Geeint in die Barbarei

 In FEATURED, Politik (Inland), Roland Rottenfußer

Die Union hat sich „zusammengerauft“ – der eigentliche Verlierer beim Unions-Sommertheater ist die Humanität. Erleichtertes Aufatmen in Deutschland: Die Unionsschwestern bleiben zusammen – und Geflüchtete werden künftig in Internierungslagern konzentriert. Das unerträgliche Hickhack der letzte Tage und Wochen beweist vor allem eines: Eine Clique entschlossener Akteure vermag es, der Republik durch Penetranz, Erpressung und Theaterdonner ihren Willen aufzuzwingen. Oder wollte auch Merkel schon lange den Rechtsruck? Eine „gesamteuropäische Lösung“ jedenfalls ist gefunden: Ganz Europa tanzt jetzt nach der Melodie rechter Scharfmacher und entsorgt seinen humanen Wertekanon auf dem Müllhaufen der Geschichte. (Roland Rottenfußer)

Schon vergessen? Ende Mai trat das neue Bayerische Polizeiaufgabengesetz in Kraft, das schärfste Polizeigesetz seit 1945. Es enthält unter anderem Bestimmungen über Präventivhaft, die Verwendung von Bodycams durch Polizeibeamte, den Freibrief für umfangreiche Bespitzelungs- und Überwachungsmaßnahmen sowie den fragwürdigen Begriff der „drohenden Gefahr“. Zehntausende gingen deswegen am 10. Mai in München auf die Straße. Die bayerische Regierung unter Markus Söder blieb jedoch unbeeindruckt. Merkel und die „Schwesterpartei“ CDU schwiegen zu dem schändlichen Gesetz, das einen weiteren Schritt auf dem Weg in den totalen Polizei- und Sicherheitsstaat darstellt.

Damals, als ich bei der Demonstration mitlief, war ich positiv überrascht von der herrschenden Aufbruchsstimmung und von der Anzahl der Demonstranten. Ich hoffte, dass es in der Folge zu einem massiven Popularitäts- und Bedeutungsverlust der CSU kommen würde. Dieser Wunsch schien sich in den letzten Tagen auf wundersame Weise zu erfüllen – jedoch nicht wegen des Polizeigesetzes, das nach kurzem Aufbäumen eines Teils der Öffentlichkeit offenbar niemanden mehr juckt.

Vielmehr hat der Konflikt Merkel versus Seehofer um die Abweisung von Flüchtlingen an deutschen Grenzen den krachledernen „Christen“ offenbar massiv geschadet. Nur noch 34 Prozent der Bayern würden nach aktuellen Umfragen derzeit die CSU wählen – Negativrekord und eine Ohrfeige für Markus Söder, der bekanntlich noch nie eine Landtagswahl gewonnen hat und von CSU-Gremien am Volk vorbei auf den Ministerpräsidentensessel gehoben wurde.

Alles starrt auf Seehofer

Nach der langen Nacht vom Sonntag auf Montag, als das ganze politisch interessierte Deutschland wie ein Kaninchen auf die Schlange Seehofer starrte, bis dieser mit einem „Rücktritt – vielleicht, aber…“ vor die Kameras trat, zeigten sich die meisten Medienkommentatoren genervt. Der Konflikt wurde überwiegend der CSU angelastet, die nach verbreiteter Meinung auf unverantwortliche Weise mit dem Schicksal der Nation gespielt hatte.

Einen Tag später, nach dem „Asylkompromiss“ der Union, bleibt unklar, ob sich nicht – mit ein bisschen Hilfe befreundeter Medien – eine andere Lesart durchsetzt: Die „Schwestern“ hätten sich in letzter Minute doch noch auf ihre Verantwortung für Deutschland besonnen, hätten brüderlich ohne Herz, aber mit harter Hand den Asylsumpf trockengelegt.

Tatsächlich hing wohl selten zuvor in der Nachkriegsgeschichte so viel von einer kleinen Clique von derart geringem Niveau ab wie in diesen Tagen.

Allein diese Tatsache ist ein Armutszeugnis für die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie.

