Gefangen im Macht-Diskurs
Die Gegner der Waffenlieferungen in die Ukraine sollten die Klassenfrage nicht ausblenden. Die einen sehen „die Ukraine“ als das von Putin angegriffene „unschuldige Opfer“, das der Westen militärisch unterstützen müsse. Die Gegner der Waffenlieferungen erwidern, das Vorrücken der NATO und der vom Westen unterstützte Putsch in der Ukraine hätten den Einmarsch der russischen Armee provoziert. Letzteres ist belegbar, klammert aber ebenfalls ein wichtiges Argument aus: die Klassenfrage. Staaten als kapitalistische Herrschaftsinstrumente verfolgen andere Interessen als die Mehrheit der Bevölkerung. Die Gleichsetzung von „Volk und Führer“ bedient den Diskurs der Macht. Susan Bonath
Spielfiguren für Machtinteressen
Westliche Politiker, auch deutsche, werden nicht müde, „das ukrainische Volk“ zu heroisieren. „Heldenhaft“ verteidige es sein Land gegen die „russischen Invasoren“. Der „demokratische“ Westen müsse es dafür mit immer mehr und schwereren Waffen unterstützen. Problem: Dem lohnabhängigen ukrainischen Volk gehört das Land namens Ukraine gar nicht. Dieser Staat, für den die Ukrainer in den Krieg gezogen sind, ist wie jeder kapitalistische Staatsapparat ein Machtinstrument der Herrschenden.
Viele Westukrainer mögen sich ein besseres Leben durch EU- und NATO-Mitgliedschaft ihres Landes erhoffen. Nur warum wollen sie die Ostukrainer und Krim-Bewohner, die das mehrheitlich nicht unterstützen, ebenfalls dazu zwingen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Eine dauerhafte Abspaltung des Donbass´ und der Krim — völlig egal, ob in die totale Autonomie oder unter russische Führung — würde ihr Leben kein bisschen tangieren — der Krieg hingegen zerstört es, wahrscheinlich für immer.
Mit anderen Worten: Die westukrainischen Söldner kämpfen nicht für ihre eigenen, sondern die Interessen derjenigen, die sie beherrschen und unterdrücken. Ob sie im Auftrag der Macht den Osten zurückerobern oder nicht: Am Leben der Kämpfer und ihrer Familien ändert das nichts. Sie sind — man muss es so hart sagen — keine „Helden“, sondern Spielfiguren für Machtinteressen der Herrschenden.
Gleichsetzung von „Volk und Führer“
Die Gleichsetzung von „Volk und Führer“ ist seit jeher Bestandteil der herrschenden Propaganda. Die Mächtigen und ihre politischen Apparate heucheln stets, die Interessen der „einfachen“ Menschen zu vertreten. Sie geben sich als wohltätige Arbeitgeber oder Hüter von Recht und Ordnung aus. Das gemeine Volk möge sich dafür vor Dankbarkeit im Staub wälzen. Ihre Lüge untermauern sie mit viel Heuchelei von Demokratie, die mit Blick auf die Bevölkerung eben gar nicht so repräsentativ wie behauptet ist.
Mit dieser Propaganda verfolgt die herrschende Klasse freilich ihr eigenes Interesse: Die ausgebeuteten Massen sollen sich ihr „freiwillig“ unterwerfen. Sie sollen mit ihren Unterdrückern sympathisieren und kollaborieren. Das erspart den Herrschenden viele Kosten, die eine rein gewaltsame Unterdrückung mit sich brächte.
Die Mächtigen forcieren mit ihrer Propaganda in der Bevölkerung seit jeher ein klassisches Stockholm-Syndrom. Dies ist das sicherste Mittel, um Widerstand zu vermeiden. Das Volk soll mitlaufen.
Die Lust an der Unterwerfung
Geprägt wurde der Begriff „Stockholm-Syndrom“ nach einer fünftägigen Geiselnahme in der schwedischen Hauptstadt im Jahr 1973. Damals zeigten die Opfer in Stockholm unerwartet große Sympathien mit ihren Peinigern. Das Phänomen tritt in vielen Täter-Opfer-Dynamiken auf. Ob misshandelte Kinder, vergewaltigte und gequälte Frauen oder Angestellte, die ständig unbezahlte Überstunden schuften: Gar nicht so selten rechtfertigen Opfer in gewisser Weise das Verhalten ihrer Peiniger.
