Feiert eure Menschlichkeit!

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Green Day, Foto: JD.LaVanway, Lizenz Creative Commons

Die Band Green Day feierte in einem Lied das Leben und die Liebe, die möglich wären, würden sich Menschen nicht immer wieder für mörderische Kriege einspannen lassen. Manche Lieder prägen sich unserem Gedächtnis so unauslöschlich ein, dass sie über Jahrzehnte Teil unseres inneren Lebens bleiben. Speziell, wenn wir sie als junge Menschen kennengelernt und seither immer neu gedeutet haben. Beim Autor dieses Artikels war es „Wake Me Up When September Ends“ von der Gruppe Green Day. Die ebenso kräftige wie verletzliche Rock-Ballade handelt vom Verlust eines geliebten Menschen, doch erst das Musikvideo rückt dieses Gefühl ins Zentrum eines fürchterlichen Krieges. Es sind Szenen, wie es sie in der langen Geschichte der Kriege millionenfach gegeben haben muss. Die Kostbarkeit des Lebens wird in den Zeilen des Liedes ebenso deutlich wie der Wahnsinn „von oben“ anbefohlener Gewalt. Ein anderes Lied der Band zeigt, wie dieser Wahnsinn zu überwinden ist. Ein Text zu der Aktion #Friedensnoten. Aaron Richter

 

Wake Me Up When September Ends war mein erster Lieblingssong. Er wurde im Fernsehen aufgeführt, als ich noch nicht einmal 10 Jahre alt war. Zu dieser Zeit hörte ich alles Mögliche, aber der musikalische Sturm, der in diesem Stück auf die Ruhe folgt, immer und immer wieder — das verzauberte mich sofort. Über die Jahre, in denen ich andere Bands und ihre Songs entdeckte, hielt ich diesen immer eng an meinem Herzen. Bis ich in einem Film, der Fortsetzung von „Tansformers“, erstmals 21 Guns hörte. Der faszinierte mich so sehr, dass mein Vater später den Abspann stoppte, um die Band dahinter auszumachen. Ohne es zu merken, war ich auf ein Wunder gestoßen. Beide Stücke stammen aus der Feder der Band Green Day, stehen repräsentativ für ihre besten beiden Alben. Das merkte ich erst, als die Band schon längst zu meiner Lieblingsformation avanciert war und ich meinen alten Favoriten plötzlich auf einem ihrer Alben wiederentdeckte. Erst Jahre später sollte ich herausfinden, wofür die Songs sinnbildlich stehen – seither liebe ich sie noch mehr.

Weck mich auf, wenn der Krieg vorbei ist

Verliebte Blicke, Vogelgezwitscher, eine Graslandschaft im gleißenden Sonnenlicht: Das Musikvideo zu Wake Me Up When September Ends startet scheinbar auf Wolke 7. Zwei junge Lover versprechen sich die ewige Treue, küssen sich innig, hängen dem perfekten Moment im Sommer nach. Der Junge sagt:

„I just want this moment right now, this day.
And my feelings for you and the way you look right now.
The way I look at you, I just want this to last forever.“

Vielleicht hört sich der Text für manche so an, doch es ist kein Kitsch, der diese Szenen durchfließt. Sondern die Bewusstheit, wie fragil der Moment ist. Eine dunkle Vorahnung lauert unter dem Versprechen der beiden.

Die akustische Gitarre setzt ein, eine delikate Glocke setzt die Akzente, und Billy Joe Armstrong erhebt seine Stimme. Der Frontmann der Band hatte diesen Song für seinen Vater geschrieben, der starb, als der Sänger 10 Jahre alt war. Nur wenig älter als ich beim ersten Hören. Nach dem Begräbnis sperrte sich der kleine Billy in seinem Zimmer ein. Als seine Mutter an die Tür klopfte, um nach ihrem Jungen zu sehen, schrie er: „Weck mich auf, wenn der September vorbei ist.“ Der Name des Songs wurde aus dem tiefen Gefühl des Verlusts geboren.

