Ab heute gilt die einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht. Bis zum 15. März 2022 waren alle Beschäftigten von Kliniken, Pflegeheimen, ärztlichen Praxen, Rettungs- und Pflegediensten und ähnlichen Einrichtungen verpflichtet, einen Impf- oder Genesenennachweis vorzulegen, oder ein Attest, dass sie nicht geimpft werden können. Eine entsprechende Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes wurde am 10. Dezember 2021 von Bundestag und Bundesrat beschlossen und gilt bis Ende 2022.
In der Gesetzesbegründung heißt es, dem „Personal in Gesundheitsberufen und Pflegeberufen komme eine besondere Verantwortung zu, da es intensiven und engen Kontakt zu Personengruppen mit einem hohen Infektionsrisiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf habe… Ein verlässlicher Schutz vor dem Coronavirus durch eine sehr hohe Impfquote beim Personal in diesen Berufen sei wichtig.“
Einen Eilantrag gegen die Impfpflicht hat das Bundesverfassungsgericht am 10. Februar abgelehnt:
„Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber.“
Das Gesetz ist weit gefasst und betroffen sind viele Berufsgruppen und Einrichtungen, beispielsweise Ergotherapeuten und Psychologinnen, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und heilpädagogische Kinder- und Jugendeinrichtungen. Auch regelmäßig in solchen Einrichtungen tätige Verwaltungskräfte oder technisches Personal fallen unter die Impfpflicht, ebenso Minderjährige, wenn sie zum Beispiel ein Schulpraktikum in einer betroffenen Einrichtung machen. Als vollständig geimpft gelten Personen mit zwei Impfungen.
In seiner Risikobewertung vom 28. Februar schätzte das Robert-Koch-Institut (RKI) die Infektionsgefährdung für Genese und Geimpfte mit Grundimmunisierung (zweimalige Impfung) als hoch ein. Zwar biete die Impfung „grundsätzlich einen guten Schutz vor schwerer Erkrankung und Hospitalisierung durch Covid-19, dies gilt auch für die Omikronvariante“, jedoch lasse die Schutzwirkung schon nach wenigen Monaten nach. Den in der Gesetzesbegründung geforderten verlässlichen Schutz bietet die Impfung demnach nicht, sie schafft keine „sterile Immunisierung“ und auch Geimpfte können weiterhin andere anstecken.
Auf die Gesundheitsämter, die oft ohnehin schon überlastet sind, kommen mit der Zuständigkeit für die Überwachung der Impfpflicht weitere umfangreiche Aufgaben zu. Laut Senatsverwaltung für Gesundheit soll die Impfpflicht in Berlin „konsequent, aber pragmatisch“ durchgesetzt werden. Zur Entlastung der Gesundheitsämter sollen die Meldungen zunächst an das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) erfolgen. Ein Bußgeldverfahren soll nur eingeleitet werden, wenn kein Risiko besteht, dass die Versorgung gefährdet ist.