Produkte dieses psychologischen Phänomens sind auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu beobachten. Dazu gehören beispielsweise Gruppen, die einem rassistischen Nationalstolz frönen, Geringverdiener oder Jobcenter-Angestellte, die Hartz-IV-Bezieher am liebsten unter Androhung von Hungerstrafen zur Zwangsarbeit verpflichten würden, Polizeibeamte, die mit großer Lust im Auftrag der Macht Demonstranten niederknüppeln — oder eben Soldaten, die mit Feuereifer für ihre Unterdrücker in den Krieg ziehen und diesen Einsatz nicht selten mit dem Leben bezahlen.
Die Lust an der Unterwerfung war auch im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen und der aufgenötigten Impfung zu erleben. Übereifrig und vorauseilend gehorsam führten unzählige Beamte und Angestellte die Anweisungen ihrer Vorgesetzten aus.
Wie viele Zugbegleiter, Supermarktverkäufer, Busfahrer oder Verwaltungsmitarbeiter warfen Menschen, die die staatlichen Auflagen nicht zu 100 Prozent erfüllten, aus ihrem kleinen Einflussbereich heraus? Wie viele Polizisten erteilten Platzverweise gegen „Maskenverweigerer“? Manch ein Arzt weigerte sich sogar, Ungeimpfte zu behandeln, und so weiter.
Nach oben buckeln, nach unten treten
Die psychologische Ursache ist bekannt: Wer sich der Macht unterwirft, gibt nicht nur Eigenverantwortung ab. Eingeräumte Befugnisse ermöglichen den sich Unterwerfenden, ihrerseits eine gewisse Macht über andere auszuüben. Das wirkt wie Balsam gegen die Ohnmacht durch die eigene Unterwerfung.
Der Stockholm-Symptomatische schöpft so aus seiner eigenen Unterwerfung Gefühle von Überlegenheit, sofern ihm die Macht den Spielraum dafür einräumt. Viele kennen Jobcenter-Angestellte, die ganz wild darauf sind, ihre Klienten zu drangsalieren und zu sanktionieren. Oder Mitarbeiter verschiedener Ämter, die einem die Beantragung irgendwelcher Hilfen unfassbar schwer machen. Auch der Soldat im Krieg hat einige Befugnisse. Er darf „den Feind“ sogar töten, ohne dafür verantwortlich zu zeichnen.
Die lustvolle Unterwerfung unter eine Fremdherrschaft ist beileibe kein seltenes Phänomen. Man könnte dies als autoaggressiven Akt bezeichnen, der mit Aggression gegen Dritte kompensiert werden kann.
Der 1980 verstorbene Psychoanalytiker Erich Fromm sprach in diesem Zusammenhang von einer Persönlichkeit mit autoritärem Charakter, die durch kapitalistische Hierarchien gefördert werde.
Fromms jüngerer Berufskollege Hans-Joachim Maaz sieht ebenfalls eine systemisch produzierte „narzissistische Gesellschaft“ aus Selbstvermarktern und Statusakrobaten. Und auch der Volksmund kennt einen Begriff für autoritäre Charaktere: die Radfahrermentalität — nach oben buckeln, nach unten treten.
Die Ukraine — das Armenhaus Europas
Zurück zur Ukraine: Die Befürworter der Waffenlieferungen erzählen pausenlos, die in Uniformen gezwungenen und vom Westen ausgebildeten ukrainischen Soldaten verteidigten die Interessen ihres Staates und ihrer Regierung. Das suggeriert, die gewöhnlichen Ukrainer hätten die gleichen Interessen wie ihr Regime und die Führungen der NATO-Staaten. Wie irrational das ist, zeigt schon ein Blick auf die Lebensverhältnisse der Ukrainer in den letzten 30 Jahren.
Seit dem Ende und Zerfall der Sowjetunion 1991 ist die Ukraine eines der korruptesten Länder in Europa mit der höchsten Armutsquote. Wie die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) unter Berufung auf das Kiewer Institut für Soziologie informierte, gaben Mitte des Jahres 2020 mehr als 12 Prozent der ukrainischen Bevölkerung an, nicht genügend Geld für Nahrungsmittel zu haben.
