„Gedichte sind komprimierter Widerstand“

 In FEATURED, Kultur, Politik

Ab nächster Woche eröffnet HdS eine neue Lyrik-Reihe: „Auf Seiten der Menschlichkeit – Poesie und Widerstand“. Siljarosa Schletterer wird als „Lyrikbeauftragte“ von jetzt an jeden Mittwoch zeitgenössische Gedichte auswählen und kommentieren. Gemeinsam wird den Veröffentlichungen ein konsequentes Eintreten für Humanität sein. Dichten kann eine Widerstandshandlung sein, weil sie sich dem Banalen, Manipulativen und Vorgestanzten auf den Ebenen des Inhalts und der Sprache gleichermaßen entzieht. „Was diese Zeit am dringendsten benötigt, um nicht in die technokratische Barbarei zu driften, sind gerade Gedichte.“ (Peter Fahr)   Roland Rottenfußer

 

„Erhebt euch wie Löwen nach dem Schlummer

In unüberwindlicher Zahl

Schüttelt eure Ketten ab wie Tau,

Der im Schlaf auf euch gefallen ist –

Ihr seid viele – sie sind wenige.“

 

Diese zum Widerstand ermutigenden Verse stammen von Percy Shelley, dem englischen Romantiker und Aufrührer gegen alle weltlichen, geistlichen und „moralischen“ Autoritäten. Interessant ist, dass das Poem von einem zeitgenössischen linken Politiker, Jeremy Corbyn, 2017 bei Glastonbury Festival von tausenden von Zuhörern zitiert wurde. Dichtung und auf Gesellschaftliches zielende Rebellion waren Anfang des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt zwei getrennte Welten. Sie sollten es auch heute nicht sein.

Auch Novalis, der große deutsche Zeitgenosse Shelleys, hat mit seiner Parteinahme gegen „Zahlen und Figuren“ zum Aufruhr gegen einen technokratischen, materialistischen Geist aufgerufen, der heute sogar schlimmer eskaliert ist als es zu Lebzeiten der Romantiker der Fall war. „Dann fliegt von einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort“, beschreibt Novalis seine Vision einer konsequent „wiederverzauberten“ Welt. Es braucht dazu keinen physischen Maschinensturm – das Gedicht selbst ist das Widerständige, mithin die Selbstbewahrung des Dichtenden als eines fühlenden, ganzheitlichen, sich der autoritären „Verzweckung“ seiner Existenz konsequent entziehenden Menschen.

Konstantin Wecker hat das Gedicht des Novalis auf seiner CD „Ohne Warum“ aufgegriffen und erweitert. In seinem in lyrischer Prosa gehaltenen Buch „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ schreibt er: „Wenn wir den Homo oeconomicus Einhalt gebieten wollen, brauchen wir dazu eine Waffe, über die er nicht verfügt und deren Wirkkraft er nicht gewachsen ist. Am besten eine, mit der er überhaupt nichts anzufangen weiß. Es gibt so eine Wunderwaffe. Sie heißt Kreativität und sie entfaltet sich immer dann, wenn wir zweckfrei zu spielen beginnen.“

Und, das überraschend martialisch klingende Wort „Waffe“ bekräftigend: „Zu einer Waffe wird die Poesie erst dann, wenn sie unter die Haut geht und die Menschen tief in ihrem Inneren berührt. Sie wieder mit sich selbst, mit ihren ganz unten im Gehirn abgelegten Hoffnungen und Sehnsüchten verbindet. Dann kann es passieren, dass eine solche Person aufwacht und bemerkt, dass sie ihr Leben auf eine Weise eingerichtet hat, wie sie gar nicht Leben wollte.“

Unpolitische Lyrik kann mitunter widerständiger sein als die politische Phrase, weil ihre Ausdrucksweise dem Abgenutzten, Banalen und Standardisierten widersteht. Vor allem dem Manipulativen, wo es als Herrschaftsinstrument dient. Nicht nur „Nazis raus!“ ist politische Sprache – obwohl es ab und zu nötig ist, auch das in aller Klarheit zu sagen. Man bedenke: als „entartet“ stigmatisierten die Kulturfunktionäre des Dritten Reiches nicht nur Kunst, die offene Kritik an den Nazis übte, sondern auch solche, die „nur“ durchlässig war für die inneren Bilder des Künstlers, die nach außen drängten. Kunst, die in ihrer Wahrhaftigkeit oft gerade den ringenden, leidenden und „versehrten“ Menschen zum Thema hatte statt des makellosen völkischen Heroen.

