Folgen der Intoleranz

 In Philosophie
Banlieue (Vorstadt) in Paris

Banlieue (Vorstadt) in Paris

Intoleranz ist der erste Vorwurf, der gegen islamistische Fanatiker erhoben wird, wenn mal wieder ein Anschlag verübt – oder angeblich verhindert – worden ist. Dabei konzentriert sich die Medien-Berichterstattung sehr schnell auf die Terrorbekämpfung, nicht auf die Suche nach Ursachen. Wie viel Toleranz haben die Täter in ihrer Biografie kennenlernen dürfen? Wie wurden ihnen von europäischen Mehrheitsgesellschaft Menschenrechte und Meinungsfreiheit nahe gebracht? Giovanni Russo geht in seiner neu gegründeten Philosophie-Rubrik solchen selten gestellten Fragen nach.

Es ist seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo und dem Mord an den Karikaturisten sowie an den anderen Opfern einige Zeit vergangen. Viel wird mit den Worten Toleranz, Intoleranz, Meinungsfreiheit argumentiert, und der aufmerksame Leser merkt bald, dass sie nicht immer in derselben Bedeutung gebraucht werden, im Gegenteil. Manchmal hat die Toleranz etwas von Herablassung, manchmal zeigt sie sich wie eine großherzige Tugend. Dasselbe gilt für die Meinungsfreiheit, sie kann als Beliebigkeit gemeint werden und Gleichgültigkeit, oder aber als die aktive Freiheit, sich unbehindert öffentlich zu äußern. Toleranz wird allgemein von den Anderen erwartet, Begrenzungen der Toleranz werden mehr oder weniger offen, mehr oder weniger subtil im Namen von Traditionen und sogar von Gefühlen gefordert. Und, nicht anders als in den letzten 500 Jahren, von der Meinungsfreiheit heißt es einerseits, sie sollte möglichst groß sein (aber wie groß?), und andererseits zeigt sich eine gewisse Angst, sie könnte missbraucht werden, selbstverständlich nicht von einem selber.

Bleiben wir beim 7. Januar in Paris, und versuchen wir, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Wie hat es mit Toleranz und freier Meinungsäußerung in der Biographie der Attentäter ausgesehen? Was erlebte Toleranz und das Recht auf Meinungsfreiheit angeht, haben sie diese Haltung kennengelernt? Wurden sie durch ihr Umfeld im Genuss dieses Rechts bestärkt, als freie Mitbürger und Träger von Menschenrechten? Soviel man wissen kann, scheint die religiöse Autorität ihrer Glaubensgemeinschaft einer sehr konservativen, streng patriarchalischen Lebensauffassung anzuhängen. Und, was die Auslegung ihrer heiligen Schriften betrifft, bewegen sich ihre Prediger noch diesseits jener Instanzen von Kritik, Reform und Entmythologisierung, welche volens nolens das moderne Christentum charakterisieren. Auf der anderen Seite, was das gesellschaftliche und politische Umfeld der Täter betrifft, so waren sie von jedem Wissen um die Existenz von irgendwelchen Menschenrechten abgeschnitten. Aussicht auf ein freies und menschenwürdiges Leben hatten sie keine. Diese jungen französischen Staatsbürger sind am untersten Rand von Staat und Gesellschaft aufgewachsen. Ihre Chancen in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht waren gleich null. Was soll auch die freie Meinungsäußerung, wenn die Last der primären Bedürfnisse so erdrückend ist: Essen, Trinken, ein Dach überm Kopf haben?

Stellen wir uns vor, diese jungen Franzosen hätten Glück gehabt – unter den gegebenen Umständen wäre es nichts mehr als ein glücklicher Zufall gewesen -, und irgendjemand wäre ihnen mit Achtung begegnet, hätte sie in Sachen des religiösen Glaubens und der Ethik zur freien Meinungsäußerung angeregt, hätte auf ihre Stärken gebaut und an ihr kritisches und selbstkritisches Denken appelliert. Hätten sie in diesem Fall ihre Selbstverwirklichung in Selbst- und Fremdzerstörung gesucht? Stellen wir uns auch vor, dass sie auf dem Gebiet des Lebens und der Arbeit nicht nur die gesetzlich verbrieften, formaldemokratischen Chancen gehabt hätten, sondern die realen gleichen Chancen, wie sie z.B. John Rawls als Grundsätze der Gerechtigkeit überhaupt postuliert: warum sollten sie dann mit einer Kalaschnikow in der Hand die Welt zum Guten verändern wollen? Denn das wollten sie auf ihre pervertierte Art mit Sicherheit, wie alle Religionen die Welt nicht verderben, sondern an ihrer Erlösung arbeiten wollen.

Die reale Chance, sich zu äußern, öffentlich zu sprechen, Kritik zu üben und – wohl das Wichtigste – auch nach der fälligen Auseinandersetzung an dem eigenen Dissens festzuhalten und unbehelligt in offenem Widerspruch zu Familie, Religion, Schule und Gesellschaft zu leben, ist das erste Element eines humanen und friedlichen Miteinander. Die Haltung der Toleranz setzt notwendig voraus, dass ich den Anderen grundlegend ernst nehme, schlicht als Anderen, als mir auch innerhalb meiner eigenen Gemeinschaft Fremden. Das bedeutet, dass durch die Toleranz des sozialen Umfeldes die Äußerung der eigenen Meinung von Angst befreit wird, sei es innerhalb einer Religionsgemeinschaft sei es innerhalb der Gesellschaft allgemein. Und, wenn es wahr ist, dass Destruktivität immer auf Angst wächst, kann die erlebte Toleranz dazu führen, dass bestehende Differenzen, die endlich ans Licht kommen, von den Betroffenen nicht ausagiert werden müssen. Wenn reale Chancen auf der Ebene des Rechts, aber auch der ethischen Lebensformen, garantiert sind, werden die Mitmenschen, die in den Banlieues nicht nur Frankreichs Widerspruch erheben, menschenwürdige Wege haben, sowohl um zu ihrer Wahrheit zu kommen, wenn es um Glaubensfragen geht, als auch um ihre Interessen zu verwirklichen, wenn es um wirtschaftliche, soziale und politische Ziele geht.

Es ist doch seltsam, und als lehrender Philosoph merkt man auf, wenn in der sogenannten westlichen Welt Meinungsfreiheit und Toleranz überhaupt zu einer Frage werden. Die Gedankenatmosphäre hat sich verdüstert. Man will manchmal zweifeln, ob es denn etwas gibt, worauf man mit Zuversicht schauen kann. Der Anspruch auf Toleranz jedoch wird sich verwirklichen lassen. Nicht, weil sich die Menschheit bessert, soviel Glauben braucht man gar nicht. Es ist eine simple Wahrnehmung, die uns zeigt, wie das elementare Bedürfnis und die Forderung nach Meinungsfreiheit sich in der Geschichte trotz Scheiterhaufen, Galgen und Kerker durchgesetzt hat.

In den nächsten „Philosophischen Blättern“ wollen wir diesem irritierenden Themenkomplex gelegentlich nachgehen: Hat das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit bedingungslos zu gelten, oder soll es durch Grenzen geregelt werden? Ist Meinungsfreiheit dasselbe wie freie Meinungsäußerung? Und wie sieht es mit diesen Rechten aus im Fall unserer immer wieder vergessenen Mitmenschen, der Kinder? Als philosophierende Menschen möchten wir den realen Chancen nach Kräften aufhelfen. Anlässe mitten in München gibt es genug.

Institut für Systemische Philosophische Praxis www.giovanni-russo.de
Twitter @PhilPraxisRusso

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