Kollateralschäden der Zeitenwende

 In Allgemein, FEATURED, Georg Rammer, Politik (Inland)

Wirkt „Zeitenwende“ als Versprechen oder als Drohung? Unfassbare Finanzmittel für Aufrüstung: Sie fehlen im Gesundheitswesen, in der Bildung und im Naturschutz. Nutznießer der politisch-gesellschaftlichen Wende sind die Superreichen zu Lasten von Millionen Kindern, Alleinerziehenden, Alten und Niedriglöhnern – zumal die Teuerung, die Energiekrise oder der Mangel an bezahlbarem Wohnraum diese besonders hart trifft. Georg Rammer

 

Zur Aufrüstung gehört ein Mentalitätswandel mit Ausrichtung auf Krieg. Zwar sorgen sich Leute in Stadt und Land wegen der maroden Daseinsvorsorge, der Klimakatastrophe und der jeder Demokratie spottenden sozialen Ungleichheit; aber sie warten vergeblich auf eine Zeitenwende. Denn Deutschland will anders führen: Mit maßloser Arroganz kanzelt die Außenministerin Repräsentanten anderer Staaten ab, betreiben Kanzler und Wirtschaftsminister opportunistische Ressourceneinkäufe. In ihrer Zeitenwende benehmen sie sich wie Kolonialherren. Sie wollen nicht wahrhaben, dass sie damit Glaubwürdigkeit und Einfluss verlieren: Der globale Süden wendet sich mehrheitlich enttäuscht bis angewidert ab. Eine kluge, auf Ausgleich bedachte Politik kommt ihnen wegen der Vasallentreue zur selbsternannten einzigen Weltmacht USA nicht in den Sinn.

Dieser Weg, geprägt von Arroganz, Kriegstaumel und Dienern vor Kapitalinteressen trägt den Krieg in sich, erinnert an die „Schlafwandler“ vor dem Ersten Weltkrieg. Und wie in Zeiten früherer weltpolitischer Krisen zeigt sich „die Politik“ unfähig, die Not eines wachsenden Teils der Bevölkerung ernst zu nehmen und die Kollateralschäden zu sehen, die diese Führung teils beabsichtigt, teils auch ohne es zu merken, im Leben der Menschen anrichtet. Ihre Zeitenwende heißt Kriegsvorbereitung – Frau Baerbock befindet sich bekanntlich schon mit Russland im Krieg, schließt eine deutsche Kriegsbeteiligung gegen China auch nicht aus – und muss Wehrtüchtigkeit, Hass und Opferbereitschaft erzeugen, um zum „Erfolg“ zu kommen. Wer will eigentlich Krieg, außer den Profiteuren, die nie zu den Opfern zählen? Niemand! Deshalb betreiben die Leitmedien heftig Propaganda im Sinne der Regierungspolitik, als wäre das ihre Aufgabe.

Die Bellizisten verändern und belasten die Kindheit. Grüne, die früher sensibel genug waren, zu spüren, wodurch Gewaltbereitschaft gefördert wird und wie wichtig das Lernen von friedlichen Konfliktlösungen ist, haben heute keine Skrupel, Kindern das Gegenteil zuzumuten. Diese wachsen derzeit mit Bildern von schweren Waffen und Krieg auf, erleben das Züchten von Feindbildern und der Lehre, nur Gewalt schaffe Lösungen, Verhandeln sei etwas für Loser. Welche Gefühle weckt das in Kindern, mit welcher Zukunftsperspektive wachsen sie auf? Maßgebliche Politfunktionäre, die Werte und Menschenrechte predigen, haben noch nie den völkerrechtlichen Vertrag befolgt, dem alle Staaten (einzige Ausnahme USA) beigetreten sind, nämlich die UN-Kinderrechtskonvention. Artikel 3 lautet: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Aber Armut, Krieg, Zerstörung der Welt gehen Kinder nichts an, und auch die vom Wertewesten bestimmte regelbasierte Ordnung lässt für solche Kindereien keinen Raum.