Angesichts der chronischen Schwäche der SPD ist zu befürchten, dass wir für weitere Jahrzehnte maßgeblich von der Union regiert werden. Immer mit dabei: die CSU, eine Partei, die sich von der rechtsextremen AfD fast nur noch dadurch unterscheidet, dass sie es klugerweise unterlässt, die Nazi-Diktatur zu verharmlosen. Schon waren von Alice Weidel Werbungsrufe in Richtung ihrer bayerischen Seelenverwandten zu vernehmen. Die AfD-Vorsitzende schloss eine Koalition mit der CSU nicht aus. Laut einer Focus-Umfrage würde sich heute jeder zweite AfD-Wähler für die CSU entscheiden, träte diese bundesweit an. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.

Die Unmenschlichkeits-Avantgarde

Peinlich ist dies auch für Merkel und die CDU: Immer wieder wird die Geschwisterlichkeit der beiden Unionsparteien und die schicksalhafte Unauflöslichkeit ihres Bündnisses beschworen, während sich die CSU immer mehr als Partei des rechten Rands etabliert, deren Positionen mit der der AfD zur Deckung kommen. Dies kann seitens der Merkel-Partei natürlich pures Machtkalkül sein.

Möglich ist aber auch, dass die CSU von der CDU als eine Art Unmenschlichkeits-Avantgarde bewusst toleriert wird – als eine Lokomotive, die den Unionszug nach rechts ziehen soll, während gemäßigte Wähler sich weiterhin vom Lächeln ihrer Kanzlerin bezirzen lassen.

Es wäre nichts neues, dass eine Partei mindestens zwei Flügel kultiviert, die miteinander Scheingefechte ausführen, um damit ein möglichst breites Spektrum von Wählern „mitzunehmen“. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass der ganze Streit zwischen Merkel und Seehofer reiner Fake war – dagegen spricht unter anderem die verhärmte Miene des CSU-Vorsitzenden, der kein allzu guter Schauspieler ist. Auch innerhalb ein- und derselben neoliberal-bellizistischen Glaubensgemeinschaft kann es persönlichen Ehrgeiz, Hahnen/Hennenkämpfe und Empfindlichkeiten geben.

Unbarmherzige Samariter

Dennoch könnte das ganze medial zum Epochenwechsel der Menschheitsgeschichte aufgebauschte Drama folgenden (beabsichtigten oder unbeabsichtigten) Effekt haben. Merkel geht zwar gefleddert, jedoch in den wesentlichen Punkten als „Siegerin“ aus dem Streit hervor – immerhin „darf“ sie weiter Kanzlerin bleiben. Wer jetzt eine gegenüber Flüchtlingen humanere Politik befürwortet, atmet erleichtert auf und wendet sich wieder der Fußball-WM zu. Die „Gute“ hat gegen den „Bösen“ gewonnen. Es ist noch mal glimpflich ausgegangen. Währenddessen werden in Südostbayern Internierungslager für Menschen hochgezogen, deren einziges Verbrechen darin besteht, auf der Flucht zu sein.

Nicht alles an dem Unions-Streit dürfte gespielt sein. Wahr ist, dass die CSU Merkel wegen der menschlichsten Entscheidung ihrer Amtszeit mit zähem, giftigem Hass verfolgt. Und dies obwohl Seehofer & Co. insofern hätten beruhigt sein müssen, als von der Kanzlerin ja sonst nicht allzu viel Menschlichkeit zu erwarten war.

Diese eine „Tat“, im Jahr 2015 die Grenzen für tausende aus Österreich einreisende Flüchtlinge zu öffnen, provozierte die unbarmherzigen Samariter, die sich „Christsoziale“ nennen, jedoch so sehr, dass sie seitdem penetrant auf die Wiederherstellung der Unmenschlichkeit an der deutschen Außengrenze pochen.

Merkel soll zu dem Repressionspapst aus Bayern ihren Gang nach Canossa antreten.

Der größere Kontext europäischer Inhumanität

Mit dem jüngsten „Asylkompromiss“, der Geflüchtete grenznah, aber formal mit einem exterritorialen Status, aufbewahren will, hat die CSU ihr Ziel nun fast erreicht. Ankommende werden nicht mehr direkt an der Grenze, sondern gleich dahinter; sie werden nicht mehr sofort, aber ein paar Wochen später nach Österreich zurück verschoben, so als handle es sich bei diesen Menschen um eine kontaminierte Lastwagenladung. Sieg für die CSU in der zentralen Frage.

