„Ihr sollt es mal schlechter haben!“

 In FEATURED, Kultur, Politik

Feindbild Jugend: Die Reaktionen von Älteren auf die Schülerstreiks offenbaren tiefer gehende Ressentiments. Sie werden gefürchtet und verachtet, beneidet und schamlos ausgenutzt: Jugendliche sind für Erwachsene noch immer weitgehend unverstandene, fremdartige Wesen. Generationenkonflikte gab es schon immer. Angestachelt durch medial aufbereitete Gewalttaten, hat sich in den letzten Jahren allerdings eine regelrechte Jugendphobie herausgebildet, die diskriminierende Züge annimmt. Dies ist kein Widerspruch zum allgegenwärtigen „Jugendwahn“. Beide sind nur zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Nun haben sich junge Menschen selbst zu Wort gemeldet und eine Schülerstreik-Bewegung gegründet, die die politische Landschaft in vielen Ländern erschüttert. Der Hauptvorwurf: Die Altvorderen hätten in der Klimafrage ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Da wird so mancher „Spitzenpolitiker“ nervös und drängt die Lausebengel und Gören mit altväterlicher Gebärde, husch wieder an die Schulbänke zurückzugehen. Zu spät, die Jugend ist erwacht und wird sich viele Zumutungen nicht länger bieten lassen.  Roland Rottenfußer

 „Da lungern immer so Jugendliche rum“, beschwerte sich Kabarettistin Gisela Schneeberger bei ihrem Sketch-Partner Gerhard Polt. „Diese Jugendlichen nehmen immer mehr überhand.“ Ein Vorläufer Polts, der legendäre bayrische Komiker Karl Valentin, formulierte es noch direkter: „Sie sind mir der Allerjüngste. Schämen Sie sich, dass Sie noch so jung sind!“ Die geballte Ironie der Münchener Humor-Elite macht immerhin eines deutlich: Jugendfeindlichkeit und Jugendphobie sind kein neues Phänomen.

Schon immer gehörte es zum Verhaltensrepertoire des deutschen Spießbürgers, über Jugendliche herzuziehen. Zu laut, zu respektlos, zu freizügig, lauten einige der üblichen Vorwürfe. Im besten Fall wird jungen Menschen gnädig der Status des noch Unausgereiften zugestanden, der immerhin auf dem Weg ist zu einem Grad der Vollendung, den wir Ältere längst erreicht haben. Jugend als eine Art Krankheit, deren Heilung sich im Übergang zum leisetreterischen und regelkonformen Verhalten des Erwachsenen vollzieht.

Unlängst sah vor allem Christian Lindner ziemlich alt aus. Und das obwohl das Image des smarten, juvenilen Gutaussehers beinahe das einzige Pfund ist, mit dem der FDP-Vorsitzende politisch wuchern kann. „Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen“, sagte Lindner dem offensichtlich geistesverwandten Blatt „Bild am Sonntag“. Er fügte hinzu: „Das ist eine Sache für Profis.“ In der Unterrichtszeit sollten Schüler sich „lieber über physikalische und naturwissenschaftliche sowie technische und wirtschaftliche Zusammenhänge informieren“.

Schuleschwänzen: schlimmer als der Öko-Kollaps

Das Peinliche an Lindis schwarzpädagogischem Vorstoß: genau das haben die streikenden Schüler*innen ja getan. Sie befinden sich mit ihren Vorwürfen gegen die Älteren ganz auf der Höhe wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Klimawandel. Wenn „Profis“ uns an den Rand des Abgrunds geführt haben, könnte man argumentieren, ist die Zeit engagierter „Laien“ gekommen, die ihr Herz und ihren gesunden Menschenverstand noch nicht am Eingang zur großen Karriere abgegeben haben. Das Problem ist nur: Politiker wie Lindner halten derart treu am neoliberalen Glauben fest, dass sie die Wurzel aller Umweltprobleme, das ökonomische Wachstums- und Profit-Dogma, nicht in Frage stellen. Es erscheint so, als ob Kapitalismus-Befürworter Außerirdische wären, die sich gar nicht als Teil ein- und desselben Ökosystems verstehen. Anders ist schwer erklärbar, warum sie das Primat der Wirtschaft bis zum Punkt der kollektiven Selbstzerstörung verteidigen, obwohl sie wissen müssten, dass ein kaputtes Ökosystem auch eine funktionierende Ökonomie zerstören würde. Überspitzt ausgedrückt: Tote kaufen keine Handys.

