Gefangen

 In Umwelt/Natur

MilchküheWenn eine Frau behandelt würde, wie Menschen Kühe behandeln – tagtäglich, in der Milchproduktion … V.C. Herz zeichnet in dieser surrealen, jedoch gnadenlos realistischen Geschichte mit außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen ein Grauen, das ganz ohne Schlachtermesser auskommt. Es geht ja “nur” im Milch. Macht extrem nachdenklich. (V.C. Herz)

Ich weiß nicht was passiert ist – Ich war doch eben noch in der Stadt mit meinen Freundinnen shoppen. Und plötzlich – plötzlich bin ich hier. In einem dunklen Raum. Es gibt kein Fenster. Ich kann nur schwer etwas erkennen. Ich bin eingesperrt. Jemand muss mich entführt haben. Aber wie? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich versuche mich in dem Raum zu bewegen. Aber es geht nicht – ich wurde angekettet. Wie ein Hund. Um meinen Hals herum ist eine dicke Eisenkette, die wiederum an der Wand befestigt ist. Ich kann mich gerade mal einen Meter bewegen. Länger ist die Kette nicht. Und ich bin nackt. Jemand hat mir meine Klamotten geklaut. Selbst meine Unterwäsche. Auf dem Boden unter mir liegt eine alte, versiffte Matratze. Neben der Matratze sind ein paar Rillen im Boden. Was wohl darunter ist? Ich kann nichts erkennen. Auf der anderen Seite sind zwei Knöpfe in der Wand, darunter zwei Schüsseln. Ich drücke auf den ersten Knopf. Es ertönt ein leises rattern. Dann fällt ein großer Haufen Brei in die erste Schüssel. Ich teste den zweiten Knopf. Es läuft Wasser in die zweite Schüssel. Daneben ist in die Mauer eine Schublade eingebaut. Ich ziehe daran – Sie ist leer. Was soll das? Was mache ich hier? Warum bin ich hier?

Ich bekomme Panik. Wurde ich vergewaltigt? Ich taste mich ab – kann aber keine Verletzungen feststellen. Was zum Teufel soll das? Ich trinke etwas aus der Schüssel. Das Wasser schmeckt widerlich. Ich esse etwas von dem Brei. Beziehungsweise ich würge etwas von dem Brei hinunter. Absolut widerlich. Ich setze mich auf die Matratze. Und warte. Nichts passiert. Ich muss aufs Klo. Aber es gibt keine Toilette. Es hilft nichts, ich kann es nicht halten. Ich erledige meine Notdurft über den Rillen im Boden. Es gibt natürlich kein Toilettenpapier. Und es stinkt. Furchtbar sogar. Was ist nur passiert? Ich schlafe auf der Matratze ein.

Als ich aufwache, spüre ich ein Knie auf dem Rücken. Ich versuche aufzuspringen, aber das Knie drückt mich hinunter. „Wer sind Sie? Lassen Sie mich frei! Hilfe!“ rufe ich. Der Mann antwortet nicht. Er drückt mich nur weiter runter. Nun merke ich, wie er etwas zwischen meinen Beinen einführt. Etwas kaltes, dünnes. Ich schreie auf, versuche um mich zu schlagen. Aber er ist stärker als ich. Ich spüre wie etwas in mich hineinläuft. Ich kann mich nicht wehren. Der Mann zieht das dünne Etwas, wahrscheinlich einen Schlauch, wieder heraus und steht auf. Ich springe auf, versuche ihn zu schlagen, aber er hat bereits einen Schritt zurück gemacht. Und sich umgedreht. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Er geht ans andere Ende des Raumes und verschwindet. Er ist weg.

Was war das? Ich bekomme Panik. Was will dieser Mann von mir? Ich lege mich auf die Matratze. Und versuche zu schlafen. Mehr kann ich hier eh nicht machen.

Die Tage vergehen. Es passiert nichts. Ich bin eingesperrt, versuche zu essen und zu trinken, wobei das Essen von Tag zu Tag erträglicher wird. Ich glaube nicht dass es besser geworden ist, wahrscheinlich sind meine Geschmacksnerven nur schlechter geworden. Ich kann hier nichts machen. Und ich bin alleine.

