Ist es in Ordnung, dass jemand regiert?

 In FEATURED, Politik, Roland Rottenfußer

Alfons der Viertelvorzwölfte

Anarchische Gedanken über das Verhältnis von Staat und Individuum. „Fast ein jeder verlangt leidenschaftlich danach, über wenigstens einen einzigen seiner Brüder zu herrschen. Darin liegt das Unheil“, heißt es in Tschingis Aitmatows Roman „Der Richtplatz“.Wir werden von unserem ersten Atemzug an regiert, ob wir das wollen oder nicht. Dabei ist es verständlich, dass Herrschende Gehorsam und Unterordnung gut finden; dass aber auch die meisten Beherrschten es in Ordnung finden, dass jemand regiert, ist vielleicht der phänomenaler Erfolg einer jahrhundertealten Propaganda. (Roland Rottenfußer)

„Ich habe einen neuen Untertanen!“ König Alfons der Viertelvorzwölfte ist sichtlich gerührt. Der Regent des kleinen Inselstaates Lummerland herrschte nämlich bisher nur über genau drei Personen: Frau Waas, Herrn Ärmel und Lukas den Lokomotivführer. Nun sind es vier, ein Grund zur Freude. Niemand aber fragt das kleine schwarze Baby, das man später Jim Knopf nennen wird, ob es überhaupt Lust darauf hat, ein Untertan zu sein.

Diese skurrile Geschichte, die der Fantasy-Autor Michael Ende erdacht hat, macht eines ganz deutlich: Wir werden von unserem ersten Atemzug an regiert, ob wir das wollen oder nicht. Aber ist dies nicht eigentlich selbstverständlich? Brauchen wir nicht Gesetze, Regeln, Anweisungen wie die Luft zum Atmen? Hierüber gehen die Ansichten auseinander. Dass Herrschende Gehorsam und Unterordnung gut finden, ist verständlich; dass aber auch die meisten Beherrschten es in Ordnung finden, dass jemand regiert, ist vielleicht der phänomenaler Erfolg einer jahrhundertealten Propaganda.

Der Liedermacher Konstantin Wecker deutet den autoritären Charakter als Ergebnis von Sozialisation. Das Lied „Es ist schon in Ordnung“ schildert die fiktive Biografie eines kleinen Jungen. „Ob das die Eltern sind und ihr ‚Ordnung muss sein’, du möchtest wachsen,  doch sie kriegen dich klein. Dann träumst du von Wiesen und von Dingen, die weich sind, währenddessen erzählen sie dir, dass die Menschen nicht gleich sind und dass das wichtig ist, dass man pariert: denn da ist immer wer, der bestimmt und regiert.“ Wirklich tragisch an diesem Lied ist aber die Schlusswendung. Als Ergebnis seiner Erziehung kommt es schließlich so weit, dass der Junge die Herrschaft von innen heraus bejaht. „Und es dauert nicht lange, dann ist es passiert: ‚Es ist schon in Ordnung, dass jemand regiert.“ Jeder Widerstand ist gebrochen. Der Junge wird einmal selbst eine Autorität sein und sein Kind im selben Geist erziehen.

Konstantin Weckers Lied ist ein beeindruckendes Zeugnis der anarchistischen Geisteshaltung. Anarchie ist der blinde Fleck in der heutigen politischen Landschaft, eine unterdrückte, meist ausgeblendete Strömung der jüngeren Geschichte. Ökologiebewegung, Frauenbewegung, Antiglobalisierungsbewegung und Gewerkschaftsbewegung haben irgendwo einen Platz in unseren Köpfen (und in den Parlamenten). Anarchismus dagegen bleibt in der „Schmuddelecke“. Man kennt sie vom Hörensagen, zieht sie aber für sich selbst nicht ernsthaft in Betracht – wie etwa Rechtsradikalismus, Satanismus und Ufo-Glauben. Heutige „Freiheitskämpfe“ gibt es fast nur noch im Vorgriff oder unter Berufung auf alternative Formen der Unfreiheit. Rebellion gegen die Entscheidungen von Politikern, so sie überhaupt stattfindet, beruft sich z.B. meist auf das Grundgesetz. Ein Innenminister hat gegen den Verfassungsgrundsatz des Demonstrationsrechts verstoßen, ein Arbeitsminister gegen das Sozialstaatprinzip, usw.