Die Leute sollen nicht über Zusammenhänge aufgeklärt werden, kritisches Denken üben, Macht hinterfragen: In Kriegszeiten ersetzt Gehorsam das Gewissen, das weiß jeder Soldat; sonst hält er das Töten und das Sterben nicht aus. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken, Verständnis für ihre Motive und Bedürfnisse zu hegen, ist kontraproduktiv, könnte die Bereitschaft zu Gehorsam unterhöhlen. Wie fühlen sich junge Leute, wenn ihnen klargemacht wird, dass sie bereit sein müssen, gegen den unmenschlichen Russen oder den gefährlichen Chinesen zu kämpfen und zu sterben, für Wirtschaftsinteressen im Südchinesischen Meer – damit sich Deutschland zur Führungsmacht in Europa aufschwingen kann? Über Gefühle redet man nicht, auch nicht über den Sinn von Krieg. Empathie ist sowas von gestern. Man braucht wieder harte Männer in den alten Rollen, im Krieg als Kampfmaschine oder als Verbrauchsmaterial. Ohne Verantwortung und Selbstbestimmung.

Das Klima in der Gesellschaft, die Stimmung in der Bevölkerung verändern sich. Leitmedien propagieren die Kriegsziele, fungieren als Sprachrohr der Regierung. Diffamieren und Canceln ist der neue Dialog. Abweichende Meinungen werden ausgesondert, kritische Veranstaltungen verboten, differenzierende oder gar pazifistische Meinungsäußerungen mit hasserfüllten Botschaften eingedeckt. Es gibt wieder Dissidenten. Der Feind im Inneren muss bekämpft werden. Propagandistinnen des Krieges wie Baerbock und Strack-Zimmermann verkörpern die feministische Außenpolitik. Vieles von dem, was als kultureller und zivilisatorischer Fortschritt gelten konnte, fällt derzeit einem Rollback zum Opfer. Die primitive Einteilung der Welt in Gut und Böse stützt sich psychologisch gesehen auf Mechanismen wie der Rassismus. Jahrzehnte Arbeit für kulturellen Austausch, Partnerschaft, Förderung persönlicher Kontakte mit früheren Todfeinden durch Musik und Sport werden zertrampelt.

Es wächst eine kranke Gesellschaft. Bekannt ist aus Umfragen, dass das Vertrauen in staatliche Institutionen, Parteien und Medien verloren geht. Kaum jemand hegt noch die Erwartung, „wahrhaftig“ informiert zu werden. Aber man gewöhnt sich an die zur Ideologie erstarrten Floskeln von Werten, Freiheit und regelbasierter Ordnung und an das heuchlerische Messen mit zweierlei Maß. Kritik an Israel, Fragen nach Militärstützpunkten der USA, Parteien- und Presseverboten und Korruption in der Ukraine? Gefährlich, du wirst schnell als Verräter entlarvt und bedroht. Der Verlust an Sicherheit, gepaart mit Angst, ist ein gewollter Nebeneffekt der Propaganda. Während viele resignieren und den Rückzug von politischem Engagement antreten, zumal es keine klare Opposition zum Mainstream gibt, suchen andere autoritäre Lösungen oder agieren innere Verunsicherung als Hetze oder Gewalt aus.

Die Zeitenwende hat die Entwicklung des Militarismus, der imperialen Ansprüche, verbunden mit Radikalisierung der sozialen Spaltung auf die Spitze getrieben. Aber die Ursachen reichen weiter zurück. Die seit Jahrzehnten betriebene neoliberale Politik wird sich hüten, sie genau zu analysieren, die Kriege des Westens, die Entdemokratisierung, die Herrschaft der Konzerne. Lieber züchtet man Feindbilder, Opfer – und Helden wie Präsident Selenskyj. Würde man genau hinschauen, wären radikale Änderungen fällig. Unter den gegebenen Verhältnissen bleibt das Sache engagierter Menschen, die nicht Opfer fremder Interessen bleiben und ihre Würde behalten wollen.

 

Erstveröffentlichung dieses Artikels in „Ossietzky“

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