoßender Grausamkeit? Sieht man mal von Anders Breivik, dem Massenmörder von Utøya ab, dürfte das eine quotenträchtige Erfindung sein. Kaum ein Nordic Noir-Killer, der etwas auf sich hält, begnügt sich mit nur einer Leiche. Was ist faul im Staate Dänemark (und Schweden und Norwegen)?

Eine der Wurzeln liegt sicher in der auch von Sofia Helin kenntnisreich herbeizitierten Tradition tief schürfender nordischer Familiendramen. Man kann hier aus dem 19. Jahrhundert die Dramatiker Henrik Ibsen und August Strindberg nennen. Und, nicht zu vergessen, den Filmemacher und Drehbuchautoren Ingmar Bergman. Allen ist eine Dramaturgie der „Wiederkehr des Verdrängten“ eigen. Bürgerliche Fassaden bröckeln, hinter geschmeidigen gesellschaftlichen Ritualen kommt nackter Hass zum Vorschein. Lebenslügen werden enthüllt. Alpträume brechen in die auf Selbstbeherrschung und Rationalität gepolte kollektive Psyche ein. Man kann im Fall Bergman sogar sagen: Der „Mangel“ an Kriegen und nationalen historischen Dramen im 20. Jahrhunderts bewog feinfühlige Gemüter dazu, sich Kriege herbeizufantasieren. Auch wenn es sich meist um „nur“ Kriege innerhalb schein-heiler Familien oder innerhalb der eigenen Seele handelt.

Darker than „Dancing Queen“

Für seinen Film „Schande“ (1969) kreierte Bergman ein fiktives Kriegsszenario, in dessen Rahmen sich die handelnden Figuren in psychischen Extremsituationen bewähren müssen. Die Scham, dass Schweden während der Nazi-Zeit kollaboriert und sich rausgehalten hat, scheint als Motiv hinter dieser Themenwahl zu stecken. Aber auch ein gefühlter Mangel an „Tiefe“, resultierend aus der Beobachtung, dass Schweden bei den wesentlichen Dramen des 20. Jahrhunderts einen bequemen Fensterplatz einnahm. Andere Länder schickten Soldaten nach Deutschland, Schweden Zarah Leander. Bergman und andere versuchten dieses Dramen-Defizit durch – man kann beinahe sagen – ein Übermaß an Tiefe zu kompensieren. In der popularisierten Form des modernen Nordic Noir-Krimis bleiben davon grausige Serienmorde und psychisch grundsätzlich stark beschädigte Kommissare.

Es gibt natürlich auch das „leichte“ Schweden mit „Dancing Queen“, Königin Silvia und Astrid Lindgrens „Bullerbü“-Idylle. Aber selbst da lauert Melancholie und privates Scheitern im Hintergrund, wie unlängst die von Alba August grandios gespielte Filmbiografie „Astrid“ zeigte. In Dänemark liegen die Dinge ein bisschen anders. Man war von Hitler besetzt worden, es gab Rebellions- und Kollaborationsschicksale. Heute sind die Dänen eine eingebettete Kriegsnation wie die Deutschen, was in Filmen eindrucksvoll verarbeitet wird. Etwa in „Brothers“ von Susanne Bier oder unlängst in der Priesterserie „Die Wege des Herrn“ mit Lars Mikkelsen. Hier sind jüngste durch Politik verursachte Traumatisierungsgeschichten thematisiert. Und auch die Rechtspopulisten erheben diesseits wie jenseits der Öresund-Brücke ihr Haupt, migrationsbedingte Brüche zeigen sich… All diese Stimmungen und Themen finden sich widergespiegelt in „Die Brücke“.

Das nordische Dilemma

Sofia Helin  übrigens zeigt sich ganz auf der Höhe der politischen Diskussion und setzt sich für die Integration von Flüchtlingen ein. „Wenn jemand traumatisiert ist und zu uns kommt, ist es nicht wahrscheinlich, dass es keine Probleme gibt. Was würden Sie erwarten? Aber wir können versuchen, damit umzugehen. Wir können etwas geben, denn wir haben so viel zu geben.“ Vielleicht wäre das ein Lösungsvorschlag für das „nordische Dilemma“. Wie bringt man das glückliche Schicksal dieser wohlhabenden Länder mit ihrem Hang zum Abgründigen zusammen? Antwort: Aus der besonderen Sensibilität für die Schattenseiten des Lebens kann der Impuls wachsen, zu helfen.

 

 

 

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