Wer sich als politischer Rebell aber nur auf vorhandene Gesetze beruft, stärkt damit indirekt den Legalismus – die Annahme, dass Gesetze unabhängig von ihrer Qualität befolgt werden müssen. Er verliert sich im Paragrafendschungel und suggeriert, dass er notfalls jeden Unsinn mitmachen würde, solange er nur in einem Gesetz steht. Peter Kropotkin (1842-1921), einer der Vordenker des Anarchismus, setzte deshalb auf die Kraft freiwilliger Vereinbarungen, die während der frühen Perioden der Menschheitsgeschichte unser Geschick bestimmten. Diesen besäßen naturgemäß eine gewisse Vernunft und soziale Ausgewogenheit. Gesetze dagegen seien ein verhältnismäßig junges Phänomen, bestimmt durch den Willen, die Masse zu beherrschen und sich deren Arbeitserträge anzueignen. Nicht Ungehorsam (wie der Fall von Adam und Eva suggeriert) ist der Sündenfall, sondern die Machtausübung. „Fast ein jeder verlangt leidenschaftlich danach, über wenigstens einen einzigen seiner Brüder zu herrschen. Darin liegt das Unheil“, sagt Jesus in Tschingis Aitmatows Roman „Der Richtplatz“.

Gewiss sind gute Gesetze allemal besser als schlechte. Durch die Fixierung auf das geschriebene Recht verlieren wir jedoch den Zugang zu unserem spontanen Freiheitsimpuls. „Laws are made for people, and a law can never scorn the right of a man to be free”, sang die irische Folkgruppe “The Dubliners”. Kein Gesetz darf das Recht eines Menschen verachten, frei zu sein. Dem modernen Demokratiebürger fehlt es offenbar an dieser Art von Stolz, der „Obrigkeit“ an Respekt vor dem fundamentalen Wert der Freiheit. So als hätte uns das 20. Jahrhundert nicht schmerzlich gelehrt, wie unverzichtbar Freiheit ist, um überhaupt ein Dasein fristen zu können, das den Namen Leben verdient. Etwas von dem Geist des Anarchie-Urgesteins Michail Bakunin könnte uns da nichts schaden: „Ich glaube nicht an Verfassungen noch an Gesetze. Die beste Verfassung kann mich nicht befriedigen. Wir brauchen etwas anderes: den Sturm und das Leben, eine neue Welt, in der das Fehlen von Gesetzen die Freiheit erschaffen wird.“

Wozu und mit welcher Begründung gibt es überhaupt die Macht des Menschen über den Menschen? Wie kommt es zur scheinbar selbstverständlichen Herrschaft der Wenigen über die Vielen? Solche Fragen werden heute überhaupt nicht mehr gestellt. Unterstützt wird diese autoritätsgläubige Mentalität durch eine Mehrheit der Bürger, die allem Anschein nach nicht frei sein will. Die ihren Staat Hilfe suchend um Schutz vor Bedrohungen anflehen, die gar nicht so bedrohlich erscheinen würden, hätte sie die Staatsmacht nicht aufgebauscht. „Wir in einer autoritären Gesellschaft aufgewachsenen Menschen haben nur eine Chance, unsere autoritäre Charakterstruktur aufzubrechen, wenn wir es lernen, uns in dieser Gesellschaft zu bewegen als Menschen, denen diese Gesellschaft gehört, denen sie nur verweigert wird durch die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse“, schrieb Rudi Dutschke, Vordenker der 68er-Studentenbewegung.

Auch für Herrschaft, Gesetz und Ordnung gibt es zahlreiche, teilweise nachvollziehbare Argumente. Eine Argument allerdings sticht definitiv nicht: die Annahme, es sei „schon immer so gewesen“. Die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth beschreibt die archaische Gesellschaft nicht als „Herrschaft“ von Müttern, sondern als Abwesenheit von Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die erzählt von einer Art Basisdemokratie aus Clan- und Dorfräten, vergleichbar dem modernen Rätesystem. „Es ist klar, dass sich in einer solchen Gesellschaft weder Hierarchien und Klassen noch ein Machtgefälle zwischen den Geschlechtern oder den Generationen bilden können. Auf der politischen Ebene definiere ich Matriarchate daher als egalitäre Konsensgesellschaften. Patriarchate sind demgegenüber grundsätzlich Herrschaftsgesellschaften, sogar noch in ihrer Spielart als formale Demokratien.“ Die derzeitige „repräsentative Demokratie“ besagt dagegen eher: „Ich nehme deine Stimme und mache dann mit ihr, was ich will“.