Um seinen vielbespöttelten „Profi“-Spruch zu rechtfertigen, legte Christian Lindner aber an anderer Stelle nach: „Wer Kinder und Jugendliche ernst nimmt, der sagt ihnen die Meinung und dass Regeln für alle gelten.“ Auch Erwachsene dürften schließlich nicht während der Arbeitszeit demonstrieren. Hier geht es also nicht mehr um Meinungsverschiedenheiten in der Umweltpolitik, sondern um „Wichtigeres“: die universelle Gültigkeit von Regeln. Und wer hat die gemacht? Natürlich die Älteren. Den Jüngeren bleibt in diesem „Spiel“ nur übrig, sich dem zu fügen, was ihnen vorgesetzt wird. Das ist das Peinliche und leider auch Charakteristische an der gegenwärtigen Debatte: Während die Zukunft der Erde, der Menschheit und aller anderen Lebensformen auf dem Spiel steht, machen sich Politiker Sorgen um die Erosion der Staatsautorität durch Schuleschwänzen.

Lindner fürchtet, kurz gesagt, dass Ausnahmen vom Regelfall der bedingungslosen Unterwerfung der Jugend einreißen, dass die Decke der Disziplinierung, die die Regelmacher über das Land gebreitet haben, an einigen Stellen Risse bekommt. Vielfach, nicht nur von Lindner, wird nun gefordert, die Ausbüchsenden zurückzupfeifen und „hart durchzugreifen“. Die strukturelle Erpressung der Jüngeren durch die Älteren fließt allenthalben in die politischen Statements ein: Wenn du nicht tust, was wir wollen, nehmen wir dir jede Chance auf Zukunft. Aber welche Zukunft haben Kinder und Jugendliche überhaupt noch, die in 20, 30 oder 50 Jahren von uns verbrannte Landschaften erben werden, während sich die Täter längst Richtung Jenseits abgeseilt haben? Die Schülerstreik-Bewegung hat das verstanden, ihre Kritiker bislang nicht.

Ageismus in Aktion

Ist es wahr, was Karl Valentin gesagt hat? Sollte man sich schämen, noch so jung zu sein? Als „Ageismus“ (parallel zu Rassismus und Sexismus) bezeichnet man die Diskriminierung eines Menschen wegen seines Alters. Gemeint sind damit allerdings Fälle, in denen ältere Menschen ausgegrenzt werden. Man muss diesen Begriff nun (da ein besserer Ausdruck dafür fehlt) für die Diskriminierung Jugendlicher verwenden, denn das Problem ist brisant. Seit einigen Jahren weht den unter 25-jährigen ein besonders eisiger Wind ins Gesicht.

Vor mehr als zehn Jahren etwa gingen Nachrichten über sogenannte Mosquito-Boxen durch die Presse, Geräte, die Jugendliche durch einen schrillen Piepton von Orten vertreiben sollen, wo sie unerwünscht sind. „Lärm, Vandalismus, Hooliganismus und Gewalt sind konkrete spürbare Folgen von herumlungernden Jugendlichen“, heißt es auf der Webseite des Herstellers. „Mosquito wurde speziell entwickelt, um das Herumlungern von Jugendlichen an lärmempfindlichen Orten, vandalenanfälligen Objekten und Gebäuden, sicherheitsrelevanten Lokalitäten und Passagen (…) zu definierten Zeiten zu unterbinden.“

Die Herstellerfirma beruft sich dabei auf die besonders unduldsame Praxis der englischen Behörden, die die Ultraschallgeräte als das „wirkungsvollste Werkzeug im Kampf gegen antisoziales Jugendverhalten“ bezeichnen. „Antisozial“ ist im Übrigen eine auch bei Scientology gebräuchliche Bezeichnung, und der Name „Mosquito“ sagt unverblümt, wie man den zu vertreibenden „Feind“ einschätzt: als Ungeziefer.