Natürlich waren Dichter schon immer Verfolgte und Unbequeme in Regimen, die ihre Macht eher auf Gewalt als auf der Liebe und freien Zustimmung der Beherrschten gründeten. Victor Jara bezahlte in der Pinochet-Diktatur mit seinem Leben dafür, dass er Liedermacher war – links, kritisch, immer auf der Seite der Armen und Unterdrückten. Jara war, wie viele engagierte Sänger, Kommunist und Anhänger von Salvador Allende. An jenem 11. September 1973, dem Tag des Putsches, ließ Pinochet über 4000 Menschen verhaften. Jara traf es an Tag darauf, als er sich in der Universität, seinem Arbeitsplatz als Dozent, aufhielt. Er wurde mit vielen anderen ins Stadion von Chile gebracht und gefoltert. Unter solch bedrückenden Umständen entstand sein letztes Gedicht: „Wir sind fünftausend“. Jaras Peiniger brachen ihm die Hände, damit er nie mehr würde Gitarre spielen können. Hämisch riefen sie ihm zu, er solle doch singen, wenn er ein Sänger sei. Tatsächlich soll Victor Jara daraufhin die Hymne der chilenischen Linken angestimmt haben: „Venceremos“ (Wir werden siegen). Er wurde zusammengeschlagen und bald darauf mit einem Maschinengewehr getötet. Der Begriff „Liedermacher-Legende“ wird oft zu leichtfertig verwendet – hier stimmt er.

Auch der große, glutvolle Dichter Pablo Neruda, der hinreißende Oden an den Wein, das Meer und die Tomate verfasste, musst 1946 seine Heimat Chile aus politischen Gründen verlassen. „Seinem“ Präsidenten González Videla, einem Vorgänger Pinochets, rief er in einer öffentlichen Rede zu: „Sie haben das Volk, durch dessen Stimme Sie Präsident geworden sind, belogen und betrogen. Statt die Armut zu bekämpfen, wie Sie es versprochen haben, festigen Sie nur die Macht der wenigen Reichen, die das Volk aussaugen wie Vampire.“ Das ist der Tonfall einer politischen Rede, weitgehend „normalsprachlich“ gehalten. Neruda beherrschte aber auch den bilderreichen, poetischen „Verriss“ eines Tyrannen. So in seinem Gedicht „General Franco in der Hölle der Verdammten“:

 

„Du verdienst zu schlafen nicht,

wenn deine Augen auch mit Nadeln zugesteckt: du musst

wachen, General, ewiglich wachen,

inmitten der Verwesung der jüngst Gebärenden,

kugelzerfetzt im Herbst.“

 

Die direkte politische Kritik ist in unserer Epoche wie in allen Zeiten wichtig. „Nie wieder Krieg!“ ist ein wahrer, im besten Sinn notwendiger Ausruf. Die poetische Kritik allerdings widersteht gleich in zweierlei Hinsicht: auf der Ebene des Inhalts wie auf der der Sprache. Wie eindrucksvoll und auf unheimlich-beängstigende Weise ins Gemüt greifend ist Georg Heyms Schilderung in „Der Krieg“:

 

„In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,

Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.“

 

Und, so sehr wir diese tapfere, mit der Genialität der Verzweiflung verfassten Anklage-Poesie auch wertschätzen – es ist auch Widerstand, wenn Rilke schreibt:

 

„Ach, ich meinem wilden Herzen nächtigt

Obdachlos die Unvergänglichkeit.“

 

Oder:

 

„Durch alle Wesen reicht der eine Raum, Weltinnenraum.

Die Vögel fliegen still durch uns hindurch“?

 

Es ist Widerstand, weil es zwar nicht das politische System, wohl aber unsere Welt- und Selbstwahrnehmung grundlegend revolutioniert, wenn wir bereit sind, in die Tiefe dieser Zeilen einzudringen?

„In gewisser Weise bin ich ein Vermittler von etwas, das durch mich hindurchfließt und oft schöner, bedeutender und ergreifender ist als das, was mich ausmacht. Der Weg nach innen führt über mich hinaus“ schrieb der Schweizer Dichter Peter Fahr, dessen schönen Aufsatz wir auch auf „Hinter den Schlagzeilen“ veröffentlichen durften.