Mit diesen Forschungsergebnissen, die durch Ausgrabungen u.a. im türkischen Catal Hüyük, gut belegt sind, wird ein faszinierende historische Perspektive eröffnet: Selbst wenn die Phase der Herrschaft noch so lange gedauert haben mag – was einen Anfang hatte, kann auch ein Ende haben. Ist Herrschaftslosigkeit ein weibliches Phänomen? Jedenfalls wurden alle wirklich fatalen Formen der Staatsautorität von Männern erdacht. Der Blick zurück in die Geschichte macht eines deutlich: Was dem Jungen in Konstantin Weckers Lied im Kleinen passiert ist, wiederholt sind in der Weltgeschichte im Großen: die traurige Geschichte eines nach Lust und Freiheit verlangenden Wesens, dem so lange erzählt wurde, dass es richtig sei, zu gehorchen, bis es daran sogar selber glaubte. Wer sich der Programmierung bewusst geworden ist, hat jedoch auch die Chance zur „Deprogrammierung“, der Auflösung der im Unterbewusstsein eingeprägten, fremdbestimmten Muster.

Mit dem Zusammenhang von autoritärem Charakter, muskulärer Verspannung und Neurosen befasste sich als erster der verkannte Psychotherapeut Wilhelm Reich (1897-1957). Sein Werk ist für den Zusammenhang von Politik und ganzheitlicher Gesundheit grundlegend. Reich gründete die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“. Er studierte die Probleme von Menschen aus dem Arbeitermilieu und erforschte, welche Auswirkungen Libidostau und gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf den Gesundheitszustand hatten. Aufgrund dieser Erfahrungen kritisierte er Freuds Schriften als „Kulturanpassungslehre“ und beklagte „die Angst der Psychoanalytiker vor den sozialen Konsequenzen der Psychoanalyse“. Er forderte umfassende Maßnahmen zur „Neurosenprophylaxe“, die auch gesellschaftliche Reformen im Sinne von Marx umfassten.

„Freiheit definieren ist identisch mit Definition der sexuellen Gesundheit“, schrieb Reich. „Es gibt eine sexualphysiologische Verankerung der sozialen Unfreiheit im menschlichen Organismus.“ Letzte Konsequenz seines politischen Engagements war 1931 die Gründung eines „Reichsverbands für Proletarische Sexualpolitik“ als Unterorganisation der KPD. Später überwarf sich der Psychotherapeut allerdings mit den politisch und sexuell zunehmend repressiv agierenden Parteiführern. Wilhelm Reich hatte schon lange eine eigenwillige Interpretation des Marxismus favorisiert: „Die Diktatur des Proletariats ist die Autorität, die hergestellt werden muss zur Abschaffung der Autorität“, worin ihm die in den Stalinismus abgleitende Sowjetmacht natürlich nicht folgen wollte.

Anarchisten haben der Theorie, eine „Diktatur des Proletariats“ sei ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Freiheit, stets und mit Recht misstraut. Dennoch nähert sich Wilhelm Reich der anarchistischen Argumentationsweise sehr stark an. Freiheit und Gesundheit sind eins. Mit dieser These wäre den Verteidigern der Freiheit eine starke Waffe in der geistigen Auseinandersetzung mit den Vertretern eines autoritären Gesellschaftsmodells in die Hand gegeben. Leider wurde Reich viel diffamiert, seine Erkenntnisse standen weder bei den Faschisten noch bei Kapitalismus hoch im Kurs. Schon gar nicht bei „proletarischen“ Diktatoren des 20. Jahrhunderts.