Nun will ich an dieser Stelle nicht Gewalt und Vandalismus befürworten. Tatsache ist aber, dass durch die Geräte völlig harmlose 20-Jährige vertrieben werden, während gewaltbereite 45-Jährige ungestört auf den betreffenden Plätzen verweilen können. Die akustische Waffe gegen Jugendliche ist ageistisch und diskriminierend. Sie stellt junge Menschen unter Generalverdacht und ist eine sanfte Form der Körperverletzung. Man stelle sich nur vor, jemand käme auf die Idee, eine Schallwaffe gegen Farbige oder gegen Frauen herzustellen (vorausgesetzt, dies wäre technisch möglich) und dies im Internet auch offen vertreten? Welcher Aufschrei ginge durch die Presselandschaft!

Das einengende Flussbett

Nicht immer sind die Waffen der Ordnungshüter so präzise, wenn es darum geht, Jugendliche auszugrenzen. Häufig verhängen Behörden in den letzten Jahren pauschale Verbote oder Regelverschärfungen, bei denen das Verhalten von „Jugendbanden“ als Aufhänger dient. Oder, so könnte man interpretieren, als Vorwand. Ein Beispiel ist die Welle der Alkoholverbote in Innenstädten, meines Erachtens ein klarer Verstoß gegen die im Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte.

So begann ein Artikel der „Zeit“ über das Alkoholverbot in der Freiburger Altstadt mit einem Schreckensszenario: „Betrunkene Jugendliche, die einander die Köpfe einschlagen, junge Randalierer, die Scheiben zertrümmern und Rückspiegel abbrechen …“ So wird erst einmal ein Feindbild gezeichnet, auf das sich die Mehrheit der „anständigen“ Bürger leicht einigen kann. Kaum eine Einschränkung der Freiheitsrechte, die heute nicht mit dem Verweis auf Jugendliche begründet wird. Diesbezüglich sind die unter 25-Jährigen derzeit sogar im Begriff, den Terroristen den Rang abzulaufen. Denn wer eine überregulierte Gesellschaft schaffen will, der möglichst jeder Hauch von Rebellion und Lebendigkeit ausgetrieben wird, der findet im Verhalten jüngerer Menschen immer genügend abschreckende Beispiele.

Aber ist es denn nicht wahr, dass sich in letzter Zeit Gewalttaten durch Jugendliche häuften? Man denke nur an die schwere Gewalttat in der Münchner U-Bahn 2007, für die nun einmal keine Senioren verantwortlich zeichnen. Oder an die Kölner Silvesternacht 2014/2015, mit der sich das Schreckensbild des „jungen, männlichen Flüchtlings“ ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hatte. Auch hier ist es wichtig, die Grundregeln der Fairness einzuhalten: keine Gruppe pauschal zu verurteilen und nach den Ursachen zu suchen, anstatt gebetsmühlenartig „harte Strafen“ zu fordern.

Zur Ursachensuche gehört auch das Eingeständnis der Mitverantwortung der älteren Generationen. Sie hat ja jene Regeln geschaffen, mit denen jüngere Menschen heute leben müssen oder an denen sie scheitern. Bertold Brecht sagte: „Der reißende Fluss wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.“ Schon unter diesem Aspekt sollte man sich eine Politik der Regelverschärfung, der längeren Gefängnisstrafen und paramilitärischen Erziehungsheime gut überlegen. Eine Regulierung und Verengung von Flussbetten führt leicht zu Überschwemmungen, Flüsse fühlen sich in großzügigen, breiten Auenlandschaften wohl.