Ein Verlust, der auch viele Jahre nach diesem Vorfall noch aus Armstrongs Stimme hervorbricht:

Summer has come and passed
The innocent can never last

Wie auch der Sommer im Musikvideo der Vergangenheit angehört, als der junge Mann sich entscheidet, für die US-amerikanische Armee im Irakkrieg zu kämpfen. Damals schaltete das Militär auf Hochtouren Werbung im TV. Es ist die Hybris dieser Werbespots, die aus ihm spricht, wenn er seiner Freundin vorhält, gerade sie müsse seine Entscheidung doch verstehen: „I did this for us. This is supposed to make it easier. I thought you’d be proud of me.“

Sein Versprechen ist dahin; er verlässt sie für den Krieg. Um „Feinde“, eigentlich Fremde, zu töten. Weil die Werbung ihn dazu brachte. Im März 2003 ging es los: Ohne Kriegserklärung oder UN-Resolution fielen US-amerikanische Truppen am 20. des Monats im Irak ein. Ihr offizielles Ziel unter der Ägide von George W. Bush lautete, die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Land des irakischen Präsidenten Saddam Hussein sowie dessen Unterstützung der al-Quaida nachzuweisen. Doch bewiesen wurde weder das eine noch das andere. Schon im Jahr der Invasion war für Beobachter offensichtlich, dass es in diesem Krieg eigentlich um Öl ging. Das Album dieses Songs heißt übrigens American Idiot.

Für das schwarze Gold schwebt fortan ein Damoklesschwert über dem Kopf des Jungen aus dem Video. Die zweite Zeile kündigt es an. Wie der Krebs, dem Armstrongs Vater erlag, frisst der Krieg die Unschuldigen.

Wie sehr dies alles gegen den Menschen selbst geht, bringt Armstrong metaphorisch zum Ausdruck. Den grünen Augen des Jungen, funkelnd wie die Sterne, mussten die Tränen dem Regen gleich entsprungen sein, als er im stillen Kämmerlein den Tod eines geliebten Menschen betrauerte.

Here comes the rain again
Falling from the stars
Drenched in my pain again
Becoming who we are

So machen uns Schicksalsschläge zu denen, die wir sind. Während der junge Soldat im Irak, mit seiner Kompanie in die Ecke gedrängt, einen Kameraden nach dem anderen fallen sieht, erinnert er sich der Worte seiner Geliebten, die zugleich gedankenverloren im Gras sitzt: „Just know, no matter what. You always have somebody here for you.“

Wie die Liebe der beiden ausgeht, ist ungewiss. Das Video endet auf dem Höhepunkt der Gegenüberstellung: Heimat und Liebe gegen Fremde und Krieg.

Die tatsächlichen Opfer des Irakkriegs gehen in die Hunderttausende. Es ist unmöglich, sich dieses Leid bewusst zu machen. Wer nur einen Menschen verloren hat, kennt den unheimlichen Schmerz, den dies auslösen kann. Es ist wichtig, diesen Schmerz zu durchleben, aber auch, ihn in Erinnerung zu behalten. Die Jahre danach machen es leichter; sie feien uns aber nicht davor, erneut in einen ganz persönlichen September zu geraten. Dann erinnern wir uns daran, wie wir ihn überwinden können, schon einmal überwunden haben. Das weiß auch Armstrong, in dessen Zeilen ein Appell an uns steckt, nicht zu vergessen:

As my memory rests
But never forgets what I lost
Wake me up when September ends

Die Waffen nieder

Waffengewalt, auch wenn sie medial gerne stilisiert, ja heroisiert wird, ist nie eine Lösung für Konflikte. Als Jugendlicher war ich, wie so viele andere auch, natürlich trotzdem hochinteressiert an explosiven Spektakeln wie den Transformers-Filmen, die vom US-Militär mit Unsummen gesponsert wurden. Fast ironisch ist es, dass ich ausgerechnet hier auf eine weitere stramme Anti-Kriegshymne stieß. Während die ersten Töne von 21 Guns erklingen, räkelt sich Megan Fox — der Jugend-Crush aller späten 1990er-Jahrgänge — gerade in Hot Pants auf einem öligen Motorrad. Typisch Michael Bay eben, der Regisseur, der sich seinen Namen einst in der Werbebranche gemacht hatte. Kein Wunder, dass er den Krieg zu inszenieren wusste.

Das Lied entstammt dem Konzeptalbum „21st Century Breakdown“, einer Rockoper. Ihr Titel ist doppeldeutig und lässt sich wie folgt übersetzen: „Ein kurzer Abriss des 21. Jahrhunderts“ — sowohl in der zusammenfassenden als auch in der zerstörerischen Bedeutung des Wortes „Abriss“. Es ist ein Zerfall, den wir gerade hautnah erleben.

