Im Unruhestand
Tagesablauf eines Frischlings in Rente. Das Rentendasein verspricht den Himmel auf Erden: Ewige Ferien, spontanes Reisen, der Besuch von Ausstellungen und Konzerten, viel Schlaf, Zeit für die Partnerschaft, beglückende Spaziergänge in der Natur und vieles mehr. Kurz gesagt: Ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben. Ist der Ruhestand wirklich so grandios? – Der Essayist und Lyriker Peter Fahr antwortet mit einem Gedicht.
rentner-blues
nachts erhebe ich mich mehrmals,
um mich auf dem klo zu quälen.
und um wieder einzuschlafen,
muss ich tausend schafe zählen.
aufgeschreckt vom lauten schnarchen
recke ich erst mal die glieder.
und mit schmerzendem gerippe …
ach, wie ist mir das zuwider!
steh ich endlich auf den beinen,
greife ich nach meiner brille,
schlurfe tastend in die küche,
wo ich ein glas wasser fülle.
ein paar pillen sind zu schlucken
und ich geb mir alle mühe,
an den dingern nicht zu würgen,
nicht zu kauen wie die kühe.
morgens braucht man was zu futtern,
sich zu wappnen für termine.
ich erlaube mir nur früchte,
essenzielle vitamine.
vor der flimmerkiste turnen,
duschen, anziehn und rasieren,
denn ich will mich vor dem spiegel
und den nachbarn nicht genieren.
draußen leere ich den kasten
mit der post und meiner zeitung,
suche wie so oft vergeblich
unterweisung, trost, begleitung.
irgendwo steht die prognose,
dass es heute regnen sollte.
muss ich mich nun ärgern, weil ich
gleich spazieren gehen wollte?
um mich vor dem nass zu schützen,
werde ich die stiefel tragen
und den mantel mit kapuze,
um den freigang doch zu wagen.
unterwegs grüßt mich ein fremder
oder müsste ich den kennen?
ich sag hallo, nicke freundlich –
jetzt nicht stehen, sondern rennen.
aber dieser mann will reden
und er tut es zur genüge.
ich hör zu und gebe antwort.
ob er mitkriegt, dass ich lüge?
als die ersten regenschauer
das geplauder jäh beenden,
humple ich zum einkaufszentrum,
arg verkrampft bis in die lenden.
vor dem käsestand bezaubert
mich ein attraktives mädchen,
doch mein früheres begehren
ist kein rad mehr, bloß ein rädchen.
lieber guck ich in den himmel,
wo die weißen wolken ziehen,
und flaniere über wiesen,
wo die bunten blumen blühen.
mittags öffne ich konserven,
ravioli, erbsen, rüben,
schlürfe einen schweren roten,
dass sich meine sinne trüben.
müde leg ich mich aufs sofa,
eine mütze schlaf zu nehmen,
träum vom hauptgewinn im lotto
und von artverwandten themen.
alles hilft nichts, ich erwache
und der alltag hat mich wieder.
bleibe noch ein bisschen liegen,
hör im radio liebeslieder.
später räume ich die leere
flasche weg, sie zu entsorgen,
und erledige den abwasch.
wäsche waschen kann ich morgen.
wie die zeit vergeht! ich müsste
schon seit einer viertelstunde
bei den pokerfreunden sitzen
für die wöchentliche runde.
ich betrete die spelunke,
wo die spieler mich erwarten,
die mir brüderlich verzeihen.
und der dealer gibt die karten.
fasziniert von flop, turn, river
zocken wir um unsre renten,
callen, raisen, gehen all in …
kumpels zwar, doch konkurrenten.
abends kehre ich nach hause –
ohne chips und illusionen,
gönne mir den fernsehkrimi,
geile schlitten, blaue bohnen.
dazu stürze ich ein bierchen
und verschlinge zu viel süßes.
beim zubettgehn bin ich unwohl
und bereue es und büß es.
und dann knipse ich das licht aus,
dabei zittern mir die hände,
und ich flüstere erleichtert:
endlich hat der tag ein ende.
Nö.
Ein Minimal-Dasein bedeutet die Hölle schon auf Erden – Scheibenkleister auf der Scheibe sozusagen.
Ein fremdbestimmtes Vor-Sich-Hin-Wurschteln, wobei ich anmerken darf, dass dieser Zustand mit natürlicher Beglückung verglichen wird, als Spaziergang durch die Abgründe unseres abgeholzten Sozialstaats.
Man möge mir nachsehen, meine kostbare Zeit der Kunst des Überlebens zu opfern.
Gell.