Die Bundeskanzlerin durfte ihr Gesicht nur insofern wahren, als bayerische und deutsche Inhumanität nun explizit in einen größeren Kontext europäischer Inhumanität eingebettet sind.

Wer nun von Entwarnung redet, übersieht, dass die Pläne, die beim EU-Gipfel beschlossen wurden, nochmals eine drastische Verschlechterung für die Situation der Flüchtlinge beinhalteten. Das ist das eigentlich Erschütternde an den Vorgängen dieser Tage. Wenn überhaupt mal etwas „wird“ in diesem zerstrittenen Europa mit seinen überwiegend mediokren Akteuren, dann wird es schlimmer. Der Showdown vollzieht sich nur noch zwischen „Schlimm“ und „Sehr schlimm“.

Aufgabe der humaneren Kräfte in diesem bösen Spiel ist es nur noch, die Geschwindigkeit, mit der sich Verschlechterungen scheinbar unaufhaltsam vollziehen, zu verringern. Eine solche politische Landschaft vermag nicht mehr zu begeistern und niemandem Mut einzuflößen. Viele, zu viele wenden sich ab – und überlassen dadurch der Inhumanität erst recht das Feld.

„Realpolitik“ mit hartem Herzen

„Der Pharao verhärtete sein Herz“, heißt es in der Genesis, und dieser Verhärtungsprozess ist allenthalben zu beobachten. Schon triumphieren Kommentatoren präventiv, auch Andrea Nahles habe damit begonnen, ihre Partei auf eine „realistische Flüchtlingspolitik“ einzuschwören.

Wie meistens in der Politik meint „Realismus“ die feige Anpassung an Rahmenbedingungen, die von starken Machtgruppen vorgegeben wurden, gegen die man nicht zu rebellieren wagt.

Als „realistisch“ gilt die Fehlannahme, ein Phänomen – in diesem Fall das Flüchtlingselend – würde in dem Moment verschwinden, in dem man die Augenlider senkt. „Living is easy with eyes closed“ (The Beatles). Als realistisch gilt die Annahme, das Problem ließe sich lösen, indem man es immer weiter nach außen verschiebt: nach Österreich, Ungarn, Serbien, Griechenland, Ägypten… Als realistisch gilt es, hungernden Menschen das Schlimmste zuzumuten, der eigenen satten Bevölkerung jedoch nicht einmal den lästigen Anblick dieser Notleidenden.

Etablierte Politik bedeutet systematische Desensibilisierung. Man gewöhnt uns daran, dem Leiden bestimmter Bevölkerungsgruppen regungslos zuzusehen, solange es nur nicht die eigene Gruppe trifft. Wir gewöhnen uns an den Gedanken, dass es mitten unter uns – oder ganz in unserer Nähe – Zonen reduzierter Menschenwürde gibt. Wir haben unseren Frieden mit fast allem gemacht, selbst mit dem Krieg.

Man verführt uns zu einer voyeurhaften Komplizenschaft, die in uns bewusst oder unbewusst Scham hervorruft. Denn im Grunde weiß eine Instanz in uns immer, was Menschlichkeit ist, egal wie lange wir diese Erkenntnis in uns unterdrückt haben. Einmal in einem Unrechtssystem „mitgefangen“, begehren wir nicht mehr auf, denn das würde ja bedeuten, gleichsam gegen uns selbst zu rebellieren, gegen die gleichgültige Mehrheitsgesellschaft, welche die Internierung unschuldiger Hilfesuchender veranlasst – oder zugelassen – hat.

Die Komplizenschaft der Mehrheitsgesellschaft

Ab einem gewissen Stadium der Verdrängung wäre Umkehr gleichbedeutend mit einem Schuldeingeständnis. Das scheuen die meisten und reden sich die aktuellen, eigentlich unfassbaren Vorgänge schön.

Während Menschen noch immer in den Fluten des Mittelmeers ertrinken, sorgen sich Zuschauer auf bequemen Fernsehsesseln um den Gesundheitszustand von Merkel und Seehofer, die in Nachtsitzungen um den smartesten Weg der Hilfevermeidung ringen.