Betroffen sind diejenigen, die ohnehin die Hauptlast dieser mehr als zwei Corona-Jahre zu tragen hatten. Für die Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) verfassten die Wissenschaftler Wolfgang Hien und Hubertus von Schwarzkopf eine Studie zur Frage, wie Pflegekräfte in ihrem professionellen Alltag die Corona-Krise erleben. „Als hoch belastend zeigte sich weniger die Angst vor dem Virus selbst als eher die Problematik der unzureichenden betrieblichen und überbetrieblichen Organisation“, schreiben sie. Zu ohnehin bestehenden Belastungen, Mangel an Ausstattung und Personal kamen mit der Corona-Krise „die widersprüchlichen und vielfach als chaotisch empfundenen Verordnungen, Vorgaben und Anweisungen der Behörden, namentlich der Gesundheitsämter“ als zusätzlich belastend hinzu.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi spricht sich gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht aus. „Die Impfung muss freiwillig sein; eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen darf es nicht geben“ sagte der Vorsitzende Frank Werneke bereits im Januar 2021. Für die Leiterin des Verdi-Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft, Sylvia Bühler, ist die Impfpflicht „kein gutes Signal an die betroffenen Beschäftigtengruppen“. Wenn die Gesundheitsämter den Ungeimpften die Weiterarbeit verwehren, „würde das auf eine noch höhere Belastung des verbleibenden Personals hinauslaufen. Da das aber nicht zumutbar ist, können eigentlich nur die Leistungen eingeschränkt werden.“ Bühler betont, dass die andauernde Extrembelastung schon vor der Pandemie viele aus ihrem Beruf getrieben habe, „das darf sich nicht noch weiter verschärfen“. Kündigungen dürfe es nicht geben, und „Mitglieder, denen gekündigt wurde, weil sie ihrem Arbeitgeber keinen Impfnachweis vorgelegt haben, dürften in aller Regel Rechtsschutz erhalten, natürlich immer vorbehaltlich einer individuellen Prüfung.“
Feindbild Ungeimpfte
Der Verhaltensökonom Armin Falk von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfahl Impfgegnern im Sommer 2021: „Klappe halten, impfen lassen.“ Sollte es zu einer Triage kommen – einer Abwägung, wer angesichts fehlender Kapazitäten behandelt wird und wer nicht –, solle der Impfstatus in die Abwägung einfließen.
Im November kam dann das Unwort von der vermeintlichen „Pandemie der Ungeimpften“ auf. Selbst der damals noch geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) und der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery waren sich nicht zu schade, eine ganze Bevölkerungsgruppe zum Sündenbock zu erklären. Da widersprach sogar der einer Corona-Verharmlosung sicher unverdächtige Virologe Christian Drosten. „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften“, stellte Drosten fest. „Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen – auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger.“ Reicht „etwas weniger“ für eine Impfpflicht aus?
Die Verängstigung der Bevölkerung, die schon frühzeitig mit der gezielt geplanten Panikmache aus dem Haus von Innenminister Horst Seehofer (CSU) begonnen hatte (Rabe Ralf Juni 2021, S. 18) – unvergessen seine Freude über Abschiebungen – setzte sich fort mit Spahns Ansage, Ende des Winters seien alle „geimpft, genesen oder gestorben“. Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin forderte einen „Lockdown für Ungeimpfte, eine allgemeine Impfpflicht und eine Kostenbeteiligung Ungeimpfter an Krankenhausleistungen, sollten diese mit einer Coronainfektion in eine Klinik eingeliefert bzw. auf einer Intensivstation behandelt werden müssen“. Die Ungeimpften „werden uns sonst in eine Katastrophe führen und unser Gesundheitssystem in einem Maße überlasten, wie wir es bisher nicht kennengelernt haben“. Sogar einen vollständigen „Verlust des Krankenversicherungsschutzes für Impfverweigerer“ brachte der Bielefelder Rechtsprofessor Franz C. Mayer in die Diskussion.
Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?
Noch im August 2021 verkündete die Bundesregierung auf ihrer Website „Fakten gegen Falschmeldungen zur Corona-Schutzimpfung“ eindeutig: „Eine Impfpflicht wird es nicht geben. Nachrichten und Beiträge, die etwas anderes behaupten, sind falsch.“ SPD-Kandidat Olaf Scholz lehnte beim „Kanzlertriell“ am 12. September 2021 eine Impfpflicht ganz klar ab. Der geschäftsführende Gesundheitsminister Spahn gab noch am 18. November im Bundestag sein Wort: „Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben. Hören Sie endlich auf, anderes zu behaupten!“
Wenige Tage später teilte Berlins geschäftsführender Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) zum Ende seiner Amtszeit aus: „In der Situation, in der wir jetzt sind, sind wir durch die vielen Ungeimpften.“ Die kommende Impfpflicht definierte er als „ein Impf-Angebot, bei dem es Konsequenzen gibt, wenn man es nicht annimmt, zum Beispiel am Arbeitsplatz“.