Horst Stowasser, ein bekannter moderner Anarchist, legt auch mit Blick auf den historisch bekannten “roten Terror” Wert auf die Feststellung: „Revolution ist nicht, wenn es knallt, sondern wenn es sich wendet.“ Selbst wenn noch so viele Barrikaden gebaut, Bastillen gestürmt und Könige ermordet werden, ist das kein wirksamer Schutz gegen den „Animal Farm-Effekt“. In George Orwells Fabel „Farm der Tiere“ rebellieren Nutztiere gegen die Menschen. Innerhalb kürzester Zeit benimmt sich das revolutionäre Führungskader, bestehend aus Schweinen, jedoch so despotisch und parasitär, dass kein Unterschied zur Menschenherrschaft mehr festzustellen ist. Eine Revolution, in der sich wirklich etwas „wendet“, würde dagegen sicherstellen, dass die Herrschaft nicht lediglich die Farbe wechselt, sondern dass Herrschaft als solche zurück gedrängt wird.

Die Debatte um Anarchismus und Gewalt wird von Seiten der Befürworter von Autorität meist in sehr heuchlerischer Weise geführt. Wenn uns zum Thema „Anarchie“ als erstes ein Bombenleger mit wirrem Haar und fanatischem Blick einfällt, so ist das kein Zufall, sondern das Ergebnis gezielter Propaganda über viele Generationen. Vielen dürfte z.B. bekannt sein, dass die österreichische Kaiserin „Sissi“ 1898 von einem Anarchisten ermordet wurde. Weniger bekannt ist, dass die so genannte „Pariser Kommune“ von 1871 auf Seiten der aufständischen Bürger, die von anarchistischen Ideen inspirieren wurden, 20.000 Todesopfer forderte. Ein wahres Blutbad, mit dem die vertriebene Staatsmacht den Bürgern ein für alle mal einbläuen wollte, dass es ein Territorium ohne staatliche Bevormundung nirgendwo geben dürfe. Der Aufstand der autonomen Räterepublik von Kronstadt gegen den Vormarsch der leninistischen Staatsdiktatur kostet 1921 ungezählten Menschen das Leben. Diese Leute wollten nichts anderes als mit der Freiheit, die ihnen die Bolschewiken versprochen hatten, Ernst zu machen.

Man sieht, es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen Anarchie und Gewalt – nämlich insofern, als Anarchisten immer wieder auf brutalste Weise Opfer von Gewalt wurden. Anarchisten gehören traditionell zu den „Verlierern“ der Geschichte, vielleicht auch weil ihnen die Stilmittel der „Gewinner“ (straffe Organisation, unbedingter Gehorsam und mörderische Brutalität) fremd waren. Die Weltgeschichte, wie wir sie heute kennen, ist aber eine Geschichte der Sieger. Bei „Linken“ und „Rechten“ wechselten sich Sieg und Niederlage stets ab. Eine aber blieb immer auf der Gewinnerseite: Die Staatsautorität. Wenn man sieht, wie viel Leid, Verwirrung und Chaos Staatsautorität angerichtet hat, kann man Vorwürfe gegen anarchische „Chaoten“ nur als groteske Form der Schattenprojektion deuten. Wie viele Menschen, die einigermaßen frei und in Frieden lebten, wurden wegen Machtrangeleien zweier Staatsführer zu den Waffen gerufen und in Elend und Tod getrieben? Wie viel Unordnung und Leid hat allein die ungerechte Verteilung der Güter angerichtet? Darüber empörte sich bereits der Vordenker des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon. Seine paradoxe Schlussfolgerung: „Anarchie ist Ordnung.“

Selbst in Friedenszeiten aber ist Staat gleichbedeutend mit Gewalt (was durch Begriffe wie „Staatsgewalt“ und „Gewaltmonopol“ auch noch offenherzig zugegeben wird). Sicher können wir uns an viele der staatlich verordneten Regeln aus freien Stücken halten (etwa an das Verbot von Mord und Vergewaltigung). Dies ändert aber nichts daran, dass hinter jeder noch so unbedeutenden Vorschrift eine Gewaltdrohung steht. Geldstrafen wird durch die Drohung mit Gefängnisstrafen die nötige Dringlichkeit verliehen. Und hinter einer Einweisung ins Gefängnis steht letztlich die Drohung mit gewaltsamer Verschleppung, denn selbstverständlich kann niemand sagen: „Ich will aber nicht ins Gefängnis“. Staatsautorität beinhaltet die ins System integrierte, beständige unterschwellige Drohung, den Willen des Bürgers notfalls mit Gewalt zu brechen.