Was wir bräuchten, ist systematische Re-Sensibilisierung. Immer und immer wieder müssten uns Medien, Kunstschaffende, müssten uns Freunde, Verwandte und Kollegen auf den Einzelmenschen hinweisen – auf sein Schicksal als liebendes, leidendes, nach Glück verlangendes Wesen. Wir müssten aber auch bereit sein, uns diese Schicksale anzuschauen, genau hinzusehen, auch wenn es weh tut und wenn uns aus der Wahrnehmung eine lästige Aufforderung erwächst, zu handeln.

Politiker, vor allem solche der CSU und der AfD, blicken auf „die Flüchtlingsfrage“ wie auf einen Ameisenhaufen. Irgendwo am unteren Rand ihres Blickfelds wuselt es, ist eine Überzahl festzustellen, die stört, anwidert und beängstigt. Da muss man Fluten eindämmen, Ströme kanalisieren, Zahlen begrenzen, Obergrenzen festlegen – als seien Menschen nicht mehr wert als Wassermoleküle.

Auf das Einzelschicksal schauen!

Das Gegenteil dieser erhöhten Perspektive wäre das Sehen mit einem Vergrößerungsglas. Karim ist aus dem Iran emigriert, nachdem man ihn wegen „falscher“ Äußerungen über die Regierung drei Tage lang angekettet an seinen ausgestreckten Armen aufgehängt hatte. Heute wohnt er als Untermieter in einem Privathaus in Nordrhein-Westfalen. Es geht ihm gut, auch wenn zu vermuten ist, dass das Trauma nachwirkt. Den Kontakt zu seinem Vermieter bekam er über eine Frau, die ihm privat und ehrenamtlich Sprachunterricht erteilte.

Der Name ist verändert, das Fallbeispiel aber authentisch, ich habe es aus seinem eigenen Mund. In ein paar Wochen würde ein solcher Mann vielleicht in einem südbayerischen „Transitzentrum“ landen, denn wer legal nach Deutschland einwandern will, muss in unserem von „sicheren“ Drittländern umzingelten Land wohl vom Himmel gefallen sein.

Horst Seehofer bleibt vielleicht nicht mehr „ewig“ auf der politischen Bühne. Sein Fast-Rücktritt könnte auch der Hilferuf eines von seinem Seniorenjob als Innenminister Überforderten gewesen sein. Sein Schwanken und Schwächeln, sein Pöbeln und Intrigieren wird vielen als Tiefpunkt der politischen „Kultur“ in Deutschland im Gedächtnis bleiben. Aber was hilft es dem Land, wenn Seehofer geht, ein anderer CSU-Mann mit ähnlich kruden Ansichten aber an seiner Stelle kommt?

Einzig das Auseinanderbrechen der Union wäre aus linker Sicht eine Chance gewesen. Das Bröckeln des lange unbesiegbaren Machtblocks „Union“ hätte Koalitionsoptionen jenseits des Gewohnten eröffnen können – allerdings auch solche, bei denen die Zündler Gauland und Lindner ihre Hände im Spiel gehabt hätten. Vorbei auch diese schwache Hoffnung.

Was jetzt kommt, könnte der Abstieg Europas in die offene Barbarei sein, der „Abfall der Epoche vom Humanen“ (Thomas Mann).

Verkennen wir nicht, was die Europa-Beschlüsse wirklich bedeuten:

Die Verursacher wollen das Elend nicht sehen

Zunächst, ganz allgemein gesprochen, bedeuten sie: Europa will sich das Elend nicht ansehen müssen, dass es selbst mit verursacht hat. Es schlägt eine schalldichte Tür zu, um das Geschrei der globalen Unterschicht nicht hören zu müssen. Wen kümmern die Zustände in den Schlachthöfen, solange das Fleisch schmeckt?

Europa redet von „Bekämpfung von Fluchtursachen“, ohne die drei Hauptursachen auch nur annährungsweise in Angriff zu nehmen: das kapitalistische, für den Süden noch mehr als für den Norden zutiefst destruktive Wirtschafssystem, eine mörderische Kriegspolitik und einen unverantwortlichen Umgang mit dem Weltklima – drei Fluchtursachen, für die mit Ausnahme der USA niemand größere Verantwortung trägt als eben Europa.