Fast 37 weitere Prozent der ukrainischen Bürger erklärten 2020, sie könnten sich zwar gerade noch genügend zu essen leisten, aber für Kleidung reiche es kaum noch. Noch einmal 36 Prozent berichteten, sich zwar genug Nahrung und Kleidung kaufen zu können. Auf teurere Gebrauchsgüter müssten sie jedoch aus finanziellen Gründen verzichten. Übrig bleiben eine kleine Mittelschicht von nicht einmal 10 und eine Oberschicht von weniger als 2 Prozent.
Straßenkinder und Zwangsprostituierte
Im September 2020 bezeichnete die BpB die Ukraine als „eines der ärmsten Länder Europas“. Insbesondere seit dem Beginn der Angriffe der ukrainischen Armee auf die Bevölkerung im Donbass im Osten des Landes 2014 explodiere die Armut geradezu, lediglich marginal abgefedert vom Wirtschaftswachstum. Das Internetportal „Ost-West“ berichtete schon 2006 von einem „allgemeinen Trend zur Armut“ in der Ukraine. Verwahrloste Straßenkinder, Bettler und Menschen, die im Müll nach Essen suchen, prägten das Kiewer Straßenbild, so das Portal vor 17 Jahren.
Bereits 1999 berichtete die Friedrich-Ebert-Stiftung über eine rasant wachsende Armut in Osteuropa, darunter ganz vorne die Ukraine und ihre Opfer. Männer endeten reihenweise im Alkoholismus, Frauen in der Zwangsprostitution. Immer mehr Ukrainer seien zur Arbeitsmigration gezwungen. Die Gewalt gegen Frauen und Kinder nehme explosiv zu. Vor 20 Jahren berichtete der Deutschlandfunk über Zehntausende verarmte ukrainische Frauen und Mädchen, die jedes Jahr auf ihrer verzweifelten Suche nach Arbeit von Menschenhändlern in westeuropäische Bordelle verschleppt würden.
In den 2010er Jahren ließ die Not in der Ukraine ein weiteres Geschäft erblühen: Verarmte Frauen verkaufen ihre Körper massenhaft als Gebärmaschine an Wohlhabende aus allen möglichen Ländern der Welt, um sich und ihre Familien über die Runden bringen zu können. Leihmütter-Agenturen boomen in der Ukraine bis heute, selbst im Krieg. Anders als zum Beispiel in Deutschland sind derlei Geschäfte dort erlaubt.
Irrationaler Patriotismus
Nun ist Armut auch Bestandteil westlicher „Demokratien“. Ob USA oder Deutschland, Polen oder Frankreich: Wo man hinsieht, entschwindet der Wohlstand in die oberen Schichten, während die Armutsquoten steigen. Der gegenwärtige Zustand des Krisenkapitalismus macht eine Umkehr in naher Zukunft mehr als unwahrscheinlich. Die wohl vorhandene Hoffnung vieler Westukrainer auf bessere Lebensbedingungen durch einen Anschluss „ihres“ Staates an die EU und die NATO ist daher völlig unbegründet.
Klassenpolitisch betrachtet, stellt sich also die konkrete Frage: Warum kämpfen viele Menschen in der Westukraine eigentlich so „heldenhaft“ für den Beitritt zur EU und zur NATO — und vor allem für eine Rückeroberung der östlichen Gebiete Krim und Donbass gegen ihre eigenen Brüder und Schwestern? Warum lassen sie sich von ihren Machthabern in diesen Konflikt hineinziehen? Die verkürzte Antwort darauf lautet: Irrationaler Nationalpatriotismus, mittels Dauerpropaganda in die Köpfe der Menschen gepflanzt.
Egal, wie eifrig die Herrschenden es leugnen: Nationalpatriotismus ist bei ihnen sehr beliebt. Denn wo er verfängt, schafft er eine gefühlsmäßige Identifikation seiner Anhänger mit ihrem jeweiligen Machtinstrument der herrschenden Klasse — mit dem Nationalstaat und seinem Apparat, in dem sie leben. Nationalpatrioten sind die perfekten Verbündeten der Macht, die die lästige Klassenfrage nicht mehr stellen.
