Hunger auf dieser Welt und unsere Aggressivitäten: ein Zusammenhang?
Liebe Freunde,
alle fünf Sekunden stirbt auf dieser Erde ein Kind. An Hunger. An Hunger, den es nicht geben würde, wenn es nicht einen weltweiten Kapitalismus gäbe. Denn dieser ist es, der Kapitalismus, der dafür sorgt, daß einem Großteil der Menschheit genügend Nahrung vorenthalten bleibt, dieser ist es, der Kapitalismus, der dafür sorgt, daß es überhaupt diesen tödlichen Hunger gibt. Dabei stünde auf diesem Erdball „eigentlich“ das Mehrfache an Nahrungsmitteln zur Verfügung, als die Menschheit fürs gute Sattwerden benötigte. Und was machen wir? Wir Antikapitalisten? Wir Linken? Wir Marxisten und/oder Menschenrechtler?
Nein, wir bekämpfen nicht gemeinsam diesen Kapitalismus. Wir suchen nicht die Gemeinschaft mit anderen, die gleich uns diesen Unmenschlichkeitsskandal kaum auszuhalten vermögen. Wir erkennen nicht und erkennen nicht an, daß andere aus anderen Gründen zu denselben Schlussfolgerungen gelangen wie wir, zur grundlegenden Erkenntnis: dieser furchtbare, dieser – im Wortsinn – verheerende Kapitalismus muß weg. Nein, wir suchen mit der Lupe nach Fehlerchen bei unseren Bundesgenossen. Wir halten oft nichtmal die kleinsten Verschiedenheiten zwischen unseren Fraktiönchen aus (wenn es denn überhaupt Verschiedenheiten sind!), nichtmal die kleinsten Fehlerchen (wenn es denn überhaupt kleinste Fehlerchen sind!). Wir bekämpfen uns gegenseitig statt gemeinsam diesen Kapitalismus zu bekämpfen. Und deswegen ist dieser Kapitalismus – trotz aller inneren Krisen – auch nach wie vor so stark: weil wir selber uns permanent schwächen mit unseren luxurierenden Fehden in den eigenen Reihen. Ein Beispiel? – Ein Beispiel:
Konstantin Wecker und ich haben vor gut zehn Tagen eine Erklärung veröffentlicht zum 8. Mai, zum Tag, da vor siebzig Jahren endlich das nationalsozialistische Regime zur Kapitulation gezwungen werden konnte. Dabei haben wir, Konstantin Wecker und ich, getreu der historischen Erkenntnis, die oft verleugnete Tatsache wieder ans Tageslicht geholt, daß dieser verdammte Hitler nicht von irgendwelchen Menschenmassen an die Macht gewählt worden ist, sondern von einer kleinen Machtclique aus Wirtschaft und Politik an die Macht intrigiert worden ist (zu einem Zeitpunkt übrigens, da sich bereits der Niedergang der NSDAP abzuzeichnen begann: sinkende Wahlerfolge, ruinierte Parteifinanzen, ein immer stärker werdender Richtungsstreit zwischen sogenannten „Parteilinken“ auf der einen und Hitler mit Anhang auf der anderen Seite). Und was warf uns ein Genosse daraufhin vor, auf seiner eigenen Website? Daß wir die Massenanhängerschaft Hitlers verschwiegen hätten, daß wir die Verbreitung der faschistischen Ideologie in der deutschen Bevölkerung verschwiegen hätten, daß wir die Propaganda der Medien für Hitler verschwiegen hätten. Und dann:
Daß wir, Konstantin Wecker und ich, „offenbar senile Eso-Jünger“ seien und „sektiererische Brüder“, „krude Gestalten“ und „Verwirrte“, „bornierte Geschichtsrevisionisten“ und „Hampelmänner“, „Clowns“ und „demente Greise“. Fazit des betreffenden Genossen: „Wenn es noch eines Beleges bedurfte, dass die schmierige Eso-Clique um den platten Wecker, den verschlafenen Platta und den verfaulten Fuß nicht nur redundantes, sondern auch gefährliches Zeug absondert, ist er hiermit erbracht.“
Nun stimmt das alles, was die Fakten betrifft – soll ich sagen: selbstverständlich? – nicht. Selbstverständlich hatten wir, im Absatz unmittelbar nach dem Absatz, in dem wir die Rolle der Weimarer Machtcliquen angesprochen hatten, die Tatsache erwähnt, daß der Weimarer Republik längst schon die Republikaner abhanden gekommen waren. Selbstverständlich hatten wir erwähnt, daß vor allem die Mittelschichten der Demokratie den Rücken gekehrt hatten. Selbstverständlich hatten wir erwähnt, daß dieses auf die kapitalistische Weltwirtschaftskrise zurückzuführen war und auf die Tatsache, daß die reaktionäre Politik darauf keine andere Antwort wusste als die Verelendung der Massen. Und – dieses vor allem -: wir hatten darauf hingewiesen, daß sich damit die Bilder auf gefährliche Weise zu gleichen beginnen, damals und heute, die Wirtschafts- und Politikverhältnisse in der Endphase der Weimarer Republik einerseits und die entsprechenden Verhältnisse heute. Aber unseren Genossen von der anderen Website focht und ficht das nicht an: wir hätten „haltloses“, „haarsträubendes“, „hanebüchenes“, „verwirrtes“ Zeug von uns gegeben. Und, wie gesagt: wir seien „schmierig“, „dement“ und „senil“, wir seien „Greise“, denen man „die Pest an den Hals oder eine kompetente Betreuung durch einen Pflegedienst wünscht“. Titel des Ganzen: „Esoterik und Geschichte: Alte Männer verklären die Geschichte“.
Noch einmal: alle fünf Sekunden stirbt auf dieser Erde ein Kind. An Hunger. An einem Hungertod, für den der Kapitalismus verantwortlich ist. Doch muß an dieser Stelle nicht hinzugefügt werden, schlicht der Ehrlichkeit halber: diese Menschen, die da alltäglich sterben, diese furchtbare Menge von Menschen (= allein im letzten Jahr 8,8 Millionen Kinder) – sterben sie nicht auch an unserer furchtbaren Zerstrittenheit? Gibt es das Elend auf dieser Welt nicht auch, weil es das Elend dieser furchtbaren Feindschaften bei uns, in unseren eigenen Reihen, gibt?
Fragt sich und Euch,
Euer Holdger Platta