Denunziation und Ausgrenzung von Ungeimpften
Die Komikerin Sarah Bosetti stellte in ihrer Reihe „Bosetti will reden“ im ZDF am 3. Dezember 2021 in der Folge „Omikron – und täglich grüßt das Lockdowntier“ die Behauptung auf: „Wir alle wissen, wer die Schuld an dieser vierten Welle trägt. Stellt euch vor, es hätten sich einfach alle, die können, impfen lassen. Und wir hätten vor zwei Monaten mit dem Boostern angefangen. Wir hätten jetzt ein Problem weniger.“ Sie behauptete weiter, dass „Kritik an unsolidarischem Verhalten“ heute als Aufruf zur Spaltung der Gesellschaft gelte, und fragte sich „ob die Spaltung der Gesellschaft wirklich etwas so Schlimmes“ sei, denn: „Die Gesellschaft würde nicht in der Mitte auseinanderbrechen, denn eigentlich sitzen die Leute, die die Gesellschaft spalten wollen, ja ziemlich weit rechts und ziemlich weit unten.“ Sie spielte das Lied „Dörte“ von Reinald Grebe mit der Zeile vom „Blinddarm der Gesellschaft“ an und fuhr fort: „Genau, und so ein Blinddarm ist ja jetzt nicht im strengeren Sinne essenziell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“
Nach heftiger Kritik und dem Vergleich mit der menschenverachtenden Sprache der Nazis reagierte sie ein paar Tage später: „Ich gebe auf. Ich möchte mich hiermit in aller Form für meine Worte entschuldigen. Es tut mir leid, liebe Blinddärme dieser Welt. Diesen Vergleich hattet ihr wirklich nicht verdient.“
Jörg Wimalasena stellte in der taz fest: „Ein Klima der Denunziation machte sich breit“, äußerte jedoch Verständnis für den „Impuls der Abneigung, den viele Linke gegen Nichtgeimpfte haben“. Die damals noch geschäftsführende Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) rief auf Twitter auf: „Empfehlung privat: Kontakt nur mit Geimpften!“ Einen Schritt weiter ging der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU): „Ich finde, dass sich Ungeimpfte gar nicht treffen sollten in diesen Zeiten, um das Virus nicht weiterzuverbreiten.“
Nach den aktuell gültigen Corona-Regeln sind öffentliche Veranstaltungen unter bestimmten Bedingungen wieder mit 3G (geimpft, genesen, getestet) möglich, private Zusammenkünfte jedoch praktisch nur mit 2G. Sobald eine ungeimpfte Person ab 14 Jahre teilnimmt, gilt laut Bund-Länder-Beschluss vom 16. Februar die Beschränkung auf „den eigenen Haushalt sowie höchstens zwei weitere Personen eines weiteren Haushalts“. Ab dem 20. März soll ein geändertes Infektionsschutzgesetz gelten, der Gesetzentwurf wird ab dem 16. März im Bundestag beraten. Viele Beschränkungen sollen damit enden, die Bundesländer können jedoch weitere Verschärfungen beschließen.
Eine allgemeine Impfpflicht für alle?
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) plädierte am 18. Januar für eine Impfpflicht, mit der Begründung: „Wir müssen verhindern, dass das Gesundheitssystem überfordert wird.“ Ausgerechnet Lauterbach, der 2004 mitverantwortlich war für die Einführung der Fallpauschalen (DRGs), die Menschen zu Kostenfaktoren im Effizienzwettbewerb zwischen den Krankenhäusern machen, und auch vehement für Krankenhausschließungen eintrat (Rabe Ralf April 2020, S. 12).