 „Die gefährlichste Spezies der Welt“

Der Spiegel titelte 2008 – recht typisch für momentanen Zeitgeist: „Junge Männer – die gefährlichste Spezies der Welt“. Die Begründungen, die für diese These angeführt wurden, hatten überwiegend anekdotischen Charakter. Außerdem wurde die Gewaltneigung junger Männer hormonell erklärt. Es ist sicher richtig, dass der jungendliche Sexualtrieb und Gewalt etwas miteinander zu tun haben. Wenn es aber einen solchen Zusammenhang gibt, warum versucht man nicht gerade deshalb, überschießende Verhaltensweisen zu entschuldigen und auf Strafen möglichst zu verzichten?

Die Süddeutsche Zeitung brachte in ihrer Online-Ausgabe eine brillante Erwiderung auf den Spiegel-Artikel und wies nach, dass das gefährlichste Alter eigentlich jenes zwischen 40 und 50 Jahren ist. Begründung: Fast alle großen Menschheitsverbrecher wie Hitler, Mussolini, Stalin, Franco, Pol Pot, Saddam Hussein und Idi Amin hätten mit Mitte 40 nach der Macht gegriffen und ihr Zerstörungswerk begonnen. So gesehen, müsste man eher für diese Altersgruppe hohe Piepstöne oder ein präventives Kontrollnetz entwickeln.

Das Schwellenalter 25 spielt auch in unserer Rechtsprechung eine Rolle. Zunehmend setzt sich die Einteilung der Staatsbürger in drei Gruppen durch: die „unmündigen“ (unter 18), diejenigen, die im vollen Besitz aller Bürgerrechte sind (über 25) und eine Gruppe, die irgendwo dazwischen angesiedelt ist: „Halbvolljährige“, mit einem reduzierten Reservoir an Rechten. Bis zu seinem 25. Lebensjahr bekommen junge Erwachsene, die auf Hartz IV angewiesen sind, in Deutschland kein Wohngeld, sofern sie die Möglichkeit haben, bei ihren Eltern zu wohnen. Dies kann für reife junge Menschen im Einzelfall mit einer Zwangsumsiedlung ins Elternhaus verbunden sein – eine staatlich verordnete Regression ins Kindliche, die Eltern mitunter überfordert, junge Menschen demütigt.

Man kann über die Forderung nach mehr Eigenverantwortung und „Härte“ gegen arbeitslose Menschen denken, was man will: Tatsache ist, dass hier die eine Gruppe der Arbeitslosen anders behandelt wird als die andere – ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes und ein Fall von Ageismus (Diskriminierung von Personen aufgrund ihres Alters).

Alte verzehren, Junge zahlen die Zeche

Eine weitere krasse Form der Diskriminierung ist die wachsende Staatsverschuldung. Wobei es hier keine relevante Altersgrenze gibt. Es gilt die Faustregel: Je jünger jemand ist, desto mehr wird er die Zeche für eine „Mahlzeit“ bezahlen müssen, die er selbst gar nicht verzehrt hat. Schon der Gründervater der USA, Thomas Jefferson, sagte prophetisch: „Keine Generation darf Schulden anhäufen, die höher sind als das, was sie im Laufe ihres eigenen Daseins zurückzahlen kann.“ Davon sind wir seit Jahren weiter entfernt denn je.

Profiteure einer eskalierenden Verschuldung sind stets die Groß-Gläubiger, die sich damit das Erstzugriffsrecht auf einen wachsenden Anteil der Arbeitserträge künftiger Generationen erkaufen. Die Kinder der „Geber“ (das sind fast alle von uns, jeder Steuerzahler) sind den Kindern der „Nehmer“ (den Erben der Gläubiger) quasi pränatal tributpflichtig. Wie lange werden es sich junge Tributpflichtige noch gefallen lassen, wenn graumelierte Politiker mit versteinerten Mienen lapidar anmerken, dass die heute notwendigen Milliardenausgaben von künftigen Generationen leider Gottes mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden müssen?

