“Ist es Zeit zu bleiben? Ist es Zeit zu gehʼn?”

 In Buchtipp, FEATURED, Kultur, Politik

Lieder als Metaphern der Zeitgeschichte. „Kein Land in Sicht“, herausgegeben von Michael Kleff und Hans-Eckhardt Wenzel, ist eine Sammlung von Interview mit DDR-Liedermacher*innen, die nach der Wende geführt wurden. Der folgende Artikel ist ein Auszug aus dem Vorwort von Michael Kleff. “Ohne Verstehen der Vergangenheit ist die Zukunft nicht zu haben”, schreibt Kleff und zieht Parallelen zu heutigen demokratiefeindlichen Strömungen, denen wir uns entgegenstellen müssen. Das Buch „Kein Land in Sicht“ ist im Sturm-und-Klang-Shop erhältlich.

Wir alle sind älter geworden, das gilt auch für mich als Interviewer. Dreißig Jahre sind ins Land gegangen. Mit heutigem Wissen würde ich wahrscheinlich so manche Frage anders gestellt haben. Ähnliche Gedanken gingen auch den meisten Musikern durch den Kopf, als wir über das Buchprojekt sprachen. Die Kommentare reichten dabei von »Also frei nach Goethes Männerspruch ›Wer sich nicht selbst zum Besten haben kann, der ist gewiss nicht von den Besten‹« – über »rein ins Buch mit der ›Jugendsünde‹« bis zu »Ich war beim Wiederlesen des Textes ganz überrascht, wieviel vernünftige Gedanken da zu finden sind.«

»Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns«, lautete die letzte Zeile der am 18. September 1989 verabschiedeten Resolution der DDR-Rockmusiker, Liedermacher und Unterhaltungskünstler. In der Resolution, die an jenem Septemberabend auf der Grundlage von drei Entwürfen von Jürgen Eger, Toni Krahl und Hans-Eckardt Wenzel diskutiert und verabschiedet wurde, hieß es unter anderem: »Wir, die Unterzeichner dieses Schreibens, sind besorgt über den augenblicklichen Zustand unseres Landes, über den massenhaften Exodus vieler Altersgenossen, über die Sinnkrise dieser gesellschaftlichen Alternative und über die Ignoranz der Staats- und Parteiführung, die vorhandene Widersprüche bagatellisiert und an einem starren Kurs festhält. […] Wir wollen in diesem Land leben, und
es macht uns krank, tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche einer gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw. ignoriert werden.« Der beschlossene Text wurde in eine Reiseschreibmaschine getippt und für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Treffens mithilfe eines von Gerhard Schöne eiligst herbeigeholten Kleinkopierers vervielfältigt. Es wurde ein Versandverteiler verabredet und zugleich vereinbart, dass jeder Kollege in eigener Verantwortung für die Veröffentlichung sorgt, indem er die Bühnen nutzt, die ihm jeweils zur Verfügung stehen. Das war eine Bedingung für die Unterschrift, um der Zensurmaschine zu entgehen.

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Vieles spricht dafür, dass die Zeit den Kampf gewonnen zu haben scheint. Denn mit dem Abstand von drei Jahrzehnten haben viele Menschen längst den klaren Blick für das verloren, was damals wirklich in Deutschland geschehen ist. »Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.« An dieses Zitat von Heinrich Heine aus Französische Zustände, einer Artikelsammlung zur politischen Situation Frankreichs in den Jahren 1831 bis 1832, schloss Stefan Körbel 1991 in der Programmbroschüre für das Konzert »Lieder aus einem verschwundenen Land« die Frage an: »Was aber will er? Diese große Verdrängung bei den (meisten) Ostdeutschen, das Wegdrehen bei den (meisten) Westdeutschen?« Ohne Verstehen der Vergangenheit ist die Zukunft nicht zu haben.

»Wie Hefepilze fressen wir uns dem eigenen Ersticken entgegen«, sagte der Historiker Philipp Blom im Sommer 2018 in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele. »Auf dem ganzen Globus entstehen autokratische Staaten, werden längst überwunden geglaubte autoritäre Strukturen und nationalistische Identitäten zum Programm oder zur Praxis, verlieren Wahrheit und Wissenschaft an Verbindlichkeit, greift freiwillige Verdummung Raum.« Populisten greifen Demokratie und Bürgerrechte überall in der Welt an. Es
ist an der Zeit, dagegen aufzustehen. Das erfordert auch, aus der Geschichte zu lernen, die manches Phänomen von heute erklärt. Die hier dokumentierten Texte, die in einer historisch bedeutenden Phase Deutschlands entstanden sind, können keine Antworten geben. Sie können aber helfen, die Ereignisse rund um das Ende der DDR rückblickend besser zu verstehen, und einen Beitrag leisten zu einem demokratischen Dialog um die enormen Veränderungen in Kultur und Gesellschaft.

 

Michael Kleff /Hans-Eckardt Wenzel (Hg.):
Kein Land in Sicht – Gespräche mit Liedermachern und Kabarettisten der DDR
Ch. Links Verlag, 336 Seiten, 20 €

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