Lyrik ist Widerstand schon durch ihre Schwerverkäuflichkeit, weil sie sich dem Kommerz, der Eingängigkeit und der Anbiederung durch ihr bloßes So-Sein widersetzt. Es gibt Verlage, die unliebsame Zusendungen schon auf ihrer Homepage mit dem Hinweise „keine Lyrik“ abzuwehren suchen – so groß ist offenbar die Angst vor dem Eigentümlichen, Sperrigen und insofern vermeintlich nicht Leserfreundlichen. Als wäre freundlich zu Lesern nur derjenige, der sie niemals fordert, sie niemals in neue Weiten führt und stets innerhalb der sprachlichen Komfortzonen des Gewohnten festhält!

Lyrik ist nicht ökonomisch, jedoch sparsam insofern, als sie sich der Geschwätzigkeit widersetzt und mit verhältnismäßig wenigen Worten in die Tiefe führt.

Lyrik ist nicht dogmatisch, weil sie mehrdeutig und nicht ausinterpretierbar ist. Konstantin Wecker schreibt: „Die Poesie lehrt uns, dass nichts zu Ende interpretierbar ist und dass man die Interpretationshoheit nicht den Herrschenden überlassen darf.“ Und noch deutlicher: „Die Poesie ist anarchisch! Sie lässt sich nicht zwängen in ein ideologisch starres Gebäude, selbst wenn sie sich ab und an sogar darin wiederfindet.“ Poetische spirituelle Texte wie etwa jene aus Bibel und Koran in ein einheitliches Deutungsmuster zu zwängen und sie für Machtbestrebungen zu instrumentalisieren, ist daher besonders verwerflich. Dies spiegelt die Angst schwacher Menschen, vermeintlich klarer Wahrheitsbesitz könne in die Bereiche des Nicht-Festlegbaren und Nicht-Handhabbaren verschwimmen. Genau das, was ihnen Angst macht, bedeutet für uns jedoch Hoffnung.

Lyrik ist vielfach in ihrer Essenz Liebe, auch dort wo sie dem Lieblosen, das sich überall auf der Welt und in den Seelen ausgebreitet hat mit konfrontierenden Worten „widersagt“. Denn die Abneigung gegen das Einengende und Verhärtende wurzelt in einer tiefen Zuneigung gegen alles, was diese zu verschütten drohen: das sich in Freiheit und Schönheit entfaltende Leben.

Lyrik führt in jene Stille zurück, der sie letztlich auch entspringt. Oder, wie es der Körperpsychotherapeut Frank Moosmüller sagte: „Jedes Wort ist eine Bitte um Schweigen”.

„Für die Liebe Worte zu finden, ist immer Ersatz”, schrieb der Dichter Winfried Paarmann. Und Konstantin Wecker in „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“: „Poesie lehrt uns, dass Worte nur Symbole sind. Keine Wahrheit, kein Dogma, nichts Endgültiges, Unzerstörbares: nur Symbole. Das wollen uns auch die Buddhisten erklären, wenn sie sagen: ‚Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond.‘“

„Wenn du nichts hast als die Liebe, um zu den Kanonen zu sprechen und nichts als ein Lied, um die Kriegstrommeln zu besiegen…“, sang der große belgisch-französische Chansonnier Jacques Brel. Oder mit den Worten Weckers: „Das wird eine schöne Zeit, wenn Krieger vor Lieder fliehn und Waffen Gedichten erliegen.“

Ein Mann mit einem Gewehr in der Hand kann einen Dichter mit einer kurzen Bewegung seines Fingers töten, mag dieser auch noch so künstlerisch hochwertige Worte rezitieren. Das ist ernüchternd für alle Idealisten und trägt ihnen oft den Vorwurf der Naivität ein. Und doch: gute, aufklärende und herzöffnende Literatur – ob Lyrik, Roman oder Sachbuch – kann helfen, das Bewusstsein vieler Menschen so zu formen, so dass sie sich den Kriegen und ihren scheinbar unausweichlichen Imperativen entziehen. „Bewusstsein“ und Liebe können das Morden nicht immer stoppen, und doch wird sich ein bewusster und liebevoller Mensch weitaus schwerer zum Mörder abrichten lassen.

Sprache „gewinnt“ nicht immer. Aber ist die deshalb völlig machtlos, ja sogar überflüssig? Natürlich nicht! So sehr Sprache auch oft versagt, wenn es darum geht, die äußere Welt abzubilden, so genial, so einzigartig ist sie darin, die innere Welt jedes einzelnen Menschen zu berühren und zu erwecken. Die Sprache ist eine schlechte Kopistin, aber eine unvergleichliche Schöpferin, die aus ihrem Buchstabenschoß beständig neue Welten gebiert. Sprache drängt dem Menschen – im Gegensatz etwa zum Film – nicht die Bilderwelt ihres Urhebers auf, sie dient aber als Schlüssel, um ihm Zugang zu seiner eigenen inneren Bilderwelt zu verschaffen.