Aber ist nicht auch die ungebremste Willkür des Einzelnen ein Alptraum? Man denke dabei nur an den Satz „Tu, was du willst, soll sein das ganze Gesetz“, das dem berüchtigten Okkultisten Aleister Crowley zugeschrieben wird. Man muss dazu wissen, dass die meisten Vordenker des Anarchismus eine Form von Ordnung oder Struktur anstrebten, die vom Geist der Gemeinschaft und gegenseitiger Rücksichtnahme bestimmt war. Kollektiver oder „kommunistischer“ Anarchismus ist der Normalfall, Individualanarchismus eher die Ausnahme. Der Philosoph Max Stirner vertrat als einer der wenigen die absolute Selbstbestimmung des Individuums, ohne sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, wie eine solche Gesellschaft aussehen könnte. „Was Du zu sein die Macht hast, dazu hast Du das Recht“, sagte er. Bei Stirner überwog der Affekt gegen den übergriffigen Staat: „Jeder Staat ist eine Despotie, sei nun Einer oder viele der Despot“. Damit brandmarkt er auch die Demokratie als ungenügend. Ist so eine Weltanschauung nicht unverantwortlich, narzisstisch, eine Einladung zu rücksichtslosem Verhalten?

Sicher könnte man mutmaßen, dass eine solche Gesellschaft nicht „funktionieren“ würde. Aber ziehen wir einmal eine nüchterne Bilanz aus der globalen Epoche des Staatsautoritarismus: Will man ernsthaft behaupten, dass die Staatsidee „funktioniert“ hat? Phänomene, die man in so genannten „failed states“ (gescheiterten Staaten) vorfindet, z.B. Bandenbildung und hohe Kriminalität, kann man nicht dem Anarchismus anlasten. Ein „Individualist“, der als Raucher z.B. einen Nichtraucher voll qualmt, ist kein Anarchist, weil er ja Macht über sein Gegenüber ausübt. Eine revolutionäre Zelle, die den Arbeitgeberpräsidenten für Wochen in ein „Volksgefängnis“ sperrt und ihm am Ende erschießt, hat mit Anarchismus nichts zu tun, denn sie übt ja in drastischer Weise Zwang aus. Es bleibt uns also nichts anderes übrig als größtmögliche Freiheit zu organisieren und gleichzeitig Formen der Gegenwehr gegen Zumutung, Übergriff und Zwang zu finden – gegen die „alten Regime“ ebenso wie gegen neue Tyrannen aus den eigenen Reihen.

Wenn die Befürworter von Autorität darauf hinweisen, dass repräsentative Demokratien des Westens leidlich gut „funktionieren“, so schmücken sie sich eigentlich mit fremden Federn. Die Machthaber vereinnahmen für sich, was eher trotz ihrer Machtausübung (oder im Widerstreit mit ihr) errungen wurde. Warum so viel „Furcht vor der Freiheit?“ Die Willkür des freien Individuums richtet normalerweise nur begrenzten Schaden an. Die Willkür eines Machthabers – potenziert durch ein System automatisierter Gehorsamsreflexe –  kann dagegen ein ganzes Volk samt den Anrainerstaaten in den Abgrund reißen. Der „absolute“ (von jeder Rücksicht und Kontrolle losgelöste) Herrscher, der Monarch von „Gottes Gnaden“, der autokratische Diktator – es sind Alpträume, die jedenfalls nicht auf das Konto von Anarchisten gehen. Die Zumutung der Machtausübung ist durch Aufklärung, Revolutionen und Demokratiebewegung in den letzten Jahrhunderten lediglich erträglicher geworden. Und zwar deshalb, weil sie sich den Idealen der Anarchie wenigstens teilweise angenähert hat: durch Elemente von Selbstbestimmung (Wahlen), Pluralismus und relativ großer persönliche Freiheit.