Die Tage vergehen. Es passiert nichts. Einfach nichts. Was soll das? Warum bin ich überhaupt hier? Warum hat man mich hier eingesperrt? Ich verstehe es nicht. Was ist hier los?

Die Tage vergehen. Der Brei scheint eine ganz schöne Kalorienbombe zu sein, ich werde immer dicker und dicker. Aber ich habe Hunger. Also esse ich weiter.

Die Tage vergehen. Ich spüre plötzlich einen Tritt. Oh Gott. Der Tritt kam von innen. Ich bin schwanger. Der Mann muss mich befruchtet haben. Oh mein Gott. Warum? Was will er von mir? Warum soll ich ein Kind austragen?
Die Tage vergehen. Ich beginne mein Kind lieb zu gewinnen. Auch wenn es noch nicht geboren ist und ich es eigentlich auch nicht wollte. So ist es trotzdem mein Kind, was in mir aufwächst. Ich mache mir Gedanken über das Kind. Wie es wohl aussehen wird. Ich überlege mir Namen. Wenn es ein Junge wird soll er Stefan heißen. Falls es ein Mädchen wird soll es Susanne heißen.

Die Tage vergehen. Und ich bekomme meine Wehen. Meine Fruchtblase ist geplatzt. Ich sitze plötzlich in einer riesigen Pfütze. Ich schreie. Der Mann ist plötzlich wieder da. Ich schreie. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber plötzlich war das Baby dann da. Es hat geschrien. Und der Mann hielt es in der Hand. Vollkommen erschöpft frage ich „Junge oder Mädchen?“. Er antwortet nicht. Er dreht sich um und geht. Mit dem Baby. Ich schreie. „Das ist mein Baby! Gib mir mein Baby zurück! Das ist mein Baby!“. Ich höre die Schreie des Kindes langsam leiser werden. Ich schreie zurück. Die Babyschreie werden immer leiser. Bis sie nicht mehr zu hören sind. Schluchzend breche ich auf meiner Matratze zusammen. Er hat mir mein Baby genommen. Ich will mein Baby wieder haben. Ich will mein Baby wieder haben. Ich schreie. Aber es scheint mich niemand zu hören.

Am nächsten Morgen wache ich auf. Ich bin durstig. Ich drücke auf den Knopf. Aber es kommt kein Wasser. Ich drücke auf den Knopf für den Brei. Aber es kommt kein Brei. Ich bekomme Panik. Ich sehe mich um. Ich kann allerdings nichts erkennen. Ich gehe zu der Schublade. Darin befinden sich eine Milchpumpe und ein Fläschchen. Da kommt es mir plötzlich: Mein Baby braucht meine Milch! Ich beginne mit der Milchpumpe meine Muttermilch in das Fläschchen abzufüllen. Als ich fertig bin, lege ich das volle Fläschchen in die Schublade zurück und schließe sie. Ich höre ein Quietschen. Ich renne zur Schublade: Sie ist leer. Scheinbar lässt sie sich von der anderen Seite der Mauer entleeren. Ich hoffe, mein Baby bekommt meine Milch. Ich drücke wieder auf den Knopf für das Wasser. Wasser läuft in die Schüssel. Als es Zeit für das Mittagessen wird, funktionieren die Knöpfe wieder nicht. Eine neue Milchflasche liegt in der Schublade. Ich mache sie voll. Danach funktionieren die Knöpfe wieder. Abends dasselbe.
Die Tage vergehen. Dreimal täglich gebe ich meine Milch ab. Für mein kleines Baby. Wo es wohl ist? Ich will es unbedingt wieder sehen. Ich denke ununterbrochen an mein kleines Baby. Ich wünschte, es wäre hier bei mir.

Die Tage vergehen. Ich gebe immer weniger Milch. Es wird von Woche zu Woche weniger. Warum darf ich mein Kind nicht sehen? Ich will mein Kind sehen! Wo ist mein Kind?

Die Tage vergehen. Ich wache plötzlich wieder auf. Und spüre ein Knie im Rücken. Und einen Schlauch zwischen meinen Beiden. Der Horror beginnt von vorne.

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