Man kann dies nachvollziehen, wenn man auf Seminaren schon einmal Phantasiereisen mitgemacht hat. Obwohl der Seminarleiter für alle Teilnehmer denselben Text gesprochen hatte, zeigt ein Vergleich bei der anschließenden Feedback-Runde: jeder hat etwas völlig anderes erlebt, etwas völlig anderes “gesehen”. Wenn jemand “Rose” sagt, sieht jeder Hörer eine ganz andere Rose, nämlich “seine” Rose. Diese Kraft, zu evozieren, wach zu rufen –schön ausgedrückt in Eichendorffs Gedicht “Schläft ein Lied in allen Dingen” – können wir uns zunutze machen, wenn wir über Liebe oder ein anderes Thema sprechen. Wir widerstehen damit noch nicht im engeren Sinn „den Nazis“ oder „den Kapitalisten“, wohl aber zunächst jeder Eindeutigkeit und Einseitigkeit, die zugleich auch immer Einengung ist.

Poesie ist zu Worten geronnene, gewaltfreie Selbstverteidigung gegen das große Erkalten, das uns aufgezwungen wird. Sie ist umso wichtiger, je mächtiger und destruktiver der Angriff, der gegen die Menschlichkeit geführt wird. „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, ist ein ehrenwerter Satz Adornos – jedoch einer, an den sich nachgeborene Lyrikerinnen und Lyriker mit gutem Grund kaum gehalten haben – auch jüdische übrigens. Denn Dichtung ist Ausdruck jener Menschlichkeit, die die Nazis auf brutalste Weise zu zerstören versucht haben und doch nie vollständig zu zerstören vermochten.

 

„Die ich Liebe ist schön, unsagbar schön,

Ich seh sie vor mir in ihrem Sommerkleid

Mit einem Kamm im schwarzen Haar.“

 

Diese liebevollen Zeilen stammen überraschenderweise aus der Mauthausen-Kantate von Mikis Theodorakis (Musik) und Iakovos Kambanellis (Text), einem Chorwerk über die Konzentrationslager. Man kann das Grauen auch härter und direkter beschreiben; diese Worte aber zeigen, was verloren gegangen ist in den Vernichtungslagern – und was es zu bewahren gilt vor den neuen Angriffen der Unmenschlichkeit – mögen diese auch heute smarter und besser getarnt daherkommen.

Wunderbar beschreibt Peter Fahr die wichtige Funktion von Gedichten, auch und gerade in unserer Zeit: „Die westliche Welt der Postmoderne – unsere globalisierte Gesellschaft – zerstört die Poesie. Es braucht eine ungeheure Anstrengung, sich den poetischen Blick zu bewahren. Es ist nicht die Zeit für Gedichte. Doch was diese Zeit am dringendsten benötigt, um nicht in die technokratische Barbarei zu driften, sind gerade Gedichte. Ihre Poesie widersetzt sich der wertfreien Rationalität des neoliberalen Menschen. Ihre Magie widerlegt eine irregeleitete Wissenschaft, die nicht Halt macht vor der Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Natur.“

Und er schließt: „Auch die Politik mit ihren Kriegen und humanitären Katastrophen braucht eine lyrische Gegenkraft. Nach Auschwitz, Korea, Vietnam, Ruanda, Bosnien, Afghanistan, Tschetschenien, dem Irak und Syrien keine Gedichte zu schreiben, wäre barbarisch.“

 

Siljarosa Schletterer

Siljarosa Schletterer wird ab Mittwoch nächster Woche unsere neue Reihe „Auf Seiten der Menschlichkeit – Poesie und Widerstand“ betreuen. Sie wird in den nächsten Tagen auch einen eigenen Artikel über Lyrik veröffentlichen. Auch das schöne Eingangszitat – „Gedichte sind komprimierter Widerstand“ stammt von ihr. Siljarosa Schletterer wohnt in Innsbruck und ist selbst Lyrikerin. Sie bezeichnet die Poesie als ihre „große Leidenschaft“. Auf Radio Freirad übernahm die studierte Musik- und Literaturwissenschaftlerin die Konzeption, Redaktion und Moderation der Lyriksendung „wortflAIR“. Jahre lang veröffentlichte sie Lyrik-Rezensionen. Sie ist im Organisationsteam des Lyrikfestivals W:ORTE in Innsbruck, ist Vizepräsidentin der IG Autorinnen und Autoren Tirol sowie Vorstandsmitglied dieser Organisation in ganz Österreich.

 

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