Holdger Platta: Weihnachten hat es immer geschneit

 In FEATURED, Holdger Platta, Kurzgeschichte/Satire

Geht das? – HdS ohne eine Weihnachtsgeschichte? Wir sagen: natürlich nicht (ähem) und veröffentlichen heute eine von Holdger Platta, die vor vielen Jahren – 2015 war das – schon einmal bei uns zu lesen war. Tja, und Ihr werdet feststellen: ganz ohne ist sie nicht. Selbstverständlich: sie tischt uns das gesamte Vokabular vom Heiligen Abend auf. Aber so manches irritiert dann auch. So harmonisch scheint das in dieser Familie nicht zu gehen, und schon gar nicht zwischen dieser Familie und der Welt, in der sie – als Flüchtlingsfamilie – nach dem Zweiten Weltkrieg gelandet war, irgendwann 1949 oder so. Tja, da galt man, aus dem Osten geflüchtet, im Ruhrgebiet als Ausländer oder Polacke. Und einen Sawicki – warum hieß der auch so – hatte man sogar schon mal verprügelt, weil er so anders sprach. Nebenbei: der Rowohlt-Verlag hatte diese Geschichte von Holdger Platta schon lange vor uns veröffentlicht. Im Jahre 1999 war das, in einer Sammlung zahlreicher Weihnachtsgeschichten auch von anderen Autoren und Autorinnen, unter dem Titel „Weihnachtsgeschichten am Kamin Nr. 14“. Wie auch immer:  Fremdenfeindlichkeit ist uralt bei uns. Sie hörte nach dem Ende des Faschismus bei uns nicht auf. Und manche fanden das schon seit langer Zeit nicht in Ordnung. Unser Autor zum Beispiel. Redaktion HdS

In meinem Kopf brannten schon seit dem frühen Morgen die Kerzen am Baum. Abends, das wusste ich, denn ich war ja schon fünf, würde sich Mutter wieder in ein Messingglöckchen verwandeln, und Vater würde daneben stehen mit einem Gesicht, so ratlos wie eine Schafherde auf Weihnachtspapier.

Störend war eigentlich immer nur mein Bruder dabei, der schief aus den Augen grinste, wenn er mich ansah, und auch Weihnachten immer sechs Jahre älter war als ich.

Den ganzen Tag über war unsere Wohnung erfüllt von Backofenduft, von Gerüchen, warm wie ein Bärenfell aus dem tiefsten russischen Winter. Nicht mal das Tuscheln war heute zu hören aus der Wohnung gleich nebenan.

Endlich wurde es dunkel. Ab und zu hörte man noch das Fauchen der Güterzüge vom Bahndamm, und wie ein Großvatergesicht sah die Nacht zur Küche herein. Die ganze Stadt lag versunken im Schnee, und ihr Leuchten war wie Apfelsinengeruch mit zwei, drei brennenden Hochöfen darin, weit weg hinter der Ruhr. Nun bekamen Vater und Mutter ihre Kirchengesichter. Fromm zogen wir unsere Strickjacken an, unsere Schuhe und Mäntel, fromm, mit den Wollhandschuhen über den Fäusten, kratzbürstig wie bissiges Katzenvolk, verließen wir über den düsteren Korridor unsere Wohnung.

Der Pfarrer, schwarz wie ein Gesangbuch, hielt eine hallende Predigt über Gott und die Liebe und das Fremdsein in dieser Welt. Die Menschen mit ihren Truthahngesichtern sangen rosige Lieder dazu wie „Stille Nacht, heilige Nacht“. Der beerdigungsschwarze Klingelbeutel wurde von Bank zu Bank schwärzer, und ich dachte schon lange an die elektrische Eisenbahn draußen bei uns daheim zwischen den Wiesen.

Beim Verlassen der Kirche noch essigsaure Grüße dahin und dorthin, dann knurrte der Schnee wieder unter den Schuhen, und wir schleppten eintausend Schneeflocken nach Hause, vorbei an der Hütte, wo sie den alten Sawicki zusammengeschlagen hatten vor einiger Zeit, weil er so gebrochen sprach.

Der Pastor war jetzt längst schon zu einem Glanzbild geworden, nur das liebe Jesuskind würde mit an meinem Trafo stehen und freundlich zuschauen, wie ich neue Viehwaggons über die Schienen trieb. Mutter würde auf dem Eichenstuhl thronen, vor dem Klavier, und mit Bücklingsglanz in der Stimme würden wir die Weihnachtslieder singen: „Tochter Zion, freue dich…!“

Mein Bruder, auch an diesem Tag acht Schuhnummern größer als ich, würde vor seinem vernünftigen Stabilbaukasten stehen, Vater seine neuen Socken betrachten und Mutter wie ein gekochter Schinken aussehen. Dann würden wir rübergehen in die Küche, um nach den Würstchen zu schauen, in dieses Zimmer mit der bösartigen Wand. Ich aber würde den Bahnhofsvorsteher wegtragen, von der Verladerampe vor das Rathaus mit dem Dach aus Sperrholz und Lokuspapier. Und dann würden wir alle am Wohnzimmertisch sitzen, als ob er ein zweiter Weihnachtsbaum wäre, und würden, das feierliche Sonntagsbesteck in der Hand, Bockwürste essen mit selbstgemachtem Kartoffelsalat und Düsseldorfer Löwensenf, extra scharf, wie ein Kettenhund.

Hinter der Küchenwand aber würde nun wieder dies Wispern zu hören sein, dies schwarze Getuschel, und manchmal würde man durch die Tapete im Kerzenglanz sogar ein Wort verstehen oder auch zwei: „Polackenbrut! Ausländerpack!“

Aus der Hütte fiel immer noch Krippenlicht auf den Schnee, durch Fensterkreuz und Haselnußstrauch, und ich sah in Gedanken den alten Sawicki vor mir in seinem Verschlag ohne die Nachbarn.

Kommentare
  • Freiherr
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    Das ist köstlichste Unterhaltung und Parodie zugleich, zeitzeugnerische Widersprüchlichkeit weihnachtlichen Nonsens auch, aber freilich hatten die Eltern es nur gut gemeint.

    Das sehr wachsame Kind aber  hatte den umfassenden Durchblick, damals schon  und was blieb ihm anderes übrig als brav mitzuspielen.

    Loriot könnte das nicht besser darstellen.

    Eine Parallele dazu ( wesentlich ersnthafter ) , auch weil der Begriff ” Polack ” fällt –

    meine Schwester hatte mit ihrer ersten großen Liebe zu Jurek Biskup ( einem Polen also ) ihr erstes Kind , mit gerademal 18 (!) und zu Weihnachten wurde der Vater, weil “Polacke ” ( “die Polacken sind Lumpen, die taugen nix – das Kind muss seinen Vater nicht kennen ! ” – O-Ton dieses sogenannten Vaters ) – nicht eingeladen !

    Tja – diese ja so christliche Weihanchtstradtion…

    Meine Schwester war nicht stark genug ( kein Vorwurf ! ) um sich dagegen wehren zu können und ich war es dann der dieses Kind viele Jahre später mit seinem Vater zum ERSTENMAL zusammenbrachte,

    der Jurek war ein Freund von mir, ein sehr herzlicher, sympathischer Mensch, zerbrochen aber dann weil man ihn als Vater, weil “Polacke ” völlig ausgeschlossen hatte, zu früh auch daran gestorben.

    Ansonsten – war Weihnachten für uns Kinder eher ein Friedhofsbesuch als frohes Fest, es wurde nicht geredet, Friedhofsstille, ein Glöckenritual ohne jegliche Herzlichkeit.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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