Diese Asylpolitik versucht die Rauchentwicklung zu bekämpfen, ohne das Feuer zu löschen.

Die europäischen Regierungen lenken den Zorn ihrer Bürger von sich selbst weg, hin zu den„Schleppern und Schleusern“, denen „das Handwerk gelegt“ werden müsse. Dazu ist zunächst zu sagen: Irgendjemand muss ja die Hilfe bei der Flucht aus unerträglichen, oft lebensgefährlichen Zuständen in der Heimat organisieren. Dies zu tun, ist zunächst einmal gut, bedeutet für viele Rettung. Wenn „Schlepper und Schleuser“ überdies das Helfen zum Geschäft machen, Fluchtwillige abzocken und sie auf windigen Booten in Lebensgefahr bringen, so agieren sie lediglich als Spiegelbilder jener profitorientierten „Werte“ der europäischen Staaten. Es ist pure Heuchelei, Fluchthelfern Geschäftssinn vorzuwerfen, als sei für europäische Politiker Geld ein Fremdwort.

„Schutz der EU-Außengrenzen“ bedeutet in letzter Konsequenz das Ende eines individuellen Rechts auf Asyl. Allein das Wort „Schutz“ suggeriert eine kriegerische Bedrohung, wo es in Wahrheit doch um hilfesuchende Menschen geht, nicht um eine gegen Europas Grenzen anbrandende Vandalenhorde.

Wettbewerbsfähig in punkto Unmenschlichkeit

Zwar fantasieren die Europäer noch von Auffanglagern in Nordafrika, in denen europäische Sachbearbeiter über Asylanträge zu entscheiden hätten, ohne dass besorgte Bürger durch den Anblick zu vieler „arabisch“ oder „afrikanisch“ aussehender Menschen belästigt würden –doch machen sie diese Rechnung vorerst ohne den nordafrikanischen Wirt. Ägypten hat sich bereits gegen solche „Lager“ im eigenen Land ausgesprochen. Und es ist ohnehin ein fragwürdiges Verfahren, Menschen, die nach Freiheit und Menschenrechten verlangen, in menschenrechtsfernen Ländern wie Libyen oder der Türkei „zwischen zu lagern.“

Wenn „Binnenmigration“ von Flüchtlingen zwischen verschiedenen EU-Staaten delegitimiert wird, bleibt das alte Prinzip bestehen: „Wer am weitesten im Süden ist, hat die Arschkarte“ – meist also Spanien, Italien oder Griechenland. Sollen die Flüchtlinge dagegen „gerecht“ unter den Ländern verteilt werden, steht derjenige als „der Dumme“ da, der sich nicht – wie Ungarn oder Polen – radikal abschottet.

Ein besonderes Ärgernis stellt für Merkel & Co. offenbar die Vorstellung dar, Flüchtlinge könnten sich „aussuchen, wo sie leben wollen“ – als sei es schon eine Unverschämtheit, wenigstens minimales Mitspracherecht über das eigene Schicksal zu fordern. Klar, eine freie Wahl des Ziellandes würde diejenigen Staatenbenachteiligen, die wohlhabend sind und sich bisher in der Flüchtlingsfrage einigermaßen menschlich verhalten haben. Bisher gehörte Deutschland zu den „Verlierern“, weil zu den beliebtesten Ländern Europas.

Aber das Land ist mit CSU-Hilfe dabei, seine Wettbewerbsfähigkeit in punkto Unmenschlichkeit zu erhöhen.

Wenigstens dieses unwürdige Spektakel der Abschreckung durch möglichst miese Behandlung von Hilfesuchenden könnte beendet werden, wenn Europa „Flüchtlingskontingente“ an die einzelnen Länder verteilt. Es könnte aber auch auf eine Gesamt-Abschreckungsstrategie in der Art hinauslaufen, dass Flüchtlinge nunmehr in allen europäischen Ländern gleichermaßen schlecht behandelt werden.