Die Kriegsgeneration gab ihren Kindern häufig eine Art Segen mit auf den Weg: „Ihr sollt es mal besser haben!“ Heute ist es so, als würden die Älteren ihren Kindern einen Fluch in die Wiege legen: „Ihr sollt es mal schlechter haben. Unser Geld haben wir – Euer Einverständnis voraussetzend – mit Priorität dafür ausgegeben, das Wachstum der großen Vermögen zu sponsern und den Rüstungsetat zu steigern. Da uns also nun das Geld ausgeht, habt ihr sicher Verständnis dafür, dass wir stattdessen Eures verpfänden mussten. Viel Spaß bei der Tilgung (nebst der vielfachen Summe an Zinszahlungen)!“

Man hört und liest immer wieder von einer wachsenden Aggressivität unter Jugendlichen. Gemessen an der beschriebenen ungeheuren Zumutung meine ich, dass sich die Jugend erstaunlich ruhig verhält. Die momentane Friedhofsruhe – Klimafrage ausgenommen – rührt aber vielleicht daher, dass die Zusammenhänge bisher nur wenigen bewusst sind. Allenfalls die Reformen des Urheberrechts haben für jüngere Menschen derzeit ein ähnlich großes Erregungspotenzial. Schon die im Altersschnitt ziemlich junge Piratenpartei punktete mit einer Kampagne gegen übermäßig rigide Kriminalisierung illegaler Downloads. Dabei gäbe es genügend andere Zumutungen, gegen die man auf die Straße gehen müsste. Und ich rede jetzt erst mal nur von jugendspezifischen Fragen, nicht von politischen Themen, die wirklich alle etwas angehen wie Krieg und Frieden.

Lehrjahre, Sklavenjahre

Ein großer Skandal ist die allgegenwärtige Entmutigung und Ausbeutung junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Jungen Menschen wird heute recht unverhohlen gesagt, dass sie benutzt werden sollen. Von ihnen wird nicht die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Regeln (oder gar Mitbestimmung darüber) erwartet, sondern ausschließlich deren gehorsame Einhaltung. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ heißt ein wohlfeiler Altherrenspruch. Dass es allerdings Sklavenjahre sein müssen, davon war nicht die Rede.

Firmen verheizen Jugendliche und junge Menschen mit Vorliebe für unbezahlte Praktika. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di rechnete vor, dass 68 Prozent der Praktikanten, die während oder nach dem Studium in einem Betrieb arbeiten, keinen müden Euro dafür bekommen. Die Bezeichnung „Sklaverei“ ist dafür natürlich nicht korrekt – sie ist noch untertrieben. Denn Onkel Tom in Harriet Beecher-Stowes berühmtem Roman bekam für seine Arbeit wenigstens noch seine „Hütte“, also Unterkunft und Verpflegung.

Dabei heißt es in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO von 1948: „Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert.“ Nirgendwo ist die Rede davon, dass die Menschenwürde erst mit 25 beginnt. Die Bereitschaft, sich für einen bestimmten Zeitraum ausbeuten zu lassen, wird so zur unverzichtbaren Voraussetzung für jede, noch so geringe „Karrierechance“.

Die Lehre, die junge Menschen daraus ziehen, ist fatal. Bewerbungsratgeber werden zur hohen Schule der Selbstverleugnung. Denn in „Bewerbung“ steckt das Wort „Werbung“. Und geworben wird natürlich für die Ware „Ich“. Der solcherart verdinglichte, zur Ware degradierte Mensch verliert seine Selbstachtung. Da aber ein selbstbewusstes Auftreten gerade im Berufsleben Pflicht ist, grassiert der Typus des „Selbstsicherheitsdarstellers“, des tief verunsicherten, innerlich gebrochenen Menschen, der nach außen hin eine forsche Fassade kultiviert.

„Ihr seid zu viele“

Genau genommen leitet sich das Dilemma der Jugendlichen heute schon aus der Demografie ab: Es gibt zu wenige von ihnen (gemessen an der Aufgabe, die Älteren mit ihrer steigenden Lebenserwartung zu unterstützen). Anderseits gibt es von ihnen auch zu viele. Ein Zyniker könnte hier formulieren: Aus purem Egoismus (um sich einen persönlichen Kinderwunsch zu erfüllen) produzieren Eltern heute um ein vielfaches mehr Jugendliche, als die Privatwirtschaft jemals wird „verwerten“ können. In Zeiten der Automatisierung wird ein größer werdender Anteil von ihnen schlichtweg nicht mehr gebraucht. Was tun mit dem überschüssigen Menschenmaterial?