Denn auch aktuell tobt Krieg, während ich diese Zeilen schreibe. Nicht nur in der Ukraine. Im Jemen, in Syrien, in Lybien, in Mali — die Liste ist quälend lang. Der Westen mischt fleißig mit, hat genügend Kriege selbst begonnen. Am Ende produziert jeder Krieg vor allem eines: Verlierer. So können bereits die einleitenden Zeilen als Aufruf zur Diplomatie verstanden werden:

Do you know what’s worth fighting for?
When it’s not worth dying for?

Denn auch die Alternative beschreibt Armstrong anschaulich, wenn er im Mittelteil des Songs durch die Seelenwelt eines vom Krieg geplagten Menschen wandelt: Wo die Straße des Lebens sich dem Ende neigt, der Kontrollverlust eintritt, die schlimmsten Gedanken ihren Tribut fordern, die Ratio das Herz verbiegt, der Glaube auf Glasscherben läuft und das Gefühl, von Kopf bis Fuß verkatert zu sein, niemals aufhört — da ist man selbst eine Ruine.

Was kann Menschen dazu bringen, diesen Zustand willentlich herbeizuführen? Man will diese Frage jedem selbsternannten Kriegsherrn ins Gesicht schmettern — Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin, aber auch Olaf Scholz und Annalena Baerbock, die ihrerseits einen Krieg bis zum letzten Ukrainer führen wollen, sich erklärtermaßen nicht um ihre Wähler scheren und mit beispiellosen Sanktionen den Wohlstand ihrer eigenen Bevölkerung aufs Spiel setzen:

„Does the pain weigh out the pride?“ — Wann überwiegt der Schmerz den Stolz?

Madeleine Albright, US-Staatssekretärin während der Clinton-Administration, hat jedenfalls ihre eigene Antwort auf diese Frage gefunden. Das Kabinett, dem sie angehörte, hatte den Irak im Zuge der Golfkriege der frühen 1990er-Jahre mit Sanktionen überzogen, so heftig, dass sie laut den Vereinten Nationen (UN) hunderttausende irakische Kinder das Leben gekostet hatten. Ob es diesen Preis wert war, wurde die Politikerin 1996 in einem Interview gefragt. Sie bejahte.

Eine Ironie des Schicksals, dass Präsident Bush bei einem Vortrag über den Ukrainekrieg noch in diesem Jahr einen ähnlich zynischen Versprecher hinlegte, der einem Geständnis wohl am nächsten kommt:

„The decision of one man to launch a wholly unjustified and brutal invasion of Iraq — I mean, of the Ukraine … Iraq, too. Anyway …“

Freud lässt schön grüßen.

Hin zur Menschlichkeit

Derweil klingt 21 Guns wieder an. Ich habe den Song in Dauerschleife laufen. Und der inhaltlich ebenso wie musikalisch starke Refrain gibt mir Kraft. Er referiert die Eigenart, bei der Beerdigungszeremonie eines Soldaten 21 Gewehrschüsse abzugeben:

One, twenty-one guns

Einer lässt sein Leben, aber die 21 Schüsse bringen ihn nicht zurück. Was ist das für ein seltsamer Brauch, jemanden, der wohl durch Schüsse starb, mit mehr von diesen zu verabschieden. Und einer Flagge über dem Sarg. Uniformiert. In meinen Augen ist das kitschiger als jede Liebesszene, die es jemals in ein Musikvideo schaffen könnte. Doch der Refrain enthält gleichsam das Rezept, um meine Gedanken von dieser Vorstellung abzuwenden. Es ist die zentrale Botschaft des Songs:

Lay down your arms and give up the fight
Throw up your arms into the sky
You and I

Man möchte es allen Soldaten dieser Welt zurufen, denen im Jemen, in der Ukraine, in Bergkarabach und überall sonst:

Legt eure Waffen nieder, stellt das Kämpfen ein! Werdet zum Du und Ich, tretet euch gegenüber als die Brüder und Schwestern, die ihr seid, und werft eure Hände in die Luft — denn was ihr zu feiern habt, ist nichts Geringeres als eure Menschlichkeit.


Wake Me Up When September Ends (Offizielles Musikvideo)


21 Guns (Offizielles Musikvideo)


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