Internierungslager für Unschuldige

In punkto Flüchtlingsaufbewahrung scheinen Internierungslager die Idee der Stunde zu sein. Eigentlich also Gefängnis für völlig Unschuldige. Ob „Ankerzentren“ beziehungsweise „Transitzentren“ im eigenen Land oder Auffanglager weit weg an der libyschen Küste – in beiden Fällen wäre der Aufenthalt kein freiwilliger mehr. Das Schicksal der Internierung träfe vielfach Menschen, die ohnehin durch Menschenrechtsverletzungen in ihrer Heimat traumatisiert wurden. Man stelle sich vor, deutsche Exilliteraten, die nach 1933 aus Nazideutschland in die USA emigrierten, wären dort in Zelt- oder Barackenlagern untergebracht worden, herumkommandiert von Bewaffneten, die über ihre „Residenzpflicht“ wachten. Thomas Mann, Lion Feuchtwanger oder Ernst Bloch etwa.

Schwer vorstellbar eigentlich, wie sich diese Entwürdigung für Betroffene anfühlen muss.

Die EU-„Flüchtlingspolitik“ erniedrigt die ohnehin schon Erniedrigten. So sind die Wunden die die Kolonialzeit und heutige, „moderne“ Formen der Ausbeutung zwischen Nord und Süd aufgerissen haben, nicht zu heilen.

Im Gegenteil werden Hass und Unverständnis wachsen, werden wir, sobald von europäischen und westlichen „Werten“ die Rede ist, künftig nur noch Hohngelächter ernten – sofern dies nicht jetzt schon der Fall ist.

Eine Kultur der unterlassenen Hilfeleistung

Wie schlimm muss es sein, nirgendwo erwünscht zu sein, zwischen Angewiderten hin- und hergeschoben zu werden als sei man ein Aussätziger.

Wie schlimm muss es sein, als Geflüchteter – ohnehin in verzweifelter Lage – mitzubekommen, dass die Kreativität von 20 Kulturnationen fast nur noch darum kreist, möglichst geschickte Finten zu ersinnen, um einen loszuwerden.

Zu sehen, dass die Länder des reichen Nordens einander gegenseitig zu übervorteilen suchen im Bemühen, dem jeweils anderen den „schwarzen Peter“ (also meist farbige Menschen) zuzuschieben. Ist die Verweigerung von Hilfe jetzt zur eigentlichen Seele des „Alten Europa“ geworden?

Offenbar haben wir ein Stadium erreicht, in dem eine vollzogene Herzamputation die Zugangsvoraussetzungen für höhere politische Ämter darstellt. Es gab Zeiten, da haben die Medien – in Kooperation mit großen Teilen der Zivilgesellschaft – ernsthaft zu kämpfen begonnen, wenn sie etwas verhindern wollten, was sie als gefährlich erkannt hatten. So etwa der „Spiegel“ in den 70er-Jahren, als es darum ging, Franz Josef Strauß als Bundeskanzler zu verhindern. Heute behandeln die Medien Menschlichkeit und Unmenschlichkeit mit gleichermaßen lauer, wägender Fairness. Niemand scheint zu sehen, was wirklich auf dem Spiel steht.

Wollte Merkel den Rechtsruck?

Die CDU hat sich von der CSU in AfD-Nähe schubsen lassen, weil sie es zugelassen hat. Eine Trennung der siamesischen Zwillinge des neoliberalen Bellizismus hätte den kleineren Partner stärker gefährdet als den größeren. Wäre da jemals ein ernsthafter Konflikt gewesen, hätte Merkel ihn für sich entscheiden können. Offenbar wollte sie aber nicht gewinnen, sie wollte den Rechtsruck. Seehofers möglicher Rücktritt war niemals eine „Gefahr“ gewesen, er war eine Chance. Die CDU unter Merkel hat sie verstreichen lassen.

Jetzt ist der Ball im Feld der SPD. Der Juso Kevin Kühnert hat seine Partei aufgefordert, „jetzt nicht einzuknicken“.

Aber auf die Standhaftigkeit der SPD zu hoffen, heißt gar keine Hoffnung mehr zu haben.

Kämpfen dann wenigstens wir weiter – auch wenn die Aussichten, zu gewinnen,derzeit nicht gut scheinen. Verhindern wir, dass sich der Einflussbereich des „schwarzen Blocks“ der Gleichgültigkeit um uns selbst – um unsere Seelen – erweitert. Haben wir den Mut, uns unserer eigenen Menschlichkeit zu bedienen!

Leave a Comment

Start typing and press Enter to search