In westlichen Demokratien haben die meisten Bürger den Eindruck: „Das was ich will, ist fast immer erlaubt, und das was verboten ist, will ich in den meisten Fällen auch nicht.“ In einem solchen System lässt es sich lange bequem leben. Es bleibt dabei allerdings ein schaler Nachgeschmack, weil jede Freiheit eine von der Staatsmacht „gewährte“ Freiheit ist. Was der Mensch seinem Lebensbedürfnissen gemäß tun will, wird definiert als der Bezirk des „Erlaubten“. Dem steht die Tabuzone des „Verbotenen“ gegenüber. Im Deutschland des Jahres 2017 sind Mischehen legalisiert, Homosexualität ist erlaubt, Alkoholkonsum wird nicht eingeschränkt, Kritik an der Regierung darf sein. Danke, Papa Staat! Ob aber legalisiert oder kriminalisiert wird, ob der Bezirk des Erlaubten sich ausweitet oder schrumpft, das bleibt der Staatsmacht überlassen. Derzeit schrumpft er eher wieder. Die bange Frage, ob wir etwas tun „dürfen“, überschattet unsere Gedanken eher stärker als noch vor 10 Jahren. Wann immer ein oder mehrere Politiker sich entscheiden, eine „harte Linie“ zu fahren oder „strengere Strafen“ einzuführen, ist der Bürger faktisch machtlos und muss sich der jeweiligen Verbots- und Erlaubnislage reflexartig anpassen. Ein unspezifisches Instrument wie Wahlen im Vierjahresrhythmus genügt nicht, um Gegendruck aufzubauen. Es ist nicht mehr so, dass das Volk Politikern erlaubt, es in einem bestimmten Rahmen zu vertreten; vielmehr legt die Obrigkeit den Freiheitsrahmen fest, in dem sich die Bürger bewegen dürfen.

Wer ein Anarchist sein möchte oder mit dem Anarchismus sympathisiert, muss sich selbstkritisch ein paar unbequeme Fragen stellen. Die wichtigste ist: Bin ich wirklich aufrichtig entschlossen, selbst auf die Ausübung von Herrschaft zu verzichten? Auch auf die Gefahr hin, dass an meiner Stelle ein weniger „brillanter“ Kopf das Ruder übernimmt? Verzichte ich darauf, Macht auszuüben über meine Frau, meinen Mann, meine Kinder, meinen Hund oder über „Untergebene“ im Berufsleben. Bin ich, wenn meine Kompetenz mir natürliche Autorität verleiht, bereit, kooperativ zu führen – auch dann, wenn ein „Machtwort“ manchmal bequemer wäre? Jeder von uns, selbst der freiheitlichste Denker, ertappt sich gelegentlich dabei, in irgendeinem Punkt „schärfere Kontrollen“ oder „härtere Strafen“ zu fordern. Z.B. gegen die ungeliebten Finanzspekulanten, „Umweltsäue“ oder korrupte Manager. Darin liegt das Dilemma des Anarchismus: Man gewährt auch den Gegnern der Freiheit grenzenlose Freiheit, die diese dann zur Errichtung von mehr Herrschaft nutzen können. Aber man möchte Andersdenkende (also Autoritäre) nicht im Namen der Freiheit unterdrücken.

Ein Anarchist muss zweitens die Frage beantworten, welche Werte er dem primitiven Prinzip „Der Ober sticht den Unter“ eigentlich entgegen zu setzen hat. Es gibt ja tatsächlich eine destruktive Spielart von Freiheit. Wir alle kennen sie in Form des entfesselten Neoliberalismus. Je mehr sich ökonomisches Handeln von staatlicher Regulierung und moralischen Schranken „befreit“, desto mehr nähert sich das System genau genommen eine Wirtschaftsanarchie an. Diese Freiheit ist allerdings immer nur die Freiheit weniger Mächtiger auf Kosten einer machtlosen Mehrheit. Wie immer wird mit zweierlei Maß gemessen: schrankenlose Freiheit gilt im einen Fall (bei Konzernen) als Gebot ökonomischer Vernunft, im anderen Fall (bei Einzelpersonen) als Verbrechen.