In Thomas Hardys Roman „Herzen im Aufruhr“ wandert eine junge Familie mit drei Kindern ruhelos umher, um ein Quartier zu suchen. Überall wird sie abgewiesen oder muss das Quartier schon nach kurzer Zeit wieder räumen. Warum das so sei, fragt der älteste Sohn seine Mutter, und diese antwortet: „Weil ihr so viele seid.“ Am nächsten Tag finden die erschütterten Eltern ihre drei Kinder tot vor. Der Älteste hat die jüngeren Geschwister mit einem Kissen erstickt und sich selbst an einem Strick erhängt. Auf dem Bett liegt ein Zettel mit der Aufschrift: „Weil wir zu viele sind.“

Was hat dieser Roman aus dem späten 19. Jahrhundert mit uns zu tun? Nun, unter deutschen Jugendlichen ist Selbstmord mittlerweile die zweithäufigste Todesursache. Ungefähr jede 6. Selbsttötung nimmt ein 16 bis 24-Jähriger vor. Das Grundgefühl, „zu viele“ zu sein – gemessen an der Zahl der wirklich erstrebenswerten „Plätze an der Sonne“ – kann dazu führen, dass Aggression entsteht, die sich in drei Richtungen entlädt: Aggression gegen Gleichaltrige als potenzielle „Konkurrenten“ im allgegenwärtigen „Wettbewerb“. Aggression gegen die Älteren, die diese Regeln gemacht haben. Und Aggression gegen sich selbst, weil das „Ich“ als Quelle beständiger Unzulänglichkeit und Leiderfahrung erlebt wird.

Computerkids – die unbekannten Wesen

Zum zeitlosen Phänomen des Generationenkonflikts sowie den genannten demografischen und wirtschaftlichen Faktoren kommt in unserer Epoche aber noch eine Besonderheit hinzu: Wegen der modernen Computer- und Medientechnik tut sich ein fast unüberbrückbarer Graben zwischen den Generationen auf. Heute 50-Jährige sind noch ohne Computer in der Schule aufgewachsen und mussten sich das nötige Handwerkszeug noch mit 35 mühsam aneignen. Heute 20-Jährige dagegen saugen die Computertechnik mit der Muttermilch auf, programmieren, loaden, streamen, whatsappen, chatten und surfen wie die Weltmeister und reden (aus Sicht der Älteren) ein unverständliches Kauderwelsch aus Abkürzungen und Anglizismen.

So kommt es, dass die Generationen einander heute nicht weniger fremd sind, als dies in den späten 1960ern der Fall war (als die Kriegsgeneration auf junge, kritische „68er“ prallte). Die beiderseitigen Vorurteile haben sich längst verfestigt: Technisch inkompetente „Offline-Opas“ treffen auf technikbegeisterte, aber humanistisch unterbelichtete Spielkinder.

Dieses beiderseitige Unverständnis wird dann gefährlich, wenn die Älteren ihre noch vorhandene Machtüberlegenheit ausnützen, um Jüngere in ihren Ausdrucksformen repressiv zu beschneiden. Das Establishment agiert heute in einer Weise, die Jugendliche als ebenso ignorant wie arrogant empfinden. „Warum einen Kompromiss aushandeln? Wir sind mehr und wir sind mächtiger. Die sollen parieren!“

So kommt es zur Kriminalisierung wesentlicher Teile der Jugendkultur. Jemand sitzt mit Bierdose und Döner auf dem Marktplatz und hat ein bisschen Spaß mit Freunden (wobei es etwas lauter wird) – in manchen Städten illegal. Jemand kifft und schaut sich dazu am Computer einen „downgeloadeten“ Spielfilm an – illegal. Oder er brennt sich eine CD, ohne mit seinem spärlichen Taschengeld auch noch das Millionenvermögen einer Lady Gaga zu alimentieren – illegal. Ein Volk von jungen „Verbrechern“.