Am 14. März hat der Petitionsausschuss des Bundestages über zwei Petitionen beraten. Eine wendet sich gegen die allgemeine Impfpflicht, die andere gegen die Impfpflicht im Gesundheitswesen. Beide Petitionen erhielten mehr als 100.000 Mitzeichnungen innerhalb von vier Wochen und lagen damit deutlich über dem für eine öffentliche Behandlung benötigten Quorum von 50.000. Sein Votum will der Ausschuss in einer der nächsten Sitzungen fällen.
Rund 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben den Bundestagsabgeordneten unter dem Titel „Eine Covid-19-Impfpflicht ist verfassungswidrig“ sieben Argumente gegen eine allgemeine Impfpflicht vorgelegt. Eine Impfpflicht ist aus ihrer Sicht unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten weder geeignet noch erforderlich noch angemessen.
Am 17. März will sich der Bundestag mit weitergehenden Vorschlägen für eine Impfpflicht befassen. Es stehen einige Vorschläge zur Diskussion, von einem Verzicht auf die Impfpflicht über – gegebenenfalls auch verpflichtende – Beratungsangebote bis zur Impfpflicht für alle ab 18 oder ab 50 Jahren.
Kontinuitäten der Ausgrenzung
„Mein Körper gehört mir“ war und ist bis heute ein wichtiger feministischer Slogan. Das Misstrauen gegenüber Politik und Pharmaindustrie ist nachvollziehbar und berechtigt. Politiker bereicherten sich an Maskenaufträgen, und Pharmakonzernen ging es schon immer zuerst um ihre Profite. „Eine Handvoll Großkonzerne, auch Big Pharma genannt, stellen den Großteil der Medikamente auf dem Weltmarkt her“, heißt es in einer Arte-Doku von 2020. „Großen Laboren wird vorgeworfen, sie verheimlichten oder bagatellisierten Teile ihrer klinischen Forschungsergebnisse vor den Gesundheitsbehörden, um ihre Monopolstellung beizubehalten.“
Warum sollten den Pharmaunternehmen – noch dazu angesichts weltweit einmalig umfangreicher und auf Dauer angelegter Märkte – plötzlich die Menschen wichtiger sein? Das allein sagt noch nichts über die Qualität der Impfstoffe aus, aber müsste nicht vor diesem Hintergrund das Misstrauen derjenigen, die sich nicht impfen lassen möchten, zumindest respektiert werden?
Minderheiten als Sündenböcke hinzustellen und auszugrenzen hat Tradition. Auch wenn jede Situation einzigartig ist und jede Betroffenengruppe ihre Besonderheiten hat, lassen sich doch Ähnlichkeiten in den sozialen Mechanismen erkennen: Rassistische Abwertung von Geflüchteten seit Jahrzehnten, Abwertung von Erwerbslosen seit der Einführung von Hartz IV, jetzt die Abwertung von Ungeimpften als unsolidarisch und gefährlich, und ganz aktuell die Abwertung hier lebender russischer Menschen, als seien sie persönlich verantwortlich für Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Was sagt das aus über eine Gesellschaft? Und wen trifft es als Nächstes? Schon morgen könnten diejenigen, die sich heute noch als Teil der Mehrheitsgesellschaft sicher und anderen (moralisch) überlegen fühlen, selbst an der Reihe sein.
„Kein gutes Signal an die Beschäftigten“
Wenn bis zum 15. März kein entsprechender Nachweis vorgelegt wurde, ist die entsprechende Einrichtung verpflichtet, dies dem Gesundheitsamt zu melden, das ein „Betretungs- bzw. Beschäftigungsverbot … aussprechen bzw. ein Bußgeldverfahren einleiten“ kann. Bis dahin dürfen die Betroffenen weiterarbeiten. Das Bußgeld kann bis zu 2.500 Euro betragen und kann mehrfach verhängt werden. Selbstständige müssen ihren eigenen Nachweis für den Fall einer behördlichen Überprüfung selbst aufbewahren. Diese und weitere Regelungen hat das Gesundheitsministerium in einer Handreichung vom 22. Februar veröffentlicht.