Kollaboration mit der Macht
Die Propagandaschlacht um den Ukraine-Konflikt, der in Wahrheit ein Versuch des NATO-Westens ist, das verhasste große und rohstoffreiche Russland zu destabilisieren, zielt mehr oder weniger erfolgreich vor allem auf die psychologische Unterwerfung der Massen ab, oder anders ausgedrückt: auf die — unbewusste — Reaktivierung des Stockholm-Syndroms im großen gesellschaftlichen Kontext.
Menschen in West und Ost sollen sich als „eins“ mit ihren kriegstreibenden Unterdrückern identifizieren, getrieben von ihrer Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung und Partizipation. Denn „alle“ machen ja mit, und „alle“ können nur „die Guten“ sein. Im NATO-Westen hat man als „Mehrheitsguter“ mit der Meute für Waffenlieferungen zu trommeln und Russenhass zu zelebrieren. Als Westukrainer soll man Ostukrainer und Russen töten.
Im Taumel der Kollaboration mit der Macht werden die Massen allzu schnell blind für ihre eigenen Klasseninteressen. So entsteht ein Heer aus Gehorsamen und Willigen — aus Mitläufern von mächtigen Kriegstreibern für geopolitische Herrschaftsinteressen.
Aber auch die Gegner der Waffenlieferanten und Kriegstreiber laufen Gefahr, allzu unkritisch mit den Akteuren auf der Gegenseite zu sein. Und zumindest öffentlich wurden entsprechende Fragen bisher nicht in den Debattenring geworfen: Was genau würde eine Rückeroberung der östlichen Landesteile durch die ukrainische Regierung mithilfe der NATO-Staaten am Leben der verarmten Bevölkerungsmehrheit im Westen verbessern? Natürlich nichts. Im Gegenteil: Der Preis sind hunderttausende Menschenleben.
Raus aus dem Unterwerfungsmodus
Rücken wir also die Klassenfrage in den Fokus. Bringen wir die Tatsache auf´s Tablett, dass die Interessen von Staatsmächten immer andere sind als die der lohnabhängigen Massen. Ohne die Klassenfrage im Hinterkopf verharrt jede Debatte, jede Vorstellung und jede Handlung der Normalbevölkerung im Unterwerfungsmodus. Der maximale gedankliche Radius bleibt begrenzt auf die Überlegung, unter welcher Macht es dem Volk besser oder schlechter gehen könnte.
Freiheit beginnt im Kopf. Nur wer sie denken kann, spürt seine eigenen Ketten. Nur wer seine Ketten spürt, entwickelt das Bedürfnis nach echter Befreiung. Ein Ausbruch aus dem Gedankengefängnis wäre der erste, aber wichtigste Schritt: Raus aus dem Diskurs der Macht, raus aus dem Unterwerfungsmodus, raus aus dem „Ukraine-Syndrom“.
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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.
Ja, Freiheit beginnt im Kopf. Und die Klassenfrage ist natürlich wichtig, ebenso wie ein Blick auf die Diskurse der Macht . Nun ja, der böse Nationalstaat, ob das noch so stimmt ()?), das klingt ein wenig nach Onkel Schwab, da könnte frau sich dieragestellen, ob die NWO wirklich besser ist, aber das ist ja nicht so wichtig. In Bezug auf einen der Redner auf der großen Friedensdemo, die auf Innitiative von Frau Wagenknecht und Frau Scharzer stattfand , Jeffrey Sachs, hat die Kultursoziologin Aya Velazquez gerade einen wie ich finde interessanten Text veröffentlicht, ich denke der “Rubikon” sollte ihn bald auch einmal zur Diskussion stellen, auf breiterer Ebene, im Interesse einer Diskussion mit möglichst vielen Teilnehmenden?? Ich stelle mir gerade leise die Frage, ob Herr Sachs unsere Klasseninteressen tatsächlich adäquat vertritt? Ich weiß aber (leider noch) nicht, was Frau Bonath dazu sagt. Wir sind ja gerade erst dabei, die ersten Vorboten des großen freiheitlichen und klassenbewussten Frühlings zu erkennen!
https://ayavela.substack.com/p/die-fabelhafte-welt-des-dr-sachs
https://twitter.com/i/status/1643361829949677568