Holdger Platta: Von nichts gewußt
Ein drittes Mal stellen wir Euch heute ein Gedicht von Holdger Platta vor, das er 1983 in seinem Lyrikband „Das Blaue vom Himmel“ veröffentlicht hat. Dieses Mal geht es um die Nichtwisser-Lüge, mit der viele Menschen in der Bundesrepublik leugneten, von der Judenverfolgung im Dritten Reich gewußt zu haben. Dieses Gedicht sagt seine Wahrheit, indem es die Wahrheit erzählt – etwas, das ohnehin zur Stärke von Literatur zu gehören vermag. Es widerlegt die Nichtwisser-Lüge nicht durch Argumentation, sondern durch Erinnerung, die erneut wahrnehmen läßt – sehen und hören läßt -, was damals im sogenannten Dritten Reich geschah. HdS-Reaktion
Holdger Platta
Von nichts gewußt
Man trieb Euch
an den Leichenbergen vorbei,
in Buchenwald,
und Ihr schriet,
Ihr habet von nichts gewußt.
Im Frühling
durften sie nicht mehr
auf den Parkbänken sitzen,
gelbe Flecken
auf ihren Kleidern.
Schritte im Treppenhaus
während vieler Herztöne der Angst
und dann wieder eine Wohnung
die leer stand.
Ein Arzt montiert sein Praxisschild ab,
zwei, drei leere Stühle
im Klassenraum
von Samstag auf Montag,
und einer hat plötzlich
Tränen im Gesicht,
lautlos und schon mit dem Gesicht
drüben zur Wand.
Ein Freund zieht sich zurück,
seine Frau sieht blaß aus,
als Ihr sie zufällig trefft,
doch zum Glück sieht sie weg.
Die Wege werden weiter
zum Kolonialwarenhändler,
zum Bäcker,
vorbei an den alten,
dunkler werdenden Geschäften,
und die Abwehr von Gerüchten
strengt mehr und mehr an
in diesen Kneipen
voller gedämpfter Gespräche.
Auch die Hausdurchsuchungen
bekommt Ihr jetzt mit,
weißlich vergittert
von Euren Gardinen,
den scheppernden Klang
anspringender Lastwagenmotoren,
die Menschen in dicken Mänteln
auf den Ladeflächen,
und das mitten im Sommer.
Ihr hattet von nichts gewußt,
schreit Ihr. Ach,
was nicht alles nichts ist.
Im Schatten von Auschwitz
verschwinden die Gründe.
Viel später wurde mir bewußt, dass über die jüngste Vergangenheit nicht gesprochen werden sollte/durfte, obwohl Familie, Verwandtschaft sowie gesamte Nachbarschaft darin verstrickt waren, als Befürworter oder – gezwungernermaßen – Mitläufer. Es gab Fotografien, in Alben fein säuberlich aufbewahrt. Ein Onkel posierte mit seinem Kameraden hinter Maschienengewehr für’s Familienalbum, beide lachend und in Uniform. An andere Stelle des Albums klebte das Zeitungsbild, einer Tante wurde das Mutterkreuz verliehen. Darauf war man wohl stolz, hinter Gewehr und Auszeichnung. Meine Eltern auf einem Hochzeitsfoto, sie im Brautkleid, er in Uniform, beide wirkten wie hingestellt deplaziert, während des Krieges.
Vater vor dem Eifelturm mit Kameraden in Uniform, ein paar Bilder aus französischer Gefangenschaft, ausgemerkelt bis auf die Rippen. Ein Foto meiner Mutter als OP-Schwester im Stadtkrankenhaus Offenbach, mitten im Krieg.
Onkel Johann war zu keinen Tränen mehr fähig, er hätte zu viel gesehen, miterlebt im Krieg, ein kopfloser Soldat an der Front. Kurzes Aufflackern , Flashback, danach Schweigen.
Als ich sechszehnjährig mit dem Vietnamkrieg konfrontiert wurde, fing ich an, diesen Wahnsinn irgendwie einzuordnen- oder zu verstehen. Ohne Eltern, denen ich Fragen hätte stellen können, wie es war und warum es dazu kam.
Und heute? Ich finde keine Antworten mehr, Kriege überall. Wir wissen und erleben darüber.