Ob Freiheit „auf Kosten anderer“ geht, ist natürlich eine heikle Frage. Schon mein Nachbar, der sich über eine „Pace“-Fahne auf meinem Balkon aufregt, kann argumentieren, dass meine Freiheit sein ästhetisches Empfinden verletzt. Sicher werden aber die meisten zustimmen, dass Freiheit kein Privileg Weniger sein darf. Anders ausgedrückt: Freiheit und Gleichheit gehören zusammen. Die Frage, wo Freiheit möglicherweise doch enden muss, ist von Anarchisten oft mit dem Hinweis auf „natürliche Ethik“ beantwortet worden. Wenn wir plötzliche, schrankenlose Freiheit einführen würden, ohne auch an anderen gesellschaftlichen „Stellschrauben“ zu drehen, könnte ein anarchisches Experiment in der Tat Probleme aufwerfen. „Politik ohne innere Veränderung der an ihr Beteiligten ist Manipulation von Eliten“, sagte Rudi Dutschke. Wenn wir andererseits auf die Verwirklichung der Freiheit warten, bis der „Neue Mensch“ heraufgedämmert ist, können wir lange warten. Wir werden uns vorerst schon mit dem „Alten Menschen“ begnügen müssen.

Erinnern wir uns aber an die These aus der Matriarchatsforschung, dass wir das, was uns heute utopisch erscheint, teilweise durch die Rückkehr zum Urzustand finden können. Damit ist nicht gemeint, dass wir technisch zur Steinzeit zurückkehren sollen, sondern dass Freiheit von Bevormundung, Basisdemokratie, Ausgleichsökonomie, ein Leben in Frieden ganz natürliche, der praktischen Vernunft entsprechende Bedürfnisse des Menschen sind. Sie können zum Vorschein kommen, wenn es uns gelingt, die Macht von Fremdsuggestionen zu brechen. Der Prozess der gesellschaftlichen Befreiung könnte damit einhergehen, dass eine wachsende Zahl von Menschen zu ihrem eigentlichen Menschsein erwacht. Von den Institutionen ist dann lediglich zu fordern, dass sie dieses Erwachen nicht einschränken. „Wer ein ganzer Mensch ist, braucht keine Autorität zu sein“ (Max Stirner)

„Menschsein“ aber ist nicht denkbar ohne Harmonie mit einer Art natürlicher Ordnung. Im Tao Te King, dem großen Weisheitsbuch der Chinesen, heißt es: „Als der Weg (Tao) verloren ging, tauchte die Tugend auf; als die Tugend verloren ging, tauchte die Güte auf; als die Güte verloren ging, tauchte die Gerechtigkeit auf; als die Gerechtigkeit verloren ging, tauchte die Moral auf.“ Laotse beschreibt hier vereinfacht einen historischen Verfallsprozess. Man kann hinzufügen: Dieser Verfallsprozess endete nicht bei der „Moral“ (Ethik). Als die Moral verloren ging, tauchten die Gesetze auf. Gesetze sind dazu da, Ethik oder Tugend in konkrete, allgemeingültige Regeln zu übersetzen. In der Praxis ist es jedoch so, dass geschriebene Regeln oft die Moral verfälschen, der Tugend Hohn sprechen und das Gegenteil von Güte sind. Heutige Obrigkeiten pochen auf die Einhaltung des Buchstabens eines Gesetzes und haben die Anbindung an die Ethik verloren (vom Tao zu schweigen).

Wenn wir also eine Gesellschaft bauen wollen, die frei und gerecht ist, müssen wir den von Laotse beschriebenen Weg rückwärts gehen: Von der Gesetzestreue zu Ethik und Gewissen, von der Ethik zu einem selbstverständlichen, unverkrampften „Fließen“ mit dem „Tao“ – einer Ordnung, die zugleich natürlich, vernünftig und gütig ist. Religiöse Menschen würden vielleicht von einer „göttlichen Ordnung“ sprechen. Doch eine religiöse Deutung sollte niemandem aufgedrängt werden, so wie es über „Natürlichkeit“ immer geteilte Ansichten geben wird. Es wird niemals „die Anarchie“ geben, sondern immer „Anarchien“, sonst wäre es ja nicht Anarchismus, sondern Uniformität im Namen der Freiheit.

 

 

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