Durch die frühe Erfahrung mit der Kriminalisierung der eigenen Hobbys werden Verhaltensweisen eines „Doppellebens“ eingeübt. Der Alltag wird zur Grauzone, die ständig von Aufdeckung und „harten Strafen“ seitens der Älteren bedroht ist. Jugendliche flüchten ins innere Exil, umzingelt von einer Welt der Spaßbremsen und Kontrollfreaks, der verständnislosen, inkompetenten Mahner und Strafer.

Rachefantasien der Älteren

Dabei muss man nicht Psychologie studiert haben, um auf die Idee zu kommen, dass das ganze Gespenst der Jugendfeindlichkeit etwas mit Neid zu tun hat. Jugendliche haben noch ihr ganzes Leben vor sich. Sie haben Spaß und genießen einen Rest von „Narrenfreiheit“. Ihr Körper ist trotz mancher Exzesse vergleichsweise wohlgeformt, schlank und gesund. Jungen Menschen stehen Sexpartnerinnen und Sexpartner in noch „knackigem“ Alter zur Verfügung, die für Ältere zunehmend außer Reichweite geraten. Das kann Neid schüren, den sich nicht jeder Ältere eingestehen mag.

„Wenn sie schon derart von der Natur bevorzugt sind“, könnte die unausgesprochene Rachefantasie lauten, „können wir sie wenigstens in der Schule und im Berufsleben klein halten“. Dabei verstehe ich unter „Neid“ einen fantasierten Rollentausch. Die unzähligen Liftings, Faltencremes und Gesichtsoperationen, die Älteren eine schier unendlich verlängerte Adoleszenz versprechen, sind ja nichts anderes als ein hilfloser Versuch, mit der scheinbar verachteten Jugend auf ihrem ureigensten Gebiet zu konkurrieren.

Während Erwachsene Strategien entwickeln, um ihren Altersprozess zu verzögern, versuchen sie auf der anderen Seite, diesen Prozess bei Jugendlichen zu beschleunigen. Jugendlichen wird ihre Jugend buchstäblich geraubt: durch verfrühte und überhöhte Leistungsanforderungen, die schon in den unteren Schulklassen beginnen. „Wenn du nicht den Übertritt ins Gymnasium schaffst (oder wenn du jetzt durchfällst), ist dir jede Zukunftschance verbaut. Denn es gibt zu viele von euch, und nicht jeder kann es nach oben schaffen.“ So lautet die unausgesprochene Botschaft eines härter und rigider werdenden Schulsystems.

Im Grunde sind sowohl wirklich alte als auch wirklich junge Menschen in unserer Gesellschaft unerwünscht. Alles läuft auf eine Verleugnung des natürlichen Entwicklungszyklus des Menschen hinaus. An beiden Rändern der normalen Lebensspanne tun sich Abgründe von körperlicher Unzulänglichkeit und nonkonformem Verhaltens auf, die es zu verdrängen gilt. Angestrebt wird ein Einheitsmenschentyp: der beruflich voll funktionstüchtige, in seinem emotionalen Ausdruck auf ein vernünftiges Maß beschnittene Mensch mittleren Alters. Ewig dynamisch und glattgesichtig wie ein junger Hüpfer muss er sein, gleichzeitig aber angepasst wie ein schon Halbtoter.

Der Schatten des Verdrängten aber wächst und bricht sich Bahn in scheinbar unmotivierten Gewaltakten, in Pöbeleien und Respektlosigkeit, in Rückzug und Medienverwahrlosung – alles Symptome eines mehr gefühlten als artikulierten Unbehagens an einer selbstgerechten Erwachsenenwelt. Wie, um Himmels Willen, kann jemand wirkliche Reife erlangen, wenn man ihm zuvor nicht erlaubt hat, wirklich jung gewesen zu sein? „Diese Generation hat Anspruch auf den Thron“, sang die Popgruppe „Söhne Mannheims“. Und sie fährt mit bedrohlichem Unterton fort:

„Wir haben euch noch nichts getan. Doch ihr werdet, was wir meinen, erfahren.

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